Samstag, 29. Dezember 2012

Ein spätes Interview mit Carlos Gávito (Dez. 2004)

In der Zeit zwischen den Jahren hat mich dann doch mein schlechtes Gewissen geplagt und so veröffentliche ich heute noch einen Beitrag. Er ist allerdings inhaltlich nicht von mir. Ich habe vor einiger Zeit im Internet ein spätes Interview der Zeitschrift La Milonga argentina mit Carlos Gávito gefunden. Es ist im Dezember 2004 entstanden und in der Print-Ausgabe vom Januar 2010 veröffentlicht worden. Soweit mir es bekannt ist, ist dieses Interview in Europa weitgehend unbeachtet geblieben. Also habe ich die herausgebende Chefredakteurin der Zeitschrift, Silvia Rojas per eMail kontaktiert und um die Genehmigung zur Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung gebeten.




"Ich sehe schlechtes Tanzen und für mich ist es etwas Obszönes."

Carlos Eduardo Gávito (1942 - 2005)
Carlos Eduardo Gávito (1942 - 2005)
via: La Milonga argentina
Gávito ist [der] Tango. Seine quijoteske [drahtige] Figur - schlank, fein und verspielt - scheint nach seinen Ideen und Vorlieben erschaffen zu sein. "Ich bin aus dem Süden... Ich bin sehr südlich," wiederholt er gefühlsbetont und nennt seine Nachbarschaft: Avellaneda, Sarandí [im Süden des Großraumes Buenos Aires] - er stellt außerdem klar, daß er "zufällig" in La Plata am 27. April 1942 geboren wurde. Nachdem "niemand ein Prophet im eigenen Lande ist", wird in diesem Monat in Italien ein Buch über sein Leben veröffentlicht, das seine Geschichte als Vollblut-Tanguero erzählt, seine weltweiten Reisen und seinen einzigartigen Stil, wahrhaft reduziert [really slowed-down] und innig, der sich in sentimentalen Bildern in das Gedächtnis jener geätzt hat, die ihn jemals gesehen haben.
"In Forever Tango war ich derjenige mit dem wenigsten Applaus, aber die Menschen sind, nachdem sie mich gesehen haben, zum Weinen auf die Toilette gegangen" und später sagte er... "Die Tänze, die ich getanzt habe, sind von südlichen Charakter. Es ist der Tango, der den Duft von Gras, Erde, den Duft von dem hat, was unseres ist."
Carlos Eduardo Gávito räumt ein, so wie es aus seinem Pass hervorgeht, einige Zeit in Italien verbracht zu haben, um die Wurzeln seines Familiennamens zu ergründen, aber "es ist verwirrend. Dieser Name taucht nirgendwo auf. Möglicherweise geht dies auf Beamte bei der Einwanderung meines Großvaters zurück."

Bei ihm zu Hause und in seinem Studio (Lima Street 1100) gibt es Unmengen Photos seiner langen Karriere: im Ausland, mit unterschiedlichen Tanzpartnern, mit engen Freunden wie beispielsweise Pepito Avellaneda ... und es fällt schwer, sein Leben von seiner Kunst zu trennen, es ist ein und dasselbe.

"Für mich ist der Tango ein Gedicht. Ich habe immer gesagt, ich beginne einen Tanz mit einem Großbuchstaben, dann kommt ein Komma, dann ein Punkt-Punkt-Punkt, dann ein Fragezeichen, danach ein Ausrufezeichen, ein Akzent und ein abschließender Punkt. So tanze ich Tango, Schritt für Schritt und jede Bewegung ist ein Schritt. Jede Bewegung! Ich glaube fest daran, der Tango ist kein Tanzschritt sondern vielmehr das, was zwischen einem Schritt und dem nächsten ist, wo scheinbar nichts ist, wo die Stille wohnt, wo sich die Erinnerung befindet. Aus diesem Grunde tanze ich anders".
Silvia Rojas: Konntest Du als Kind lernen oder musstest Du schon früh arbeiten?

Carlos Gávito: Ich habe seit meiner Kindheit gearbeitet. Mit 7 habe ich Zeitungen auf der Straße verkauft. Ich habe bei Jahrmärkten und auf Märkten mit Pepito Avellaneda gearbeitet.

Silvia Rojas: Wie hast Du Deine Kindheit in Deiner Nachbarschaft erlebt?

Carlos Gávito: Meine Nachbarschaft? Sie war sehr arm. Um nach Hause zu kommen musste man über Pflastersteine gehen, wie über Trittsteine musste man von einem zum anderen springen um nicht in das Wasser zu fallen, das sich wie eine Lagune gesammelt hatte. Die Umgebung war voll Müll, wir nannten es "la quema" [das Verbrannte]. Aber der größte Stolz meines Lebens sind meine Eltern, Tomás Gavito (98) ein Folklore-Sänger der guten alten traditionellen, argentinisch ländlichen Art - neben anderen Geschäften und Berufen - und Pilar Gómez, (91) beide wunderbare Eltern, denen es gelungen ist, sechs Kinder in dieser Umgebung groß zu ziehen, gut ausgebildet, alle von uns haben Karriere gemacht.

Silvia Rojas: Wann warst Du Dir des Kontaktes zum Tango bewußt?

Carlos Gávito: Das ist eine gute Frage ... In der Tat, ich weiß es wirklich nicht ... Ich habe nicht realisiert, wann ich dem Tango verfiel. Ich weiß noch, ich hatte eine große Affinität zum Radio. Im Alter von 9 sagte ich zu meiner Mutter: "Ich will lernen, Bandoneón zu spielen" und dann hatte ich Unterricht über etwa vier Jahre oder so. Die Kinder in der Nachbarschaft zogen mich auf uns sagten: "Lass es, wir gehen Rock['n' Roll] tanzen." Ich aber liebte den Klang des Bandoneóns, ich bin [immer noch] Liebhaber dieses Klangs, der wie ein Weinen Dein Herz zum Klopfen bringt, er zerreisst Dein Herz, er hat den selben drückenden Schmerz wie der Tango.

Silvia Rojas: Wann fingst Du an, tanzen zu gehen?

Carlos Gávito: Ich war sehr jung... üblicherweise sprang ich über den Zaun und die hohe Mauer zwischen unserem Zuhause und dem Club der Nachbarschaft, mir die lange Hose meines Bruders leihend entfloh ich meiner Mutter. Ich sah die wirklichen Milongueros, die namenlos und nicht berühmt waren. Ich habe eine nette Anekdote: Ich war etwa acht oder neun, als ich in den Friulano Club in Sarandi ging, ich konnte kaum mit den Ellbogen die Bühne erreichen. Das Orchester begann. [Alberto] Morán und [Osvaldo] Pugliese tauschten Blicke und in einem Moment beugte sich [Alberto] Morán herunter und streichelte meinen Kopf, ich realisierte, daß er weinte. Vielleicht ist das der Moment, als für mich der Tango begann.
Gávito wurde dann ein professioneller Tänzer. Er war Bühnenarbeiter am Theatro Nacional für vier Jahre, er arbeitete mit Nélida Roca, Susana Brunetti, "aber als ich nichts hatte, arbeitete ich als Tellerwäscher als ich im Ausland war, um meine neugeborene Tochter zu ernähren und ich täte es wieder weil es sich lohnt ein Opfer zu bringen."
Silvia Rojas: Du hast Dein eigenes Konzept. Wie sollten Deiner Meinung nach neue Tänzer beeinflusst werden?

Carlos Gávito: Sie sollten mit ihren Gedanken bei sich bleiben anstatt bei Äußerem. Gefühle müssen nicht externalisiert werden, sie externalisieren sich auf natürliche Weise selbst.

Silvia Rojas: Werden sie schlecht unterrichtet?

Carlos Gávito: Ja, ich sage es mit all meinen Worten. Zunächst einmal, weil viele ihren Beruf gewechselt haben von irgend etwas um Tango zu unterrichten - heutzutage ist Tango Marketing. Jetzt sage ich ihnen: Bitte bedenkt, es ist unser Erbe. Ich bin sehr argentinisch und es macht mich wütend. Ich habe keine Angst, über Dinge klar zu reden. Unser Erbe sollte nicht verschleudert werden, nicht für persönliche Bereicherung oder Befriedigung, es kann nicht verkauft werden. Und wenn wir es schon an Ausländer verkaufen, dann sollten wir es gut machen.

Silvia Rojas: Was ist der echte Tango...?

Carlos Gávito: Entweder ist es Tango, oder es ist kein Tango. Verzeiht mir, ihr Groupies, ihr jungen Leute, aber ich glaube nicht an Narcotango. Ich erwähne sie, weil sie genau den gleichen musikalischen Wert hätten, wenn sie sich dem Tango gewidmet hätten. Es wäre wundervoll gewesen, wenn es eine Nachfolge gäbe, aber so wie es ist, verlieren wir, weil sie neue Namen erfinden wollen in einer Zeit, in der der Tango das nicht braucht. Lasst doch die Dinge so wie sie sind, erfindet irgend etwas anderes, ich weiß nicht... Mamborambo oder was-weiß-ich...

Silvia Rojas: Und Entwicklung ... ?

Carlos Gávito: Ja, aber "im" Tango. Ich tanze nicht wie El Cachafaz und [Aníbal] Troilo spielte nicht wie [Francisco] Canaro, es gab eine gewaltige Entwicklung. Und sogar [Astor] Piazzolla hat gesagt: "Ich spiele die Musik aus Buenos Aires". Warum machen sie Musik, die nicht einmal den Namen Tango trägt, der sie einen Rhythmus geben, der nicht der Zweivierteltakt des Tangos ist. Der Zweivierteltakt ist nicht mehr zu hören. Und so ergeht es dem Tanz auch.

Silvia Rojas: Tanzen oder lernen sie schlecht?

Carlos Gávito: Sie tanzen gut, sie haben eine Menge Technik, sie tanzen Ganchos hier, Ganchos dort... eine enorme Raserei und plötzlich, weil ein Violinsolo kommt, nimmt er die Frau in seine Arme und küsst sie. Das ist eine gewaltige Lüge! Man kann nicht mit dem Brecheisen aufeinander losgehen um anschließend kleine Küsse zu verteilen.

Silvia Rojas: Aber es gibt ein paar gute Beispiele...

Carlos Gávito: Javier [Rodriguez] und Geraldine [Rojas] sind ein Beispiel in dieser neuen Ära. Trotz ihrer Jugend haben sie Reife.

Silvia Rojas: Chicho Frúmboli?

Carlos Gávito: Er tanzt einen Tango, der nicht zu seiner Reife passt. Er reifte früher und als er zu Puglieses Musik tanzte, dachte ich, seine Improvisation ist sensationell, seine Kreativität fabelhaft, aber jetzt... Es ist eine neue Formel, die Gustavo Naveira geschaffen hat, ein großer Tänzer und ein exzellenter Choreograph, aber sie suchen einen Tango, der nicht vom Gefühl sondern von der Bewegung kommt. Das ist der Grund, warum ich keine Schritte tanze, ich tanze Gefühle, ich bewege mich frei wie ein Vogel. Ich bin nicht an irgendeine Erinnerung gebunden, das würde mich zu einem Computer machen.

Silvia Rojas: Ist es das, was mit den meisten Tänzern passiert?

Carlos Gávito: Ohne es zu merken, haben sie sich selbst in Computer verwandelt. Ich behaupte nicht, daß wir keine Bewegungen, Figuren, Schritte machen sollten aber man sollte es peinlichst vermeiden, daß diese im Tanz das überwiegen, was im Inneren ist. Das Gehen ist nicht die choreographische Phase, es ist im Gedächtnis, es ist so als wäre das Bewußtsein gefroren, es sollte nicht mehr als Erinnerung an eine Bewegung sein und nicht das, was sie ausmacht, das sollte ein Gefühl sein. Das ist der Punkt an dem alle flüchten, an dem sie an den Rand abdriften, an dem sie ihren eigenen Wert verlieren. Ich habe keine Zweifel, daß Naveira und Chicho ihren Wert und ihre Kreativität haben. Ich würde ihnen gerne sagen: "Geht schlafen und dann tanzt! ... so wie ihr es fühlt, aber ohne euch vom Tango zu entfernen". Ich würde ihnen gerne sagen: "Es tut mir leid, aber wenn es wahr ist, daß der Tango ein trauriges Gefühl ist, das wir tanzen, dann bedeutet das, es ist Emotion - keine Bewegung. Analysiert es, denkt darüber nach, beschimpft mich, sagt mir, was ihr wollt, aber denkt darüber nach. Ihr werdet sehen, daß ich nicht so falsch liege". Ihren besten Tango tanzen sie, wenn er bemerkbar nicht einstudiert ist, nicht dargestellt.

Silvia Rojas: Naveira hat mir erzählt, Argentinier wüssten nicht, was mit dem Tango passiert.

Carlos Gávito: Es ist wahr. Es ist vielleicht kein Tanz der Massen. Es ist kein Tanz, der so populär wird, wie er war. Er wird mehr und mehr elitär. Warum? Weil es schwierig ist, ihn zu tanzen.
In [der Show] Forever Tango war ich immer der mit dem wenigsten Applaus, aber als ich aufgehört habe zu tanzen, gingen die Leute zur Toilette um zu weinen. Was bevorzugst Du: Zu fühlen oder zu schauspielern [im Englischen: exploit]?
Sentimentalität wird als Schwäche betrachtet, aber wir sind alle menschlich. Natürlich können wir das Gesicht eines smarten Menschen aufsetzen, aber im Inneren sind wir schwach, Gefühle zerreißen uns, wir können an Traurigkeit zugrunde gehen, nicht an Fröhlichkeit.

Silvia Rojas: Was war der schmerzvollste Moment in Deinem Leben in der Milonga?

Carlos Gávito: Es gab viele. Ich sehe schlechtes Tanzen und für mich ist es etwas Obszönes; ein Mangel an Respekt für diejenigen, die den Tango lieben. Und ich unterscheide zwischen dem Bühnentango und dem sozialen Tango.

Silvia Rojas: Hattest Du viele Lieben in der Milonga?

Carlos Gávito: Ja, viele! Manchmal gegenseitig, manchmal unerwidert. Zu Zeiten ist es eine leidenschaftliche Liebesbeziehung. Ich bin einem Blick erlegen, der eine Zärtlichkeit sein konnte. Ich war zweimal verheiratet - beide Male mit Tänzerinnen.

Silvia Rojas: Hat die Milonga ihre eigenen Regeln und Romanzen?

Carlos Gávito: Ich sage, wenn Du Dich verlieben und heiraten willst, dann gehe nicht zur Milonga. Und wenn Du verheiratet bist, dann musst Du sehr vorsichtig sein, die Beziehung nicht zu zerstören weil die Milonga neue Gefühle bringt, Du erkennst, daß Du nicht so alt bist oder sie erzeugt die Begeisterung einen Menschen zu finden und zu sagen: Wie kann es sein, daß so viele Jahre meines Lebens verloren gingen und ich Dich nicht gefunden habe? Und hier wird es gefährlich. Es ist ein Spiel und es sollte kein Spiel sein. Es sollte ein Gefühl sein. Wenn Du mit Deiner Ehefrau gehst, dann nimm sie in den Arm und erkenne, daß die Beziehung heute beginnt. Das ist die Umarmung. Diese Umarmung fehlt in unserer Gesellschaft.

Silvia Rojas: Bist Du gerade verheiratet?

Carlos Gávito, Helen Cambell
Carlos Gávito mit Helen Cambell
via: La Milonga argentina
Carlos Gávito: Nein, geschieden! Ich habe eine Tochter, Eva Carolina, im Alter von 17, sie wurde in Großbritannien geboren und lebt jetzt dort in Schottland mit ihrer Mutter, Helen Cambell, sie ist sehr schottisch. Ich war kurz davor, im Kilt zu heiraten, ich wollte ihn aber nicht anziehen (er lächelt).

Silvia Rojas: Und Deine erste Frau?

Carlos Gávito: Mirta, wir waren 17 Jahre verheiratet, wir tanzten unseren [Lebens-]Weg drei- oder viermal um die Welt.

Silvia Rojas: Vorhin hast Du über die Chemie in Paaren gesprochen... das ist ein Rätsel.

Carlos Gávito, Marcela Durán
Carlos Gávito mit Marcela Durán
via: La Milonga argentina
Carlos Gávito: Einen Partner zu wechseln ist wie ein Wechsel Deiner Art zu leben und zu sein. Jedesmal, wenn Du Deine Beziehung wechselst, verändert sich Deine Persönlichkeit. Unabhängig davon, ob man sich mag, oder ob es eine Tanzbeziehung ist. Ein Beweis dafür war das Ballet-Paar Margot Fonteyn und Nureyev: man konnte sie auf der Bühne sehen und es war Liebe verkleidet als Tanz. Mit Mirta hatte ich Geschwindigkeit, Kraft und Jugend, Begeisterung, Opfer - es kostete mich nichts. Dann kam meine zweite Ehepartnerin, Helen, eine Tänzerin im königlichen Ballet. Es war Ernsthaftigkeit und Professionalität. Es hat mich Tränen gekostet, sie zu unterrichten, weil sie sich weigerte, meinen improvisierten Stil zu akzeptieren... Danach kam Marcelita (Durán), eine Explosion - die Chemie stimmte von Beginn an. Ich traf sie, als ich eine Milonga in London hatte und sie auf Tour mit Forever Tango war. Wir tourten für sieben Jahre durch die Welt. Diese Beziehung repräsentierte den Anspruch an etwas, das man im Leben sucht und ohne Not findet weil es nie mehr sein sollte, als der Tanz. Der Tanz war viel stärker als die persönliche Beziehung.

Silvia Rojas: Und Maria (Plazaola)?

Carlos Gávito: Ich habe vor drei Jahren begonnen mit Maria zu tanzen. Sie ist sehr jung für mich und so musste ich meinem Tanz ein anderes Aussehen, einen anderen Charakter geben. Und so kam es zum Wechsel vom Gefühlvollen und Leidenschaftlichen, wie es mit Marcela war, hin zur Genialität und Klarheit, die ich heute mit Maria habe. Die Umarmung ist anders, das Aussehen. Sie ist eine reizende Frau, aber ich sehe, sie könnte meine Tochter sein. Das ist eine andere Form der Zuneigung, es ist die Zärtlichkeit mit dem äußeren Teil der Hand (er macht eine Geste mit der Hand).

Silvia Rojas: Warum gibt es so viele Divergenzen zwischen Tänzern?

Carlos Gávito: Weil wir alle an der Spitze sein wollen, niemand von uns will Platz drei oder vier. Und die Ereignisse kommen, wenn sie verdient wurden, andernfalls besetzt Du fälschlicherweise eine Platz, der nicht Deiner ist. Als Gávito auf Platz Eins gesetzt wurde, war ich beschämt, weil ich nicht den Wettbewerb wollte, so wie ich für niemanden der Wettbewerber war. Ich bin Gávito, das ist alles.

Silvia Rojas: Was sind Deine größten Bedenken als Lehrer?

Carlos Gávito: Jezt unterrichte ich keine Schritte mehr, ich unterrichte, wie man es vermeidet, mit anderen in der Milonga zusammen zu stoßen. Mache was Du willst, aber kollidiere nicht mit anderen - Bitte! Es macht das Ausgehen um zu tanzen unerfreulich. Und es wird jeden Tag schlimmer, solange wir Lehrer nicht kritischer werden und aufhören Schritte zu unterrichten, die in der Milonga nicht getanzt werden können. Lasst die Ganchos und Kicks dem Bühnentango. Menschen gehen in die Milonga um zu genießen, nicht zu leiden. Es gibt Frauen die lassen Dich leiden, weil sie für sich tanzen. Sie achten nicht auf die Führung, und die Umarmung ist der Tango, die Füße sein Vokabular.

Silvia Rojas: Ich kann mir vorstellen, daß Deine gesundheitlichen Probleme Dein Leben gravierend beeinflussen. Magst Du darüber sprechen?

Carlos Gávito: Du kannst es ruhig dazu nehmen, das erschreckt mich nicht. Sie sind die Konsequenzen des Lebens, einige haben schlechte Zähne, andere Rheuma und ich habe halt Krebs. Einen haben sie mir erfolgreich aus dem Hirn entfernt, das ist vorbei. Ein anderer sitzt in der Lunge. Ich finde es schon ein wenig schwierig und ich kann nicht mehr Milonga tanzen weil es mich zu sehr anstrengt. Aber schau' Dir einmal [Roberto] Rufino an, mit nur einem Lungenflügel war er der beste Tangosänger. Alles ist möglich! Meine Empfindungen sind viel stärker als das Wissen, daß ich eine finale Krankheit habe. Ich bin 62 und ich bin im Begriff ein paar Worte zu sagen: Gott sei Dank hat mich der Tod so viel [er-]leben lassen.

Das Interview gibt es online in der spanischen Originalversion, in der englischen Übersetzung und in einer zweisprachigen Fassung im PDF der Printausgabe. Für eine kritische Durchsicht der Übersetzung und geduldiges Gegenlesen mit der spanischen Fassung (inkl. Korrekturen) bedanke ich mich herzlichst bei Monika Diaz aus Zürich.



Abschließend bleibt mir nur, Silvia Rojas für die Genehmigung zur Veröffentlichung der Übersetzung herzlichst zu danken. Auch wenn das Interview schon ein paar Jahre alt ist, so denke ich doch, es ist aktueller denn je; ich kann fast jeden Satz von dem großen Milonguero nachvollziehen bzw. unterschreiben. Es ist fast so, als bestünden die Grundprobleme im Tango dauerhaft.

Wer nach der Lektüre diese Interviews noch weitere Ideen von Carlos Gávito lesen möchte, der findet in einem weiteren Beitrag in diesem Blog ein anderes Interview mit Carlos Gávito.

9 Anmerkung(en):

Promisc hat gesagt…

Ein Interview in welchem ich so vieles wiederfand - Chapeau für diesen Mann!

Und vielen Dank für die sicherlich nicht leichte Übersetzung, aber auch chon für den Entschluss, dies anzugreifen :-)

Milonguera hat gesagt…

Man muss sich an Deinen Rhytmus schon gewöhnen. :) Erst wochenlanges Schweigen und dann das! Herzlichen Dank dafür.

Für mich ist es noch einmal die Bestätigung meiner Ansichten und es ist schon besonders, dass das Interview einige Jahre alt ist. Man könnte meinen, Herr Gavito war neulich auf einer Milonga in unserer Region.

Wichtig ist für mich der Gedanke, dass Tango eben kein Marketing ist und das es ein erheblicher Unterschied ist, ob die Bewegung oder das Gefühl die treibende Kraft im eigenen Tango ist.

Und wie Recht er doch hat! Zuerst sollten Lehrer darauf achten, dass ihre Schüler nicht mit anderen in der Milonga kollidieren!

Liebe Grüße

B. G. hat gesagt…

Es ist eine der Stärken dieses Blogs, dass hier auch die Meinungen Eingang finden, die jenseits vom Spaß & Fun Tango für etwas mehr Ernsthaftigkeit und Sorgfalt plädieren. Dieses Interview ist wieder einmal ein Beleg dafür. Ich erinnere mich auch an die Auszüge aus dem Interview mit Chicho oder die Sternstunde vom bewegungs- bzw. umarmungsfokussierten Tango...

Danke und weiter so...

Anonym hat gesagt…

Auch ich kannte das Interview noch nicht. Beim Lesen wurde ich traurig. Wie kann es sein, dass sich in den letzten Jahren kaum etwas geändert hat? Ich finde es wichtig, von Zeit zu Zeit diese Gedanken immer wieder hervor zu holen, aber ich habe eigentlich kaum noch Hoffnung, dass sich etwas ändert. Erst unlängst habe ich in einer Milonga wieder mitansehen dürfen, wie die örtlichen Lehrer eine derartige Show veranstaltet haben, die Schüler versuchten, es ihnen gleich zu tun und das ganze artete in einen hektischen Wettbewerb auf. Ich war richtig traurig.

Irgendwelche Ideen?

wirklicher Tangotänzer hat gesagt…

So ists Recht! Das Zentralorgan eines verstaubten und freudlosen Tangos hat mal wieder gesprochen und die Tangowelt klebt an diesen Worten.

Leute, lernt endlich tanzen! Dann müsst ihr euch nicht mit den Gedanken von Menschen befassen, die längst tot sind.

bird hat gesagt…

Hi wirklicher Tangotänzer,

was, findest du, ist an dem von Carlos Gávito Beschriebenen verstaubt und freudlos ?
Eine so allgemein verfasste Kritik, wie dein Kommentar, trägt leider nicht zum Leben eines Blogs wie diesem bei. Schade.

Anonym hat gesagt…

http://www.youtube.com/watch?v=v8nSaydD3s8

Ein Gutes Neues!
Kerstin

Anonym hat gesagt…

Vielen Dank für das interviev mit Gavito ( ich kenne den namen nur mir der betonung auf dem i )!
In dem - Vielleicht - berühmtesten Video von ihm (oben) ist er weiss Gott nicht filigran, aber das GEFÜHL was er tanzen möchte " eroberung, macho, unterwerfung, widerstand. verschmelzung, ist gewiss bis in die letzte reihe durchgedrungen. Grosses Teater - das er genauso beherrscht hat wie das quasi bewegungslose " pausenaustanzen"
Ein ganz GROSSER!
Kerstin

Promisc hat gesagt…

@'wirklicher Tangotänzer'

"...und freudlosen Tangos..."
"Leute, lernt endlich tanzen!"

So klingt es, wenn man Tango Argentino nicht versteht. Wenn man zwar eventuell Haltung, Takt und Schritte beherrscht und Tango als AussenwirkungsTanzsport versteht - aber eben nicht als eine ganzheitliche, in sich ruhende, abgeschlossen-runde, über 150 Jahre gewachsene und langsam aber stetig sich weiterentwickelnde Kultur unter Achtung der kulturellen Wurzeln.

Nennt von mir aus diesen Sport Tangaerobics und die Tanzabende Happenings - aber bitte nicht Tango Argentino und Milongas.