Samstag, 18. September 2010

Osvaldo Pugliese und die Schreibblockade

Psst... eigentlich befinde ich mich ja tief in meiner Schreibkrise - meine Schreibblockade wirkt nach wie vor. Und dann las ich vor zwei Wochen bei meiner überaus geschätzten Kollegin Caren ihren Eintrag über Pugliese und siehe da: Ich wollte eine Anmerkung schreiben. Aber ich stutzte. Hatte sich da etwa ein "falscher" Titel eingeschlichen? Und dann las ich die Frage: "Kann man sagen, dass diese Musik aufmuntert?" OK! Das dauert dann doch etwas länger und so musste ich erst einmal einige Abende hören, lesen und überlegen. Ich fürchte, meine Ausführungen sprengen den Rahmen einer Anmerkung bei Caren und nun schreibe ich also hier über Osvaldo Pugliese...

Die Ehrfurcht ist groß und selbst als etwas etablierterer Blogger traue ich mich nur ganz allmählich zu Osvaldo Pugliese zu schreiben. Für mein Empfinden nimmt er eine besondere Stellung unter den Tango-Musikern ein. Ich kann ihn nicht immer hören, aber dann und wann lege ich mir sehr bewußt eine CD vom Maestro auf und lausche konzentriert. Osvaldo Pugliese polarisiert. Ich bilde mir ein, daß es überwiegend Tangueras sind, die von seiner Musik begeistert erzählen. Andere nennen es schwülstig oder gar abgeschmackt.

Aber fangen wir vielleicht einmal mit ein paar biografischen Schnipseln an. Osvaldo Pedro Pugliese wurde am 2. Dezember 1905 als dritter Sohn geboren. Sein Vater Adolfo Pugliese, ein italienischer Einwanderer und Schuhmacher spielte Flöte und gab dem jungen Osvaldo den ersten Musikunterricht - zunächst auf der Violine. Später wechselte er zum Klavier.

Osvaldo Pugliese brach seine Schulausbildung auf eigenen Wunsch ab um zu arbeiten. Mit dem Wissen um dieses biografische Detail lässt sich auch sein Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei (Parteibuch Nr. 108) verstehen. Das war keine salon-kommunistische Künstlermacke, es war eine Folge von der vermutlich bitteren Armut in seiner Kindheit. Pugliese war auch einer der Väter der Idee einer Musiker-Gewerkschaft in den 30er Jahren. Die Arbeitsbedingungen waren sehr hart. Sechs Abende die Woche... und die gingen dann gut und gerne bis vier Uhr früh. Es ist also auch konsequent, daß Pugliese der argentischen Verwertungsgesellschaft für Musikrechte SADAIC beitrat (Mitglied Nr. 5) um seine eigenen und die Rechte seiner Orquesta-Kollegen zu wahren. In einem Nachruf auf Osvaldo Pugliese in der britischen Tageszeitung The Independent wird auch noch einmal ganz deutlich betont, daß Pugliese sein Orquesta als Kollektiv verstand. Wenn auch viele seiner Kollegen die Besetzung häufig änderten (Anibal Troilo) oder gar in periodischen Abständen das Orquesta kurzerhand auflösten (Carlos Di Sarli); Osvaldo Pugliese bevorzugte augenscheinlich die Konstanz (in diesem Zusammenhang verweise ich auch gerne auf die Erinnerungen von Osvaldo Ruggiero; er spielte 28 Jahre Bandoneon bei Pugliese). Pugliese saß (wohl für sein Überzeugungen) auch mehrfach im Gefängnis. Das Orquesta trat trotzdem auf und eine rote Rose auf dem Klavier symbolisierte seine Abwesenheit.

Im englischsprachigen Wikipedia-Artikel zu Osvaldo Pugliese wird übrigens erwähnt, daß er während der Zeit der Diktatur auf eine der üblichen argentinischen Arten "entsorgt" werden sollte (eingeschlossen in einem sinkenden Schiff auf dem Rio de la Plata). Zum Glück ist er in letzter Minute doch gerettet worden.

Nach diesen skizzenhaften Vorbemerkungen versuche ich seine Musik zu charakterisieren. Ich beschränke mich sehr bewußt auf zwei Stücke, die ich wirklich wichtig finde. Da wäre zunächst einmal Recuerdo, eine Komposition von Osvaldo Pugliese aus dem Jahr 1924. Es sollte ca. 20 Jahre dauern, bis er sie selbst eingespielt hat. Dieses Stück steht für mich für die musikalische Herkunft (oder vielleicht besser: Tradition) in die sich Pugliese stellt. Leider finde ich die Fundstelle nicht mehr, aber Recuerdo wird allgemein als ein Tango in der decaroanischen Schule eingeordnet. So verwundert es auch nicht, daß Julio De Caro diesen Titel bereits 1926 einspielte und Pugliese sein Arrangement seiner Einspielung aus dem Jahr 44 für mein Empfinden an die Version von De Caro stark angelehnt hat. Ich habe Recuerdo in den verschiedenen Versionen hier im Blog bereits einmal vorgestellt und verlinke deshalb den Beitrag zu Recuerdo aus der Serie "Für die neue Woche". Weitere Informationen zu diesem Titel finden sich übrigens bei Planet-tango.com. Dort ist auch die Version vom 26. Dezember 1985 (am Ende des Beitrags) eingebunden. Es handelt sich um den Live-Mitschnitt eines Konzertes, das Pugliese anlässlich seines 80. Geburtstags im Teatro Colón in Buenos Aires gab.

Der zweite Titel ist La yumba ein instrumentaler Tango dessen Name wohl lautmalerisch an ein rhythmisches Bandoneón erinnern soll. Er markiert zusammen mit den Titeln Negracha und Malandraca den Beginn des typischen Puglieses der 50er Jahre (zu diesen beiden Titeln hat Rodrigo eine Anekdote beigesteuert). La yumba war eine Art Hymne des Orquestas von Pugliese. Das Publikum forderte bei Auftritten diesen Titel regelrecht ein. Ich verweise auch gerne auf den Eintrag bei Michael Lavokah.

Aufnahme vom 21. August 1946


Aufnahme vom 13. November 1952


Diese zwei Titel sind m.E. als zentrale Werke zu verstehen. Mit Recuerdo komponierte Pugliese 1924 eine musikalische Säule der goldenen Ära und mit La yumba markierte er 1946 kompositorisch den Anfang des Endes dieser Epoche. Er breitete mit diesem Titel die 50er Jahre im Tango vor.

Ich werde jetzt einmal sehr kühn und mißachte die Warnung eines Kommentators hier im Blog, der vor einiger Zeit vor genau dem folgenden Vergleich warnte. Aber vielleicht können diese (höchst subjektiven) Gedanken einen Zugang zum Schaffen und zum Stellenwert von Osvaldo Pugliese erleichtern. Ich wage den Vergleich von Osvaldo Pugliese und Ludwig van Beethoven. Wenn es nun nur darum gehen würde, daß beide Musiker komponierende Pianisten waren, dann wäre das zu dünn. Es geht eigentlich um die Eigenschaft von beiden, Personen der Vollendung und des Übergangs zu sein. So wie Beethoven der Klassik den letzten brillianten Schliff gab und gleichzeit auch die Romantik begründete - so perfektionierte Osvaldo Pugliese die goldene Ära und begründete auch die Übergangszeit (transition era bei Stephen Brown). Und nun verlassen mich die Formulierungen und die Unschärfe nimmt zu. Für mich persönlich ist das charakteristische Merkmal (sowohl bei Beethoven, als auch bei Pugliese) eine gewaltige Energie in der Musik. Bei Beethoven ist es die zutiefst aufklärerisch motivierte Menschenliebe die vielleicht im Chorsatz der 9. Symphonie gipfelte. Gleichzeitig fühlte sich Beethoven aber auch unverstanden (man denke an den ersten Satz des Heiligenstädter Testaments: "O ihr Menschen die ihr mich für feindselig störrisch oder misantropisch haltet"). Vielleicht war dieser scheinbare Widerspruch notwendig und begründete auch die ungeheure Energie im Werk.

Ich denke oft an den oben erwähnten ersten Satz des Heiligenstädter Testaments, wenn ich einen Titel von Pugliese höre. Für mich ist es die Energie der Pausen; die ist für mich mit der Energie in Beethovens späten Kompositionen vergleichbar. Auch Pugliese fühlte sich bestimmt mit seiner Weltanschauung unverstanden. Aber -so berichtete es zumindest Rodrigo im Interview- er arbeitete bescheiden und freundlich über lange Jahre mit seinen Kollegen zusammen. Und mir fällt dann spontan noch ein weiterer Satz zu Puglieses Tango ein: "Alles Gelungene ist eine Form von Gewalt." (diesen Satz würde man spontan in den Kontext der Frankfurter Schule in den 70er oder frühen 80er Jahre stellen, er stammt aber aus der Feder des Liedermachers Heinz-Rudolf Kunze). Mich verlässt gerade meine Formulierungskunst... aber ich probiere es trotzdem; in meinen Ohren ist es "gewaltige" Musik.

Und warum schreibe ich ausgerechnet zu Pugliese zur Überwindung meiner Schreibblockade? Im Rahmen der Recherche zu diesem Beitrag stolperte ich bei Wikiquote über die folgende Weisheit des Maestros:
I'm not a prophet! I'm just one more hard-worker, no more than that (...). I'm a bean, just a screw of this machine called tango.
Und vielleicht sollte so auch das Selbstverständnis eines kleinen Tango-Bloggers beschaffen sein. Vielleicht ist es eine Frage der Disziplin. Natürlich kann ich im Rahmen eines Blog-Artikels nicht erschöpfend zur Musik eines großen Künstlers schreiben. Dazu fehlt der Platz und vor allem das Wissen. Ich kann aber versuchen, ein paar "emotionale Brücken" zu bauen...

Ganz zum Schluss möchte ich auf die eingangs erwähnte Frage von Kollegin Caren zurückkommen. Nein, für mein Empfinden hat die Musik von Osvaldo Pugliese nichts Aufmunterndes. Großartig ist sie trotzdem.

3 Anmerkung(en):

B. G. hat gesagt…

Kann es sein, dass Deine Schreibblockade ansteckend ist? (-:

Ich habe den Artikel jetzt mehrmals gelesen und nach anfänglichem Stirnrunzeln bekomme ich nun langsam eine Vorstellung von dem Weg Deiner Gedanken bzw. Gefühle.

Inzwischen finde ich den Artikel toll und wünsche mir mehr solche Texte!

Wenn denn das Zitat stimmt und "alles gelungene eine Form von Gewalt" ist, dann musst Du Dir aber schon vorhalten lassen, dass Deine Beiträge ziemlich "gewaltig" sind. (-:

KerstinGaertner hat gesagt…

Mit Interesse und Freude gelesen. "Vollendung und "Übergang" - "gewaltige Energie". Als akustisches Beispiel dazu möchte ich den Vergleich zwischen dem Tango LA MARIPOSA Einspielung von D´Arienzo, (Grandes del Tango 5 Vol.1) mit LA MARIPOSA von Pugliese vorschlagen Gruss Kerstin Gaertner

Tiziano hat gesagt…

Ein später Kommentar und nichts wirklich wichtiges, aber trotzdem:
Es war keine rote Rose sondern eine rote Nelke ( siehe auch Wikipedia) die auf dem Klavier, wenn Osvaldo im Gefängnis sass. Klar Rote Nelken passen besser zu einem Kommunisten. Deshalb fiel es mir auf.