Ich fasse hier noch einmal den Gang meiner Studien zusammen um denjenigen unter den Leserinnen und Lesern, die sich mit ähnlichen Fragen beschäftigen, einmal aufzuzeigen, wie man sich einer Antwort annähern kann. Sicherlich ist es wieder ein stark spezialisiertes Thema; insofern muss ich die Teile der Leserschaft, die gerne Texte zu allgemeineren Themen lesen würden, erneut vertrösten.
Es gibt inzwischen sehr brauchbare „Werkzeuge“, die die eigene Suche nach Informationen erheblich erleichtern. Am Ende dieses Textes stelle ich einmal die wichtigsten Quellen für Daten zu den Aufnahmen aus der Épocha de oro zusammen.
Katalog- und Matrizennummern
Bevor es losgeht müssen an dieser Stelle kurz die Katalog- bzw. Matrizennummern erläutert werden. Die Matrizennummer ist eine fortlaufende Nummer, die vergeben (möglicherweise im Studio dokumentiert, d.h. mitgeschrieben) und in den Wachsmaster an einer Stelle eingeritzt bzw. eingestanzt wurde, an der später auf „echten“ Schellack das Etikett kleben wird. Die Matrizennummer war aufnahmebezogen, wurden für ein Stück mehrere Aufnahmen benötigt, so wurde der Folge-Take häufig entsprechend als xyz-2 oder xyz/2 bezeichnet (detailliertere Informationen bei Wikipedia). Die Katalognummer ist platten- bzw. produktbezogen. Diese Nummer (fast immer ergänzt um die Seitenangabe - also abcd-A oder abcd-B) kennzeichnet eindeutig den Tonträger und ggf. die Seite. (Eine kurze einführende Übersicht über diese Praxis -allerdings in Europa- findet sich hier.)Die Anfänge von Biagi und der „Glücksfall“ Odeon
Es dürfe allgemein eher nicht so geläufig sein, dass Rodolfo Biagi sehr früh mit dem Einspielen begonnen hat. Es gibt aus dem Jahr 1927 zwei Stücke mit Einspielungen von Tangos bei der Plattenfirma RCA-Victor (Katalognummer 79917 Cruz diabolo und El carreton). Danach spielte Biagi in anderen Orchestern, er spielte u.a. bei Juan Maglio, begleitete Carlos Gardel um schließlich 1935 bei Juan d'Arienzo am Klavier einen längerfristigen Platz in einem Orchester zu besetzten. Nachdem ihn d'Arienzo rausgeworfen hatte (die Details zu diesem Vorfall finden sich im Buch von Michael Lavocah), ging Rodolfo Biagi mit frisch gegründetem Orchester beim Label Odeon unter Vertrag. Das Label Odeon hat sicherlich viel Unfug in der EdO veranstaltet (die Spitze der unrühmlichen Verhaltensweisen war sicherlich die Vertragszange, in die beispielsweise Aníbal Troilo und Ricardo Tanturi genommen wurden und somit jahrelang keine Tangos auf Schellack einspielen konnten), aber mit einer Arbeitsweise hat Odeon den Alltag für zeitgenössische Tango-DJs deutlich vereinfacht. Bis etwa Juli oder August 1948 wurden Katalognummern für die Künstler -nach meinen Beobachtungen- systematisch vergeben. Jeder Künstler hatte einen Nummernkreis beginnend mit einer Startnummer. Bei Rodolfo Biagi war dies die 5600 (bei Osvaldo Pugliese war es die 7660; bei Lucio Demare war es die 8050 – um nur zwei weitere Beispiele zu nennen). Die ersten Aufnahmen Biagis bei Odeon waren Gólgota (5600-A) und El incendio (5600-B) - beide vom 15. August 1938. Nun war es einfach, die nächsten zwei Aufnahmen bekamen die Katalognummer 5601-A bzw. 5601-B und so weiter und so fort.Die Recherche geht solange gut, solange Odeon dieses Nummerierungssystem beibehält. Im Juli 1948 spielte Biagi seine letzten beiden Titel in diesem Nummerierungssystem bei Odeon ein - La Viruta (5670-A) und Por la güella (5670-B). Aus meinen Informationen zu den Einspielungen von Osvaldo Pugliese konnte ich herauslesen, dass Odeon irgendwann zwischen Juli und September 1948 die Praxis der Nummerierung geändert hat. Biagi machte eine Pause bis April 1950 und nahm dann nach dem neuen Nummerierungssystem auf.
Soweit also die graue Theorie. Wenn meine Theorie stimmen würde, dann hätte Biagi bei Odeon bis Juli 48 (beginnend mit Gólgota 5600-A und endend mit Por la güella 5670-B insgesamt 71 Schallacks mit 142 Titeln eingespielt. Es sind aber -nachgezählt in der Encyclopedia of Tango- nur 133 Titel gewesen. Das passte nicht zusammen und deshalb musste eine neue Theorie her.
Wer „A“ sagt, muss auch „B“ sagen
Diese Spruchweisheit heißt im Bezug auf Tangoaufnahmen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass es nur eine ungerade Anzahl an Einspielungen gibt (es gibt ja schließlich bei jeder Schellack eine A- und eine B-Seite). Damit musste ich mich entweder in der Encyclopedia of Tango verzählt haben, oder es fehlt ein Titel in der Aufstellung. Da ich in meiner Tangothek im Laptop immer sehr genau die Informationen (inkl. Aufnahmedatum, Katalog- und Matrizennummer) notiert habe, erschien mir der Weg über die Katalognummern (also 5600-A ff.) vielversprechender. Bei der kurzen Durchsicht fiel mir auf, es fehlten vier Schellacks komplett (5653, 5659, 5668 und 5669) und bei einer Schellack (5635) habe ich nur einen Titel - mir fehlt die zweite Seite. Ich befinde mich mit dieser Wissenslücke allerdings in bester Gesellschaft: Alle mir bekannten Diskografien des Werks von Rodolfo Biagi haben die gleiche (Wissens-)Lücke. Aber dazu weiter unten ausführlicher…Eine frühe Form der später üblichen „Greatest Hits“
Wie sollte man also nach den mysteriösen fehlenden Aufnahmen suchen? Richtig, die Suchmaschine Google kann helfen. Durch eine entsprechende Suchanfrage (z.B.: 78 "Rodolfo Biagi" Odeon 5653) kommt man relativ schnell zu den fehlenden Schellacks. Aus der obigen Liste der fehlenden Quellen konnte ich so folgende Lücken stopfen – Odeon hatte nämlich ins Archiv gegriffen und bereits veröffentlichte Aufnahmen ein zweites Mal veröffentlicht:5653-A Marcheta Matrize 11616 bereits vorher veröffentlicht als: 5628-B
5653-B Griseta Matrize 10146 bereits vorher veröffentlicht als: 5609-A
5668-A Griseta Matrize 10146 bereits vorher veröffentlicht als: 5609-A und 5653-A
5668-B Quejas de Bandoneon Matrize 11490 bereits vorher veröffentlicht als: 5626-A
5669-A Misa de once Matrize 10774 bereits vorher veröffentlicht als 5617-A
5669-B El ultimo adios Matrize 10364 bereits vorher veröffentlicht als 5611-B
Hier gibt es 6 Bilder der Katalognummern 5653, 5668 und 5669 |
Für die Schellack mit der Nummer 5659 steht dieser Nachweis noch aus, ich gehe aber davon aus, dass es sich auch um eine ähnliche „Wiederveröffentlichung“ handeln wird. Mit Sicherheit kann man das erst dann beurteilen, wenn Photos von den Etiketten der beiden Seiten auftauchen.
verschiedene Ausgaben der Schellacks
Und weil es gerade hierher passt: Vielleicht ist es ja anderen auch schon so ergangen. Wenn man beispielsweise bei tango.info die Abbildungen der originalen Schellacks durchblättert, dann gibt es verschiedene Layouts der Etiketten. Bei meinen Nachforschungen habe ich ein Beispiel dafür gefunden, dass eine Schellack in verschiedenen Editionen ausgegeben wurde. Das lässt vermuten, dass damals verschiedene „Qualitäten“ von Schellacks in den Handel kamen.Hier gibt es 4 Beispiel-Bilder von der Katalognummer 5620 in verschiedenen Ausführungen |
Das Rätsel um das „Loch“ bei Katalognummer 5635
Das ist in der Tat mysteriös. Irgendwie ließ sich trotz aller Bemühungen das „Loch“ bei Katalognummer 5635 nicht stopfen. Bei Gabriel Valiente ist keine zusätzliche -bisher unbekannte- Aufnahme für den entsprechenden Zeitraum (29. Okt. 1942) vermerkt. Bei Todotango gibt es 3 Titel für die Kalatognummer 5635 (Si de mí te has olvidado [Matrize:12318 - 29. Okt. 42], Señor, Señor [Matrize:12484 - 15. Jan. 43], Pueblito de provincia [Matrize:12485 - 15. Jan. 43]). Das kann natürlich so nicht stimmen. Also bin ich in mein Archiv gegangen, weil da seit Jahren ein Word-Dokument mit einer Diskografie von Biagi liegt (das Speicherdatum der Datei ist der 23. Mai 2005). In dieser Diskografie wird Pueblito de provincia als einziger Titel unter Katalognummer 5636 geführt, die beiden anderen Titel laufen dort unter Katalognummer 5635. Das passt auch irgendwie nicht so richtig - also musste ich weiter suchen. Und richtig, bei TangoTunes bin ich schließlich fündig geworden: Señor, Señor [Matrize:12484] wird dort als 5636-A geführt und dementsprechend, Pueblito de provincia [Matrize:12485] als 5636-B (mit den entsprechenden Bildern der Etiketten der Schellack). Also ist der fehlende Titel mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Katalognummer 5635 zu finden. Jetzt heißt es also nur noch: Warten! Irgendwann wird sich dieses Rätsel von selbst lösen.Welche Angaben sollte eine „gute“ Diskografie bereithalten?
Aus dem letzten Absatz ergibt sich, dass in einer ausführlichen Diskografie die genaue Katalognummer (mit Seitenangabe), die Matrizennummer und das Aufnahmedatum vermerkt sein sollten. Unter Umständen sollte man in einem Anhang die Zeitveröffentlichungen erwähnen. Diese Arbeitsweise gibt es bereits: Christoph Lanner hat seine großartige Canaro-Diskografie genau so angelegt.Und vielleicht noch eine weitere Anmerkung von mir zum Nachdenken… weil es mir wirklich am Herzen liegt: Welchen Wert hat es, mit Schellacks in der Milonga aufzulegen? Ich bin da sehr skeptisch. Da die Metallmaster alle zerstört oder untergegangen sind, haben wir nur noch eine begrenzte Anzahl von Schellacks aus der Zeit. Für den Fall, dass die Schellack für das Auflegen in der Milonga bereits „well-used“ ist, sehe ich keinerlei klanglichen Vorteil in der Verwendung beim Auflegen; sollte die Schellack aber in einem guten bis sehr guten Zustand sein, dann gehört sie in ein Archiv und nicht in eine Milonga. (Um mich nicht missverständlich auszudrücken: Ich rede nur von den Schellacks, wenn ein Tango-DJ aus Überzeugung oder Neigung mit Vinyl auflegt, dann verstehe ich das zwar aus klanglichen Gründen nicht, aber es ist unkritisch, da diese Vinylplatten bereits Kopien sind; bei den Schellacks neige ich zu größtmöglicher Sorgsamkeit im Umgang.)
Aktualisierte Diskografie Rodolfo Biagi
Nachdem ich mir nun schon die Arbeit gemacht habe, stelle ich eine aktualisierte Diskografie zu den Werken von Rodolfo Biagi allgemein zur Verfügung. Es muss ja nicht jede Arbeit mehrmals gemacht werden. Weil ich von meiner Veranlagung her langweilige Tätigkeiten vermeide, habe ich mir ein Programm geschrieben, dass die Daten aus meiner iTunes-Bibliothek extrahiert. Sollte ich dieses Programm irgendwann entsprechend stabilisiert haben, werde ich es ebenfalls veröffentlichen.Da ich offene Standards im Internet überaus schätze, habe ich die Daten im CSV-Format (Trennzeichen: "\") hinterlegt. Um die Akzente erhalten zu können habe ich die Datei einmal als UTF-8 und ein zweites Mal vorsorglich im WindowsLatin-Zeichensatz (für den Import in ältere Excel-Versionen) angelegt.
Sollte eine Leserin oder ein Leser noch sachdienliche Hinweise zu einzelnen Details (besonders natürlich zum fehlenden Titel auf Schellack 5635-X) haben, so bitte ich um eine einfache eMail. Ich werde neue Erkenntnisse von Zeit zu Zeit in die Diskografie einarbeiten.
Liste der Informationsquellen für diesen Artikel:
Den Ausgangspunkt zu allen Überlegungen zu den Aufnahmen der Künstler in der Épocha de oro bildet sicher der schon etwas betagte (aber deswegen nicht minder informative) einführende Text: „Sellos, a beginners guide to tango record labels“. In dem Text wird die wechselhafte Geschichte der Plattenfirmen bzw. Labels sehr gut dargestellt.
Unter den online-Datenbanken mit Informationen zu den Aufnahmen ist m.E. an erster Stelle die großartige Website tango.info von Tobias Conradi aus Berlin zu nennen. Die Seite erscheint zunächst in schnörkellosem Grau, aber wenn man sich in die Arbeitsweise der Datenbank eingefunden hat, dann kann man hier schnell zu den gewünschten Informationen gelangen. Die Seite verfolgt (historisch bedingt) einen Ansatz, Tonträger-orientiert zu arbeiten. Titel werden als Element von Tonträgern behandelt und die zugehörigen Informartionen entsprechend gruppiert.
Ein kleiner Wehrmutstropfen: Matrizennummern werden zu den Aufnahmen leider nicht geführt; dafür sind aber die historischen Katalognummern zu den Schellackplatten (häufig mit entsprechenden Bildern der Cover bzw. Schellack-Etiketten), ein Link zum entsprechenden Eintrag bei der argentinischen Rechteverwertungsgesellschaft SADAIC (vergleichbar in etwa mit der deutschen GEMA) und ein Querverweis zum Eintrag bei TodoTango zu finden.
An zweiter Stelle der online-Datenbanken wäre aus meiner Sicht die Website TodoTango zu erwähnen. TodoTango verfolgt einen Tangotitel-zentrierten Ansatz und listet zu den Titeln auch eine Miniatur des Deckblatts der Noten, häufig den Text, bisweilen den Klavierauszug und fast immer eine Liste der Einspielungen eines Tangos auf. Bei den Angaben zu den Einspielungen finden sich durchgängig Datum, Katalog- und Matrizennummer der Aufnahme.
Leider werden die Katalognummern bei Todotango nur ohne die Seitenangabe geführt. Das ist ein kleiner Makel.
Natürlich gibt es auch Offline-Medien. Hier sei auf das Buch von Gabriel Valiente, Encyclopedia of Tango, ein Paperback mit über 800 Seiten hingewiesen (als BookOnDemand über Amazon erhältlich). In dem Buch wird leider nur ein Ansatz über das Aufnahmedatum realisiert.
Leider fehlt dem Buch ein Inhaltsverzeichnis (das ist gerade bei der eBook-Version mehr als ärgerlich), ebenso finden sich bedauerlicherweise keinerlei Hinweise auf Katalog- bzw. Matrizen-Nummer einer Aufnahme, auch Angaben zu Komponist und Verfasser des Textes wird man vergeblich suchen. Trotzdem ist das Buch ein weiteres Werkzeug auf dem Weg zu Validierung von Informationsschnipseln - besonders deshalb, weil die jeweiligen Zeitabschnitte in denen ein Künstler bei einem Label aufgenommen hat, klar strukturiert sind. (Leider sind auch in dem Buch kleinere Fehler, der letzte, den ich vor zwei Stunden entdeckt habe, war beispielsweise die Aufnahme von Carlos Di Sarli: Duele más (vom 19. Dezember 1956), die ist nun einmal mit Jorge Dúran als Sänger eingespielt und nicht -wie angegeben- instrumental. Es gibt deshalb einen Beitrag zu einer online Korrekturliste zum Buch (Hier gibt es eine Tabelle, in die man Korrekturen eintragen kann).
Und natürlich darf auch ein Hinweis auf sorgfältig edierte CDs nicht fehlen. Hier sind vorrangig die Produkte von Akihito Baba aus der Serie CTA lobend zu erwähnen. Auf der Rückseite jeder CD findet man eine Titelliste mit allen Informationen (Komponist, Autor, Aufnahmedatum, Katalognummer, Matrizennummer). Leider konnte ich im Falle der Aufnahmen mit Rodolfo Biagi nicht auf CTA Informationen zurückgreifen. Es gibt schlicht keine CTA-CDs mit Titeln von Biagi.
Auch bei diesen Angaben muss man immer auf der Hut sein. Beispielsweise hat sich auf der CTA-372 Ricardo Tanturi ein Fehler eingeschlichen. So können A- und B-Seite von Katalognummer 39662 aus logischen Gründen nicht -wie angegeben– am 19. Februar 42 aufgenommen worden sein: die Matrizennummern, die fortlaufend vergeben wurden, deuten darauf hin, dass die beiden Titel doch wohl eher am 20. Juli 42 (so wie in der Encyclopedia of Tango angegeben) eingespielt wurden.
3 Anmerkung(en):
Exzellent! Danke!!!!
Grandiose Arbeit! Ganz herzlichen Dank, dass Du Dich auch um solche Details kümmerst und sie dann auch hier verfügbar machst.
Hallo, ich habe auf der TangoTunes Seite in Facebook die Bilder gepostet. Es ist noch nicht aufgeklärt... soviel sei gesagt.
Aber wir wissen jetzt zumind beide Titel :)
https://www.facebook.com/TangoTunes
Saludos
Don Xello
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