Donnerstag, 3. April 2025

Also noch einmal zum Auflegen …

[Ich sitze gerade in der Bahn - heute Milonga mit einem DJ-Neuling, den ich die letzten Monate begleiten durfte. Da fahre ich doch gerne einmal hin, um mir das anzuhören.]

Ich möchte, nachdem ich hier bereits an verschiedenen Stellen zum Auflegen in der Milonga geschrieben habe, hier noch einmal ausführlicher dazu schreiben. Anlass ist das (meiner Wahrnehmung nach) beobachtbare desorganisierte Agieren mancher Verantwortlicher DJs und z. T. Veranstaltende und in der Folge das Chaos auf der Tanzfläche. Deswegen schreibe ich hier noch einmal zu dem Thema. Natürlich habe ich in diesem Blog an verschiedenen Stellen auf Einzelaspekte des Themas hingewiesen. Deshalb muss ich mir den Vorwurf der Wiederholung eventuell gefallen lassen. In dem Bestreben, die Musikfrage in den Milongas besser werden zu lassen (da ist für meine Begriffe noch gewaltig Luft nach oben möglich), schreibe ich halt noch einmal. Und weil ich in den vergangenen Wochen meine Grundsätze so häufig wiederholt habe, schreibe ich sie noch einmal nieder …



1. Gleiche - möglichst vorab - Deine Vorstellungen einer gelungenen Milonga mit denen der Veranstaltenden ab.

Es ist nach der Corona-Zwangspause nach meiner Wahrnehmung zu einem offensichtlichen Wachstum an Milongas (oder - allgemeiner gesprochen - Tango-Veranstaltungen) gekommen. Das finde ich sehr gut. Leider hat es m.E. einige Verwerfungen gegeben, die gemäß meiner Vorstellungen korrigiert werden sollten. Mich nerven gewisse Tendenzen, den Tango zu einer Party zu verändern. Das merkt man verschiedenen Sets an. Manche Veranstalter mögen eben lieber eine Milonga in die Richtung einer Disko. Und das merkt man der Musikpräsentation an. Gute Stimmung? Woran machen die das eigentlich fest? Am Getränkekonsum? An dem Treiben auf der Tanzfläche? Das kann es doch nicht sein. Tango ist für mich eine gemeinsame Kommunikation im Paar. Wenn ich dann sehe, wie bestimmte Protagonisten sich konsequent an ihrer Tanzpartnerin / an ihrem Tanzpartner „vergehen“ und diese kontinuierlich in unangenehme Situationen bringen, dann ist das nach meinem Verständnis der falsche Weg.

2. Lege möglichst nicht gegen Nahrung (warme Tellergerichte, üppig belegte Lachsbrötchen, Bouletten usw.) auf - das Essen gewinnt leider viel zu häufig …

Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an eine Milonga in einem Gasthof vor Jahren. Direkt vor mir stellte sich ein Tanguero ein veritables Schnitzel mit Pommes Frites rein und schlief direkt nach dem Essen ein. Ein kleiner Snack in der Milonga ist wirklich aufmerksam, größere Essensorgien sind leider m.E. vollkommen daneben. Ebenso schlimm ist es für mich, wenn Veranstaltende für Ihr Event mit einer ordentlichen Strecke Buffetfotos werben. Wenn ich gut essen will, gehe ich zum Italiener und dann gibt es auch einen guten Wein. In der Milonga finde ich das zu viel.

3. Sei berechenbar, sei konsistent.

Das hört sich zunächst an wie ein Allgemeinplatz. Leider beobachte ich immer häufiger die Tendenz, dass die oder der DJ seine Sicht auf verschiedene Stücke verallgemeinert und dann reagieren die Tanzenden manchmal empfindlich. Natürlich darf die oder der DJ auch einfach eine Tanda probieren (sonst gäbe es ja keine neuen Zusammenstellungen), aber eigentlich sollte man konsistent bzw. berechenbar spielen.

4. Erfinde das Rad nicht immer neu.

Das ist ein anstengender Punkt. Manche DJs neigen dazu, immer wieder zweifwelhafte Orchester und Interpreten zu bringen. Das kann gelingen, viel häufiger nimmt das die Energie aus einer Milonga. Ich will da keine Absicht unterstellen, aber aus diversen Gesprächen weiß ich, die ungewohnte Afolge der Musik entspringt dem Wunsch, es anders, esser zu machen. In den seltensten Fällen gelingt das. Schade!

5. Achte auf die unmittelbare Nachbarschaft einer Tanda.

Das passiert leider häufiger als man vermutet: in dem Bestreben, es richtig zu machen werden die Knaller-Tandas direkt hintereinander gespielt. Da gibt es dann gerne einmal d'Arienzo, Biagi, Donato etc.direkt hintereinander, oder Troillo und Pugliese in direkter Nachbarschaft. Also beim musikalischen Bau einer Milonga bitte unbedingt auf die Nachbarschaft einer Tanda achten (gilt m.E. auch für Vals und Milonga - wer hat das eigentlich verkündet, das eine Vals/Milonga Tanda vom gleichen Orchester wie die benachbarte Tango-Tanda sein muss?),

6. Achte auf ein ausgewogenes Verhältnis von instrumentalen und vokalen Tandas.

Das ist auch ein Punkt, an dem mir selbst nur ein sturer Formalismus hilft. Manchmal tendiere ich zu einem Überhang von Titeln mit Sängern. Deswegen bemühe ich mich, spätestens alle 2-3 Tandas eine instrumentale Pause von den Sängern einzulegen. Hier hilft – zumindest bei mir – nur ein sturer Formalismus.

7. Variiere die Energie.

Ganz so streng wie Horacio Pebete Godoy sehe ich es nicht. Während der Pandemie habe an einem Online-Seminar von ihm teilgenommen und er hat vehement für mindestens eine „Milonguero-style“-Tanda pro Stunde plädiert. Unter „Milonguero-style“ versteht er Vollgas - d'Arienzo, früher Troilo, instrumentaler Tanturi ,treibender Laurenz usw. Das kann man schon so machen, aber da scheint seine persönliche Vorliebe mit ihm durchgegangen zu sein. Umgekehrt bin ich natürlich für ein variieren der Energie, ein paar Tandas Canaro u.ä. schläfern eine komplette Milongs ein. Da darf dann schon auch mal Juan d'Arienzo ran - aber bitte in Maßen …

8. Spiele geeignete Cortinas.

Auch hier ein Beispiel von einem Kollegen: Er spielte auf einem Encuentro „Thunderstruck“ von AC/DC als Cortina - gepaart mit der Disco-Anlage des Veranstalters war das nur schwer erträglich. Ich rate immer zu Jazz – gerne auf akustischen Instrumenten dargeboten. Das klappt i.d.R. immer und eigentlich spielt der Tango ja die Hauptrolle in der Milonga. Und nur weil es gerade hierher passt: Hochdramatische Filmmusik passt leider überhaupt nicht. Die Musik ist von der Dynamik (Wechsel von laut und leise) her leider nicht geeignet. Gerne kann man auch die Cortinas auch insgesamt um 2dB in der Lautstärke reduzieren. Schließlich geht es um den Tango

9. Achte auf die Pausen.

Bei mir übernimmt das die Technik. Nach jedem Titel gibt es automatisch eine Pause von mindestens 4 Sekunden (wenn es sehr voll ist, erhöhe ich auf 6 oder mehr Sekunden). Es ist ein Kompromiss. Es sollte so viel Zeit sein, die Umarmung ohne Hatz zu lösen, aber wenn ein Paar in der Umarmung bleiben will, dann sollte die Pause nich zu lang sein.

10. Beobachte Dein Publikum genau und korrigiere die Playlist gegebenfalls.

Bei aller gründlicher Vorbereitung: Rechne immer damit, dass das Programm nicht passt. So achte auf die Gesichtsausdrücke der Tanzenden und versuche zu lesen, was die gerade brauchen. Auch der Zustand der Rondo gilt als Frühwarnsystem. Ein weiterer verlässlicher Indikator ist die Anzahl der Sitzenden: Steigt diese an, dann passt höchst wahrscheinlich etwas mit genau dieser Musik in dieser speziellen Situation nicht.

11. Spare nicht - besonders am Anfang - mit großartigen Titeln.

Ich habe häufig gehört, das DJs offensiv dafür plädieren, gerade zu Beginn einer Milonga den üblichen (vermeintlich schwächeren) Canaro (nur als Beispiel) zu spielen. Die Idee dahinter: Gerade am Anfang einer Milonga sind häufig nur die Jüngeren im Tango anwesend, die „alten Hasen“ kommen später. Bullshit! Wer da ist, ist da und hat ein Anrecht auf gute Mucke mit der nötigen Abwechslung. Aufsparen bringt nichts und es gibt genügend tolle Titel.

12. Lege Dir einen „Notfallplan“ zurecht - wenn es mal nicht so läuft, wie Du es Dir vorstellst.

Das ist sehr subjektiv und wahrscheinlich noch ein Relikt aus meiner Anfangszeit. Ich lege immer spontan auf, d.h. ich konstruiere immer am Abend die Abfolge der Titel. Um mich vor einem Blackout zu schützen, lege ich mir immer zwei bis vier Tandas vorab zurecht, die ich notfalls spielen kann.

13. Plane das Ende der Milonga - Du bist verantwortlich. Kündige es an …

Ich finde, jede Milonga darf immer ein oder zwei Tandas zu kurz sein. Dann kommen die Leute gerne wieder. Plane das Ende einer Milonga penibel und kündige es vorher verbal an (zumindest mache ich das so). Nach meiner Überzeugung ist der DJ letztendlich verantwortlich, nicht der Veranstalter. Was ist persönlich ganz schlimm finde? Ein jämmerliches Sterben einer Milonga. Mit letzter Kraft schleppen sich ganz weinige Paare über die Tanzfläche – schauderhaft.

14. Spiele nicht zu leise, aber auch nicht zu laut.

Bei einer gutenAudio-Anlage (leider viel zu selten im Tango) kann man eigentlich nicht zu leise spielen. Bei problematischer Technik hilft ein Schallpegelmessgerät in einem ersten Schritt. Damit lassen sich Probleme schnell identifizieren. Schlimm wird die Kombination aus hoher Lautstärke und ungeeigneter Technik. Das macht erstens die Tanzenden müde und zweitens nervt es die Sitzenden. Zwischen 75 dB (A) und maximal 81 dB (A) Leq liegt man nach meinem Empfinden immer richtig. Wenn es gar nicht anders geht, dann tanze (ggf. mehrfach) eine Tanda und höre Dir an, wie es klingt.

15. Kenne die Technik und die möglichen Probleme. Rechne mit Allem.

Das klingt wie eine Binsenweisheit. Man sollte aber um die Besonderheiten des Auflegens Bescheid wissen. Ein Beispiel gefällig? Gerne! Man sollte beispielsweise mit den Grundsätzen der Schallausbreitung vertraut sein und ggf. die Ausrichtung der Lautsprecher und/oder die Ansteuerung der Lautsprecher kontrollieren. Das Grundprinzig kann ich hier nur kurz anreißen: Betrachten wir die nachfolgende Skizze, so wird deutlich, daß ein über-Kopf-Lautsprecher, der geneigt ist, die beste Option darstellt. Grundsätzlich sind Lautsprecher mit breitem Abstrahlwinkel besser geeignet als gerichtete Lautsprecher (die sind für Schallübertragungen auf größere Entfernung ausgelegt).

<3> 16. Hüte Dich vor den „Experten“! 

Das kennt wahrscheinlich jede und jeder, die oder der schon mal aufgelegt hat. Irgendwann kommen die „Experten“ und zwingen Dir ein Gespräch – beispielsweise über den Vorteil von Vinyl („das klingt nicht so eckig“), oder über die Vorteil des Tretobratzen-Wandelrs … „nur der klingt wirklich gut…“ und schließlich die Nerds: Kennst du den total unbekannten Vals vom Orquestra Imagio Fantastico? Den habe nur ich in einer Version. Wenn Du brav bist, bekommst Du den von mir.

17. Lass Dich nicht treiben - achte auf ausreichend Zeit vorab.

Der Klassiker! Man wird eingeladen, ein Set aufzuleben und der Veranstalter hat keine Lust, lange vorab in dem Raum zu sein. „Du brauchst ja nur anstöpseln, da reicht eine halbe Stunde“ Den Satz habe ich sehr oft gehört. Leider funktioniert eine Milonga so nicht. Gerade auch DJs mit geringer technischer Affinität schätzen es, wenn sie in ihrer Vorbereitung Ernst genommen werden und sie genügend Zeit vorab haben und ein Ansprechpartner vor Ort zur Verfügung steht.

18. Sorge für eine gut aufgeräumte Musik-Bibliothek.

Dieser Tipp mag aus meiner großen Vorsicht heraus erklärbar sein. Aus meiner Erfahrung reicht eigentlich nur ein Blick auf das Laptop der oder des DJs. Ein unaufgeräumter Eindruck spricht auch für ein unaufgeräumtes Set. Leider! Ich plädiere für eine sorgfältige Pflege der Tags in der Bibliothek (zum Beispiel nach der Ordnung von id3.org). Für Unordnung gibt es mittlerweile keine Entschuldigung mehr.

19. Es geht um die Musik, nicht um Dich.

Das ist eigentlich erneut eine Binsenweisheit: es geht nicht um die oder den DJ es geht um den Tango. Inzwischen kennt man ja die Heißluft-Plauderer unter den DJs, die fallen immer wieder unangenehm  auf. Zuviel eigenes Marketing macht betriebsblind. Und leider fallen sie immer wieder auf, da können sie noch so diskret sein. Ich habe DJs erlebt, die beispielsweise sehr genau ihre Partnerin für die „richtigen“ Foros instruiert haben, anschließend wird der Kopfhörer aufgesetzt und dann geht es los …
Die übertrieben häufige Veröffentlichung von zukünftigen Sets gehört ebenso in diese Abteilung. Das Sich-Anbiedern bei Veranstaltern ist manchmal nicht nur unkollegial, meistens ist es auch peinlich … Aber es hilft augenscheinlich im ersten Moment.

20. Sei wählerisch bei den Veranstaltungen in denen Du auflegst.

Hat jemand schon einmal daran gedacht, eine Einladung zum Auflegen abzulehnen? Ich halte das für legitim. Natürlich wird es so im Tango nicht besser, aber nur gegen Hardcore-Tangodisko-DJs anzuarbeiten macht keine Freude, dann lieber ehrlich ablehnen. Das ist gar nicht so schwer.

Und hier (wie bereits angesprochen) einige weiter Texte zur Lektüre:

Rodolfo Biagi 1938 bis 1943 bei TangoTunes

TangoTunes Miguel Caló 1941 bis 1943 

ein sehr ausführlicher Text von Christian Tobler aus Zürich rund um technische Aspekte: blog.argentango.ch

und viel Spaß beim weiteren Stöbern bei der Suche nach weiteren Texten.

[Ich bin gestern auf der Hinfahrt nicht ganz fertig geworden. Bin inzwischen schon wieder auf dem Heimweg und vollende diesen Text. Viel Spaß bei der Lektüre.]

4 Anmerkung(en):

Anonym hat gesagt…

Vielen Dank für dieses ausführliche Statement. Ich lege als TangoDjane im SW regelmäßig bei Milongas auf, traditionell, das wissen die Veranstalter und schätzen die Gäste. Mit allen deinen Einlassungen gehe ich 100% d'accord, nur mit den Jazzcortinas bin ich nicht ganz einverstanden. Ich finde, sie bilden eine Art Klammer und halten die Milonga sozusagen zusammen, daher stelle ich sie thematisch zusammen, z.B. Gitarrenmusik, 50igerJahreHits usw. Die Cortina sollte m.E. auch zu der Stimmung der vorangegangenen Tangos passen. Der ganze Abend sollte einer Choreografie folgen, mit einem oder zwei Höhepunkten. Die Tandas kombiniere abwechslungsreich, aber nicht willkürlich hintereinander. Und eine Tanda muss unbedingt in sich stimmig aufgebaut sein. Ich möchte schon beim ersten Titel wissen, worauf ich mich einlasse. Abrazos!!!

cassiel hat gesagt…

Klar sollten Cortinas immer die Charakter der Musik (letzte oder nächste Tanda) aufgreifen. Ich dachte das wäre selbstverständlich. Vielen Dank für Deine Klarstellung. Jazz ist bei mir nur ein Sammelbegriff. Zum Beispiel: Duke Ellington: Da gibt es auch schneller (Jive) oder moderate (Swing) Stücke. Es kann auch ganz langsam werden (Blues). Entscheidend ist m.E. die (akustische) Eigenschaft der Instrumente. E-Gitarre, Synthesizer und Schlagzeug sind in der Milonga m.E. unpassend.

Anonym hat gesagt…

Könntest Du einmal über die inhaltliche Gestaltung einer Milonga noch etwas schreiben (welches Orchester, wann .....)

cassiel hat gesagt…

Ich sehe Deine Anmerkung erst jetzt. Ich habe schon so viel über das Auflegen geschrieben und ich möchte nicht eine weitere Redundanz hinzufügen. Hast Du diesen Artikel (von 2014) gesehen?
Über die Anordnung der Tandas in der Milonga