Ich war vor einigen Tagen bei einem Vortrag mit dem Titel "Bildung in schweren Zeiten" und das Thema hat mich dann nicht mehr losgelassen. Wenn ich mich einmal mit einem Thema intensiver auseinandersetze, dann kommt früher oder später der Moment, in dem ich derartige Gedanken in den Tango übertrage. Da kommen dann für mich immer ganz erstaunliche Erkenntnisse zu Tage; manchmal vielleicht auch ein wenig ungewöhnliche... Als Blogger habe ich den unschätzbaren Vorteil, daß ich solche Gedanken einmal versuchsweise in meinem Blog ausprobieren kann und ab und zu verirrt sich eine Leserin oder ein Leser auf meine Seiten und schreibt womöglich etwas dazu.
Die Diskussion um Bildung wird in der Gesellschaft immer dann hitziger, wenn es gilt, den Verlust eben dieser Bildung zu beklagen. Gerade in der Folge des Bologna-Prozesses wird häufig argumentiert, die Bildung verkomme zur Ausbildung. Das sind nun sicherlich Gedanken, die wir schon von unseren Eltern und Großeltern mitbekommen haben. Neu ist es vielleicht, daß diejenigen, die sich gegenwärtig beklagen, mittlerweile immer jünger werden.
Es ist ein eigentümlicher Umstand, daß eigentlich nur die deutsche Sprache den Begriff Bildung kennt. Es gibt (zumindest in den mir geläufigen Fremdsprachen) keine Entsprechung. Man muss immer mit mehreren Begriffen umschreiben. Lediglich der alt-griechische Begriff der Paideia kommt diesem deutschen Bildungsbegriff sehr nahe. Im Neugriechisch bezeichnet dieser Begriff (gleiche Schreibweise, andere Aussprache): "Kinder"; so sagte es mir jedenfalls ein kluger Mensch.
Aber wann attestieren wir einem Mitmenschen Bildung? Ist es beispielsweise der Moment, in dem er angesichts des eigenen, fast unheimlichen Glücks den Satz Mir grauet vor der Götter Neide von sich gibt und wir wissen, er kennt den Ring des Polykrates von Friederich Schiller? Ist es vielleicht der Augenblick, in dem uns dieser Mitmensch nach wenigen Takten Musik so ganz beiläufig den Titel, den Interpreten bzw. Komponisten oder einige andere Details erzählt? Diese Liste von Situationen, in denen Bildung sichtbar oder wahrnehmbar wird, ließe sich nun beliebig verlängern. Aber all diese Beispiele belegen eigentlich eine Allgemeinbildung, die zwar häufig mit der Bildung - wie ich sie hier besprechen will - vergesellschaftet ist, die aber noch lange kein isolierter Indikator für das Vorhandensein eben dieser Bildung sein kann. Vollgestopfte Lehrpläne in den Schulen und verschulte Studiengänge an den Universitäten haben in den letzten Jahren nämlich nicht das Niveau der Allgemeinbildung angehoben, sondern vielmehr zielgerichtetes Lernen (und anschließendes sofortiges Vergessen) gefördert. In diesem Zusammenhang hörte ich neulich vom Bulemie-Lernen; gemeint ist das Auskotzen kurzfristig aufgenommen Stoffs innerhalb einer Prüfung um sich anschließend in derselben Weise auf eine andere Prüfung vorzubereiten.
Bildung muß somit noch eine weitere Komponente besitzen. Spirituelle Menschen bringen spätestens an dieser Stelle den Begriff der Herzensbildung ein. Ich formuliere es vielleicht etwas nüchterner und bezeichne es als die Fähigkeit zur Abstraktion und der daraus resultierenden Toleranz oder gar Empathie anderen gegenüber. In der Sprache der Wirtschaft oder der Psycho-Ratgeber spricht man auch gerne vom EQ (in Anlehnung an den IQ) oder von der emotionalen Intelligenz, ein Begriff, der für mein Empfinden in sich widersprüchlich ist.
Nach dieser vergleichsweise langen Einführung kommen wir schließlich zu der Frage: "Wie lassen sich diese Überlegungen in den Tango transferieren?" Und: "Ist eine Betrachtung des Tangos aus diesem Blickwinkel überhaupt zielführend?" Gemäß meiner Beobachtung kann man im Tango ebenfalls genau diesen Widerspruch zwischen Bildung und Ausbildung beobachten. Da ließen sich jetzt viele Beispiele anführen. Ich greife einige exemplarisch heraus. Entscheidend ist für mich beispielsweise der Umgang mit der Musik. Welcher Stellenwert wird ihr beigemessen? Oder ist sie im ungünstigsten Fall nur akustische Untermalung für eine Bewegungsform? Eine andere Frage haben wir hier bereits häufiger thematisiert: Der bisweilen hohe Stellenwert von atemberaubenden Figuren in bestimmten örtlichen Szenen. Und immer wieder schimmert die Frage nach dem Umgang mit den Mitmenschen im Tango durch und nicht wenige Tanguer@s beklagen eine Ellbogen-Mentalität im Tango, die an die Konkurrenzsituation im Hörsaal oder der Bibliothek erinnert. Und so wie eine akademischer Abschluss heutzutage oft als Ego-Booster missbraucht wird, der eine vermeintlich materiell sichere Zukunft garantiert, so wird auch manchmal der Tango als Ego-Booster zweckentfremdet.
Und so wiederhole ich noch einmal meine Frage aus der Artikelüberschrift: Gibt es eigentlich so etwas wie "Bildung" im Tango?
Ich kann nicht erwarten, daß hier alle Leserinnen und Leser meine Gedankengänge und Schlüsse teilen wollen, über ein paar kommentierende Anmerkungen, andere Ansichten oder sonstige Meinungen würde ich mich allerdings freuen.
So! Jetzt ist es dann auch wieder genung mit dem Lamentieren... ;-)
21 Anmerkung(en):
Den Artikel verstehe ich nicht. Was bitte meinst du mit "Bildung"? Wie definierst du das? Muss ich mich mit dieser Frage beschäftigen wenn ich einfach nur tanzen will?
Ich will solche Artikel hier nicht lesen.
@Anonym
Nur kurz zwischendurch: Niemand muß sich mit solchen Fragen beschäftigen. Man kann das aber durchaus einmal durchdenken.
Eine Definiton des Bildungsbegriffs mag ich hier nicht formulieren. Da streiten sich ja noch die Gelehrten. Es gibt allerdings einen sehr ordentlich geschriebenen Artikel bei Wikipedia. Da kann man die wichtigsten Fakten von der ersten Verwendung des Begriffs beim mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart bis zur Ankunft des Begriffs in der Moderne durch Wilhelm von Humboldt nachlesen.
selbstverständlich gibt es das!!
Wenn ich jetzt das aufzähle, was m.E. dazu gehört, gibt es bestimmt Ärger und Widerspruch.
Keine Bildung ist der Zustand, in dem jeder (nicht-Argentinier) das erste Mal mit dem Tango konfrontiert wurde. Eine vage Rhythmusvorstellung aus der Tanzschule, einige Klischees von der Rose im Mund und unermesslicher südländischer Leidenschaft, zackige Bewegungen bei einem Turniertanz im Fernsehen kennzeichnen den Tango-Bildungsumfang des durchschnittlichen Bürgers.
Alles was danach kommt, ist zunehmende Bildung. Z.B. Wissen um die Geschichte der Musik und des Tanzes, der wesentlichen Entwicklungsschritte und der Personen die dazu gehören, des jeweiligen Umfeldes.
Was ist der Unterschied zwischen Bildung und Ausbildung? Ausbildung ist hier das Erlernen gewisser Fähigkeiten, die es einem erlauben überhaupt zu tanzen. Musikalisch reicht die Ausbildung, wenn man musikalische und rhythmische Strukturen erkennt, die für das tanzen an sich relevant sind. Bildung ist alles was über das unmittelbar notwendige hinaus geht. Ist es deswegen nutzlos? Nein, es erleichtert die Orientierung und erhöht den Genuss.
@Anonym: Du musst das nicht lesen. Das spart dir viel Zeit. Wenn Du nur tanzen willst, darfst Du überhaupt nichts lesen, sondern eben nur tanzen. Das Risiko des lästigen Nachdenkens wird dadurch auch zuverlässig reduziert!
Ich sehe das ziemlich ähnlich wie Chamuyo. Damit ist die tango-spezifische Bildung gut beschrieben. Daneben gibt es natürlich auch noch die Allgemeinbildung, vielleicht auch eine musikalische Bildung, und natürlich auch noch Dinge wie die emotionale Intelligenz (in der Tat ein komischer Begriff, aber wir wissen hofentlich alle, was damit gemeint ist). Ich würde mal sagen, wenn man von all dem ein bisschen zum Tango mitbringt, ist die Chance hoch, dass man ein angenehmer Tanguero ist, der gut auf die Musik tanzen kann und sich im übrigen nicht benimmt wie die Axt im Walde. Dazu gehört auch, das überschäumende Ego zu bändigen und die Umwelt nicht mit persönlichem Geltungsdrang zu belästigen. Also im Grunde all das, was einen gebildeten Menschen idealerweise auch außerhalb der Milonga auszeichnet.
Natürlich haben mit chamuyo und austin wieder einmal zwei Weise hier im Forum geschrieben. Das lesen alle natürlich sehr gerne. Die ursprüngliche Fragestellung finde ich aber sehr berechtigt und in Zeiten der "Individualisierung" gibt es sicherlich auch andere Positionen. Mich wundert es, dass keine Diskussion entsteht (abgesehen von dem kaum hörbaren Gegrummele durch den ersten Kommentator).
Die größte Bildung scheint mir darin zu bestehen, Leben und Leben zu lassen, und das gilt auch für den Tango.
hier braucht es dringend eine fundierte Gegenmeinung. Wer wäre da besser geeignet als Kevin? Cassiel, frag ihn doch mal, ob er nicht ein Gastkommentar liefert!
Lieber chamuyo
Ich bereits in tango-de einmal öffentlich ihm angeboten, daß ich seine Beiträge veröffentliche und ihm auch eine eMail geschrieben. Da kam dann nichts zurück. Vielleicht kontaktierst Du ihn und fragst, ob er dazu schreiben will?
@All
Danke für die Anmerkungen und ein schönes Wochenende allerseits...
Bildung ist ja vielleicht so etwas wie die individuelle Manifestation von "Kultur". Und war nicht der Tanz schon immer auch Ausdruck kultureller Gestaltungskraft? Gehört er nicht vielleicht sogar zu den wesentlichen Merkmalen der Errungenschaft "Kultur", so wie wir sie heute verstehen? Und ist der Tanz nicht immer schon ein verbindendes Element jeglicher Gesellschaftlichkeit gewesen?
Insofern wäre es nur konsequent, wenn es auch IM Tanz - und speziell im Tango so etwas wie ein "Bildungsphänomen" gäbe. Wenn sich also Menschen der Seele des Tanzes, dem Wesen, der "Sonderheit" der kulturellen Erscheindungsform Tango nähern und dies dann zu einer "Geisteshaltung" führt, die dann auch Einfluß hat auf die Art wie sie tanzen.
Im Grunde dreht es sich doch in diesem gesamten Blog um diese Frage. Es geht um die Bildung im Tango. Um innere Zuwendung, um Verständnis, um den fast verzweifelten Versuch, die "Seele" des Ereignisses "Tango" in Gedanken und Worte zu fassen, zu be-Greifen.
Unterscheidet sich das von jenen, die vielleicht in der Lage sind, das Bild eines Künstlers zu erklären? Die etwas über die Hintergründe, Besonderheiten, Eigenarten und die Entstehungsgeschichte zu wissen? Die insofern also über einen Bildungshintergrund verfügen?
Bildung ist vielleicht auch die Fähigkeit zur Differenzierung. Im Tango ist es ja nicht anders. Die Mehrzahl der Menschen tanzt aus intuitiver Freude, ohne dies näher zu hinterfragen. Aber ein anderer Teil will sich damit nicht begnügen und möchte sich auch auf einer geistig-seelischen Ebene auseinandersetzen. Und dann entsteht fast zwangsläufig Bildung. Es gab ja zB auch bereits das Stichwort "Codigas".
Das, was bei diesen Gedanken vielleicht Unbehagen hervorruft - daher wohl auch die bisher eher verhaltene Reaktion auf dieses Thema - ist möglicherweise die Gefahr eines elitären Anspruchs und einer Akademisierung einer so herrlich unsprünglichen, emotionalen Begegnungsmöglichkeit mit Menschen, die ähnlich empfinden und ähnliche Sehnsüchte in sich tragen. Wer wollte das zerfasern und zerreden ohne sich dem Angriff typisch deutscher Erklärungssucht auszusetzen? Ich finde das Thema hochspannend und es wäre tatsächlich reizvoll, kontroverse Meinungen darüber zu lesen.
@FastZuAlt
Wunderschön!
Und weil Du es angesprochen hast, schreibe ich vielleicht noch einmal ausdrücklich: Bildung hat m.E. wenig bis gar nichts mit Ausbildung zu tun. Es gibt sehr gebildete sog. einfache Menschen und extrem ungebildete Menschen in vermeintlich akademisch höchsten Positionen (vielleicht sogar Lehrstuhlinhaber)...
Dein Hinweis war wirklich notwendig. Vielen Dank!
Oh je... schon so spät! Ich geh' schlafen.
Den "kontroversen Beitrag" kann ich nicht liefern.
@FastZuAlt
sehr schöner Beitrag und Zustimmung.
@chamuyo,austin und cassiel
Zustimmung.
Nach meiner sehr subjektiven Meinung mangelt es im Tango in Mitteleuropa am meisten an Musikbildung. So stelle ich als Tänzer und gelegentlicher DJ fest, dass es TänzerInnen gibt die auch nach 10 Jahren Tanzerfahrung weder tänzerisch noch musikalisch zwischen d'Arienzo und z.B. diSarli unterscheiden können. Dies wäre vielleicht ein lohnendes Thema
aber vielleicht wurde das schon früher behandelt.
Lieber FastZuAlt,
danke für deinen Beitrag. Um auf deinen letzten Absatz zuerst einzugehen, mein Unbehagen rührt von daher, dass hier der Tango mit einem Begriff in Verbindung gebracht wird, der in den letzten Jahren aus dem Mauerblümchendasein ins öffentliche und mediale Interesse gerückt ist, PISA sei Dank. Tango mit jedem dahergelaufenen Stichwort des medialen Zeitgeistes zu verknüpfen, das nervt einfach und das hat der erste Kommentar ja auch zum Ausdruck gebracht.
Ein weiteres Unbehagen rührt vom wirren Impulsbeitrag her, hier werden Halbgedanken wild mit einem gefühlten Wissen verknüpft, das ist Gazettenniveau, mit dem ich hier konfrontiert werde. Letztlich führt der Autor zu einem seiner Lieblingsthemen, des Verhaltens von TangotänzerInnen in der Milongaöffentlichkeit und wie unmöglich er dieses oft findet.
Ein drittes Unbehagen rührt aus dem verlinkten Wikipediaartikel. Hier heißt es: „Bildung ist ein sprachlich, kulturell und historisch bedingter Begriff mit einer sehr komplexen Bedeutung.“ Der Leser ahnt oder weiß von dieser Komplexität mit ihren Fallstricken und möchte vielleicht erstmal geklärt haben, um welchen Bildungsbegriff es überhaupt geht.
Und das größte Unbehagen ist: Der Autor möchte andere Meinungen und Ansichten hören, seine eigenen kann ich aber nicht erkennen.
Er stellt Fragen und hier ist das erleichternde in dem ganzen Beitrag: Sich dem Thema zu nähern geschieht am besten mit Fragen. Die richtige Fragen zu stellen führt schneller zu Erkenntnis als mit wohlklingenden Antworten befriedigt zu werden.
Und so wünsche ich allen Lesern und Schreibern, den Weg zum richtigen Fragen zu finden.
Lieber Uralt,
auch dir danke für deinen Beitrag. Nach meiner ebenfalls sehr subjektiven Meinung mangelt es jedoch nicht an Überheblichkeit.
Ich komme gerade nach Hause und lese die Kommentare. Ausführlich mag ich dazu jetzt nicht mehr schreiben.
Ein freundlicher Hinweis an Kommentator Mittelalt sei allerdings gestattet: Daß Du meinem Ursprungsbeitrag Gazettenniveau attestierst kann ich sportlich nehmen. Damit kann ich als Blogger sehr gut leben. Einem Mitkommontator Überheblichkeit zu unterstellen weil er mangelnde Musikkenntnisse beklagt finde ich aus zwei Gründen problematisch. Erstens gefällt mir der Ton nicht (mich darf hier jeder kritisieren - meine Leser und Kommentatoren sind tabu). Zweitens hat Uralt mit seiner Beobachtung nicht ganz unrecht. Darf ich da um sorgsame Wortwahl bitten?
@cassiel, sehr gerne!
Wenn sich jemand persönlich angesprochen fühlt, so ist es dessen Sache und ich lasse es offen, wieweit das beabsichtigt war. Gedacht habe ich im Moment des Schreibens an die Überheblichkeit von so manchem Tangozeitgenossen (ganz gewiss nicht von Uralt), der mir persönlich unangenehm auffällt, also diejenigen, die erzählen, dass sie schon 10 mal in B.A. bei den besten Lehrern waren und vor meinen Augen keine Tanzrichtung kennen. Die erzählen, wieviel sie schon über Tango gelesen, geschrieben, getanzt, unterrichtet haben um dann nach 3 Minuten den nächsten Gesprächspartner suchen, auf der Suche nach Bewunderung. Der coole Tanzlehrer, dessen Freundin mich zur Milonga auffordert, weil der Tanzlehrer sich immer gerade dann hinsetzt. Diejenigen, welche grundsätzlich "nicht unter ihrem Niveau tanzen" (was immer das sein soll, Zitat eines langjährigen Tänzers).
freundliche Grüße
Mittelalt
Schön, dass mittelalt das klargestellt hat, wie er das meint. Das kann man alles unterschreiben, finde ich.
Ein anderer Aspekt beim Thema Bildung ist immer ein wenig problematisch, das klang oben schon mal an: ob jemand Bildung hat oder nicht, das wird immer von denen definiert, die für sich in Anspruch nehmen, gebildet zu sein. Und oft bestimmen diese Leute auch die Diskussion um die Bildung und den Mangel daran. Das hat zwar etwas elitäres und damit unpopuläres, aber das ist unvermeidbar und es ist auch nicht völlig falsch.
Ich könnte jetzt auf super-tolerant machen und sagen, dass Bildung etwas ganz subjektives ist und dass jeder auf seine eigene Art hochgebildet sein kann. Aber ich glaube, das stimmt nicht. Es gibt schon so etwas wie einen Bildungs-Grundstock, und wer den nicht hat, mag ein toller Mensch sein und einen fehlerlosen Charakter haben, und er ist vielleicht mein bester Freund, aber Bildung hat er dadurch trotzdem noch nicht.
Ich glaube auch, dass Uralt ein bisschen recht hat, wenn er sagt, nach zehn Jahren Tango erwartet er, dass man di Sarli von D'Arienzo unterscheiden können sollte. Ich selber kann das auch noch nicht, aber ich finde, ich sollte das können, und wer mir das als Bildungslücke vorhält, der hat in meinen Augen Recht.
möchte mich gerne bei Mittelalt anlehnen.
Der Begriff Bildung ist schon an sich unscharf, umfaßt viele Aspekte und wird hier sofort weiter aufgeweicht. Ganz wild wird es, wenn man ihn nett verheiratet mit anderen Wörten wie z.B. Vermögensbildung, Ausbildung, Charakterbildung, Bildung einer kriminellen Vereinigung.
Das Wort Bildung scheint zunächst mal nur darauf hinzudeuten, daß etwas angehäuft wird oder wurde über das Gemeine hinaus, Verbrecher, Vermögen, Wissen, sonst was.
Gibt es Bildung im Tango, im Sinne von Anhäufung von Wissen?
Es gibt eine Professur für Tango, es gibt die Geschichte, die Musik, die Philosophie und Tango als Weltkulturerbe. Ergo gibt es wohl auch so etwas wie Bildung in diesem Sinne im Tango.
Es gibt sogar Menschen, die alles wissen über den Tango, außer vielleicht, wie man ihn tanzt.
Aber, wie schon bekannt, teile ich eine verkopfte Beziehung zum Tango nicht, das gepflegt intellektuelle Herumschleichen um den heißen Brei der Emotionen, diese Ursuppe des Tango, bloß nicht die Finger verbrennen.
Ich bin fest überzeugt, daß der Tango keine Bildung im obigen Sinne braucht und die Bildung keinen Tango.
Ich glaube noch nicht mal, daß solche Bildung hilft. Obwohl der Anteil der Akademiker in unserer Szene recht hoch ist, kann ich nicht feststellen, daß sie rundweg die besseren Tänzer seien.
Es könnte sogar sein, daß akademische Bildung dem Tangotanzen im Wege steht. Oft kann ich beobachten, wie insbesondere Männer sich dem Tango zu nähern versuchen, wie sie es gewohnt sind, im Berufsleben Wissen zu erwerben und Probleme zu lösen.
Schritte und Kombinationen werden millimetergenau analysiert und gewissenhaft aufgezeichnet und archiviert; bloß in den Füßen, Beinen, Körpern und Herzen kommt nichts an.
Von wegen Leidenschaft.
A propo Leidenschaft. Gibt es eine Wissenschaft der Leidenschaft? Werden Bildung und Leidenschaft jemals ein Paar werden (und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende)?
Hilft Bildung – in einem klassischen Sinne – wenigstens, das Benehmen der Tänzer und Tänzerinnen zu verbessern? Und wenn nicht, was dann?
Emotionale Intelligenz vielleicht?! Aber was hat Intelligenz wie Bildung zu tun?
Ich glaube, ich gehe lieber tanzen!
Jetzt war einfach ein paar Tage keine Zeit für dieses Blog. Ich möchte aber nun (leicht verspätet) auf die jüngsten Beiträge eingehen. Natürlich ist der Bildungsbegriff diffus, das wird auch niemand ernsthaft bestreiten. Trotzdem lohnt m.E. die Auseinandersetzung mit der eigenen Herangehensweise an den Tango - auch aus dieser Richtung. Für Kommentator Mittelalt ist offensichtlich die Form des Blogs (als eine Art Tagebuch - daher subjektiv) ungewohnt. Natürlich habe ich einmal ein Thema angerissen ohne fertige Lösungen zu präsentieren - das hat in der Vergangenheit auch zu erfreulichen Diskussionen geführt. Als Neuling in einem Premieren-Beitrag gleich apodiktisch von gefühlten Wissen bzw. Gazettenniveauzu schreiben finde ich (vorsichtig formuliert) gewagt. Vielleicht fällt nicht nur zufällig der Begriff PISA in nämlichen Kommentar. PISA hat m.E. nichts (oder nur sehr wenig) mit Bildung zu tun. Es geht da um verwertbares Wissen und Kulturtechniken. Das sind natürlich wesentliche Fähigkeiten, aber sie sind für meinen Geschmack nicht ausreichend. Es geht um mehr und genau das habe ich versucht, durch meinen Ausgangsbeitrag zur Diskussion zu stellen.
@Chris
Natürlich habe ich den Begriff Bildung nicht definiert. Allerdings hatte ich nicht die entlehnte Verwendung des Begriffs im Sinn (Du hast beispielsweise von der Vermögensbildung o.ä. geschrieben). Mir schwebte eher so etwas, wie der Humboldtsche Bildungsbegriff vor, der natürlich auch eine Unschärfe besitzt. Für mich ist auch keine isolierte akademische Bildung im Tango erstrebenswert - insofern bin ich mit Dir einer Meinung. Was soziale Kompetenzen auf den Milongas landauf, landab angeht, da sehe ich alledings schon erhebliche Defizite. Vielleicht sind es allerdings auch nur allgemeinere Erosionserscheinungen, die im Tango extrem störend wirken.
Lieber Cassiel,
nur der Humboldtsche Bildungsbegriff, grins. Nun, das habe ich mir fast schon gedacht.
Aber wie Du weiter schreibst, in deiner fast britischen "understatement" Art, er besitzt etwas Unschärfe. Deshalb Ende hier für mich, auf diesem vereisten Feld sind schon genug Esel ins stolpern gekommen.
Tatsächlich geht es ja um die sogenannte soziale Kompetenz auf unseren Tanzveranstaltungen. Also um etwas, was man vor langer langer Zeit einmal als Anstand/Kinderstube/Benehmen bezeichnete, und was sich heutzutage nur noch angehende Führungskräfte in Wochenendworkshops aneignen, als zusätzliche soft skills, nennt man das heute nicht so? Mit welchem Messer esse ich was und wie die Banane?
Aus gutem Grunde sind die sogenannten guten Manieren mal aus der Mode gekommen, denn sie waren auch und vielleicht vor allem ein Abgrenzungs- und Ausgrenzungsmittel zwischen den gesellschaftlichen Schichten.
Allerdings mit dem unsinnigen Ergebnis, daß gutes Benehmen heute mehr denn je ein Abgrenzungsmittel ist, weil es nur noch so wenige beherrschen und diese wenigen besonders priviligierte Mitbürger sind.
Was hilft? Eine Bildung des Herzens? Die genetisch verankerte Moral? Spezialkurse für ordentliches Benehmen?
Aber was ist eigentlich richtig, und was falsch? Dürfen auch Frauen auffordern, dürfen sie nein sagen? Wie hoch darf der Schlitz der Röcke sein, und muß erst der beisitzende Begleiter um Erlaubnis gefragt werden, bevor die Frau um einen Tanz gebeten werden darf? Muß mann/frau nach einer Tanda sich verabschieden, und nach dreien mit dem Manne mitgehen? Oder nur, wenn der Mann ordentlich angezogen ist? Dürfen Tangueros mit Jeans der Milonga verwiesen werden?
Ich weiß es auch nicht. Diese Fragen wälzen ja Generationen um Generationen von Tangotänzern, und können sich nicht einigen.
Und trotzdem funktionieren die Milongas, finden sich Paare. Ist nicht wenigstens das tröstlich?
Hm, wie verbinde ich die Begriffe Tango und Bildung?
Das ist in der Tat eine heikle Angelegenheit, wenn man den Begriff Bildung ernst nimmt. Aber, liebe/r Chris, Cassiel spricht nicht vom Humboldtschem Bildungsideal sondern es schwebt ihm so etwas, wie der H.B. vor. Damit dürfte klar sein, worum es geht, um eine so-in-etwa-Vorstellung des Begriffes. Das muss nicht unbedingt verkehrt sein, aber man sollte sich darüber im Klaren sein. IHK, Philologenverband, Orchestervereinigung, Kultusministerien und viele mehr, alle haben sie ihre jeweils eigenen Vorstellungen von Bildung, die sie dann Definition nennen.
Ich danke Chris sehr für den Hinweis, dass Bildung auch mit gesellschaftlicher Machtstellung zu tun hat. Es ist auch die Frage, ob, und wenn ja, wie Bildung einforder- bzw. einklagbar wäre. Der riesige Apparat des Schulsystems mit Notengebung ist nur eine, wenn auch verbreitete und etablierte Möglichkeit.
Wenn man von Bildung reden möchte, muss man wissen, dass es per se keine Definition gibt, sondern einen nie endenden Diskurs um den Begriff. Dieser Diskurs ist nicht denkbar ohne ein dazugehöriges Menschen- und Weltbild sowie (un-)ausgesprochenen Absichten. (Hier spielt z.B. die Frage nach der gesellschaftlichen Macht eine Rolle). Man muss auf jeden Fall den historischen und aktuellen Kontext der Begriffsauseinandersetzungen kennen. In aller Kürze und Oberflächlichkeit könnte man nun in 20 Seiten auf die Eingangsfrage antworten. Dies ist der Rahmen, der mir deutlich wurde, als ich mir überlegte, ob ich hier etwas beitragen solle.
Die Lust an der Auseinandersetzung hat mich nun dazu gebracht, doch ein paar Gedanken nieder zu schreiben.
a) Man könnte sagen: Tango zählt zur Sparte Tanz, dieser zur Sparte ästhetische Bildung und diese rechtfertigt sich aus einem Ästhetikverständnis, das in Anlehnung an Baumgarten (1750) die subjektiv-sinnliche Erkenntnis- und Ausdrucksfähigkeit in den Mittelpunkt stellt. (1)Mal abgesehen davon, dass Tanz zum kulturellen Grundbestand menschlicher Kultur gehört und der griechischen Antike Teil des Begriffs μουσική (musike) war (und auch anderswo).
b) Man könnte sagen: Der Mensch ist ein leeres, rohes Gefäß, das durch den Bildungsprozess gefüllt wird, Bildung führt zur Zivilisation. (Ich weiß leider nicht mehr, woher das kommt) Beim Tango entspräche das der Haltung: Der/die Tanguero hat keine Ahnung von Bewegung, Musik und Verhalten und man muss ihm alles eintrichtern.
c) Man könnte sagen: Der Mensch ist voller Begabungen und Anlagen, die im Bildungsprozess zur Ausdifferenzierung geführt werden. Bildung führt zur Selbstverwirklichung. (Renaissance, Paracelsus) (2). Dies entspräche beim Tango der Haltung: Der/die Tanguero ist ein Mensch voller Fähigkeiten (er ist erwachsen) und tanzt, weil es ihm gut tut, weil er in der Lage ist Fortschritte zu machen, unabhängig vom Niveau bzw. dem, was andere dafür halten. Er arbeitet diese Begabung im Bildungsprozess aus.
d) Man könnte sagen: Bildung bedeutet die Möglichkeit von Lehren und Lernen und versteht sich als Erziehung zu einem mündigen, verantwortungsvollen Gebrauch der eigenen Vernunft. (Ende 18./Anf. 19. Jhd)(2) Beim Tango entspräche das ungefähr der Haltung: Der Tanguero lernt und tanzt Tango und weiß was er dabei tut.
e) Man könnte sagen: Bildung ist Erwerb der Zukunftskompetenz bezogen auf Anforderungen des Marktes an die Arbeitskraft und ohne Herkunfts-Gedächtnis. Beim Tango entspräche das vielleicht der Haltung: Mit Tango kann man seinen persönlichen und beruflichen Herausforderungen besser begegnen.
Diese sehr unterschiedlichen Beispiele habe ich mal wertfrei aus meinen Beobachtungen der Tangoszene angeführt. Auch mit weiteren Beispielen wird man sicher immer sagen können, Tango und Bildung stehen im Verhältnis zueinander. Jeder kann sich was aussuchen. Es ist halt nur die Frage, was man will. Sicher kann man Bildung dafür benutzen um zu sagen: Etwas, das mir nicht gefällt ist ungebildet. Aber elegant ist das nicht.
b) Man könnte sagen: Der Mensch ist ein leeres, rohes Gefäß, das durch den Bildungsprozess gefüllt wird, Bildung führt zur Zivilisation. (Ich weiß leider nicht mehr, woher das kommt) Beim Tango entspräche das der Haltung: Der/die Tanguero hat keine Ahnung von Bewegung, Musik und Verhalten und man muss ihm alles eintrichtern.
c) Man könnte sagen: Der Mensch ist voller Begabungen und Anlagen, die im Bildungsprozess zur Ausdifferenzierung geführt werden. Bildung führt zur Selbstverwirklichung. (Renaissance, Paracelsus) (2). Dies entspräche beim Tango der Haltung: Der/die Tanguero ist ein Mensch voller Fähigkeiten (er ist erwachsen) und tanzt, weil es ihm gut tut, weil er in der Lage ist Fortschritte zu machen, unabhängig vom Niveau bzw. dem, was andere dafür halten. Er arbeitet diese Begabung im Bildungsprozess aus.
d) Man könnte sagen: Bildung bedeutet die Möglichkeit von Lehren und Lernen und versteht sich als Erziehung zu einem mündigen, verantwortungsvollen Gebrauch der eigenen Vernunft. (Ende 18./Anf. 19. Jhd)(2) Beim Tango entspräche das ungefähr der Haltung: Der Tanguero lernt und tanzt Tango und weiß was er dabei tut.
e) Man könnte sagen: Bildung ist Erwerb der Zukunftskompetenz bezogen auf Anforderungen des Marktes an die Arbeitskraft und ohne Herkunfts-Gedächtnis. Beim Tango entspräche das vielleicht der Haltung: Mit Tango kann man seinen persönlichen und beruflichen Herausforderungen besser begegnen.
Diese sehr unterschiedlichen Beispiele habe ich mal wertfrei aus meinen Beobachtungen der Tangoszene angeführt. Auch mit weiteren Beispielen wird man sicher immer sagen können, Tango und Bildung stehen im Verhältnis zueinander. Jeder kann sich was aussuchen. Es ist halt nur die Frage, was man will. Sicher kann man Bildung dafür benutzen um zu sagen: Etwas, das mir nicht gefällt ist ungebildet. Aber elegant ist das nicht.
Herzliche Grüße
>Tangosohle<
(1)
(2)
Ich denke, wenn man die Geschichte weiß, den Ursprung, das Orignal kennt, den Sinn und die Philosophie, die hinter den Códigos stehen, dann kann man besser entscheiden, wie man sich benehmen will. Angewandte Bildung sozusagen.
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