Nachdem mein Beitrag über den wundervollen Tango von Tanturi und Castillo vom Montag so überhaupt nicht kommentiert wurde, darf ich ja vielleicht einmal wieder zu einem abstrakteren Thema schreiben...
Vor meinem geistigen Auge tauchen schon die Kommentare zu diesem Beitrag auf: "Thema verfehlt", oder zumindest: "Zu weit hergeholt"; so oder ähnlich wird es vermutlich zu lesen sein. Ich habe in den letzten Tagen sehr intensiv die Diskussion um den sog. Staatstrojaner verfolgt und in der Diskussion (die mir übrigens nicht weit genug ging) wurde die Ohnmacht der Verantwortlichen deutlich, oder aber der teilweise äußerst bizarre Versuch unternommen, die Vorgänge zu verharmlosen.
Nein, keine Sorge, ich werde jetzt nicht in die Details einsteigen. Bemerkenswert ist allerdings die Eigendynamik, die wohl der Entwicklung dieser lausigen Software zu Grunde lag. Entweder hatte da irgendein Polizeibeamter eine Allmachtsphantasie von der totalen Überwachung entwickelt, oder der Softwarehersteller hat, verliebt in seine eigene Idee, dem Schädling ein paar zusätzliche Features mitgegeben, die nach dem Stand der Dinge wohl glasklar gegen die höchstrichterlichen Vorgaben des BVerfG verstoßen. Für mich ging die öffentliche Diskussion nicht weit genug. Die Frage, warum hier im angeblich öffentlichen Interesse gegen geltendes Recht verstoßen wurde, ist nicht einmal ansatzweise diskutiert worden. Für mich ist es z.B. erstaunlich, warum noch kein Staatsanwalt (eines Bundeslandes oder des Bundes) ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt von Amts wegen eröffnet hat. Datenspionage ist schließlich eine Straftat und als solche muss man wohl den Einsatz dieser (nicht durch das verfassungsgerichtliche Urteil gedeckten) Möchtegern-Software sehen. Wenn man nun nach den Gründen für die Vorgehensweise sucht, dann kann eine mögliche Erklärung unter dem Stichwort Besitzstandswahrung subsumiert werden. Eine Gruppe von Individuen hat - so sieht es jedenfalls aus - derartige Panik vor dem Internet, daß sie scheinbar ohne Bedenken geltendes Recht verletzt. Für solche Mitmenschen ist das Internet vermutlich ein Sündenpfuhl aus überwiegend kinderpornografischen oder terroristischen Inhalten, der eine totale Überwachung zum Schutz des Gemeinwesens (oder vielleicht auch zum Erhalt der Kontrolle) erfordert.
Nun wird es sicherlich Menschen geben, die auf die Ereignisse mit dem Satz: "Ich habe doch nichts zu verbergen" reagieren. Dazu hat der Blogger Don Alphonso einen wunderbaren Blogeintrag bei der Frankfurter Allgemeinen verfasst. (Nebenbei bemerkt: Ich finde es bezeichnend, daß die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung den gesamten Vorgang in ihrem Sonntagsblatt erstmals öffentlich gemacht hat.) Was mich sehr nachdenklich macht, ist der Umstand, daß der Begriff des Grundrechtschutzes langsam aber sicher zur "Folklore" verkommt. Manche Menschen stellen ihre subjektives Rechtsempfinden offensichtlich über das geltende Recht; anders kann ich es mir nicht erklären, daß eine solche Software von Behörden eingesetzt wird.
Und wenn wir schon bei dem Begriff Besitzstandswahrung sind, dann fällt mir auch gleich die amerikanische Occupy-Wall-Street-Bewegung und die Reaktion von Teilen der Politik auf diese Bewegung ein. Bei Telepolis ist zu lesen, daß sich nun einige Republikaner zu der Äußerung haben hinreißen lassen, diese Proteste seien unamerikanisch und von Neid geprägt. Macht man sich aber einmal die Mühe und blättert ein wenig in dem sehr bewegenden Blog We are the 99 percent herum, dann liest man die Einzelschicksale (so kann ein Vollzeit arbeitender Familienvater von seinem Lohn beispielsweise nicht einmal die Krankenversichrung für sich und seine Familie bezahlen) und denkt unwillkürlich wieder an den Begriff der Besitzstandswahrung. Augenscheinlich haben wir alle aus der Bankenkrise 2008 nichts gelernt. Wir stehen (wieder einmal) an einem Punkt, an dem die Suche des frei flottierenden Kapitals nach immer besseren Renditen, das System u.U. kolabieren lässt. Soziale Dimensionen der Krise werden (wenn überhaupt) nur nachrangig betrachtet. Das Attribut systemrelevant hat da einen deutlich höheren Stellenwert. Und auch bei diesem Thema kann man wieder argumentieren, daß aus dem Beweggrund: Besitzstandswahrung das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft heimlich entsorgt wird. Es verkommt (allerdings schon seit Jahren) zur Dekoration bzw. Folklore.
In beiden Fällen ist mit dem Fokussieren auf Besitzstandswahrung den ursprünglichen Experten die Kompetenz verlorengegangen - Protest formiert sich.
Und wenn ich das jetzt einmal in den Tango übertrage, dann denke ich unwillkürlich an einen jüngeren Blogeintrag von Melina (die Einzelheiten sind dort nachzulesen). Im Tango gibt es also auch so etwas wie Besitzstandswahrung (vielleicht nicht nur materiell). Und dafür muss man nicht einmal auf die Prominenten schauen; es passiert jeden Tag... überall. Da werden beispielsweise Menschen zu Tangolehrern, die ein sehr besonderes Verständnis vom Tango haben. Milongas werden zu events ausgebaut und weil es manchen in den Kram passt, wird musikalisch so ungefähr jede Merkwürdigkeit als Tango vermarktet, die sich finden lässt.
Der einzig tröstliche Aspekt ist, daß sich vermutlich auch dagegen Protest formieren wird.
Ich hatte heute vormittag nur nervige Detailarbeit, da musste ich zur Entspannung in der Mittagspause bloggen. Und es gibt wie immer den Hinweis, daß es sich um meine höchst subjektive Meinung handelt; man kann das durchaus auch anders sehen... muss es aber nicht. ;-)
8 Anmerkung(en):
Mir gefällt es, wenn Du auch mal zu anderen Themen schreibst, wenn Du hin und wieder zeigst, dass es in Deinem Leben nicht nur Tango gibt. Und gerade bei diesem Thema habe ich ehrlich gesagt schon ein wenig darauf gewartet, dass Du Dich zu Wort melden würdest.
Allerdings wird mir noch nicht ganz klar, worauf Du hinauswillst. Du schreibst:
"Wenn man nun nach den Gründen für die Vorgehensweise sucht, dann kann eine mögliche Erklärung unter dem Stichwort Besitzstandswahrung subsumiert werden."
Wessen Vorgehensweise meinst Du hier? Die des/der Polizeibeamten, der/die eine solche Software einsetzen? Die des Softwareherstellers, der Features mit einbaut, die über einen verfassungsgemäßen Einsatz weit hinausgehen? Oder die der Justiz, die nicht ermittelt? Und welche Besitzstände sollen bewahrt werden? Geht es überhaupt um Bewahrung? Dieser Trojaner ist ja ein ziemlich neues Phänomen - müsste man da nicht von Erweiterung der Besitzstände sprechen?
Was mir auch nicht ganz klar wird, ist der Bezug zum Tango. Wessen Besitzstände meinst Du hier? Die der Tangolehrer und -veranstalter? Und wenn ja, worin bestehen die im nicht materiellen Sinn? In der Deutungshoheit, was Tango ist?
[Oho! Es gibt doch eine Leserin ;-) ]
Hallo Lydia,
schön, daß Du kommentierst. Ich will versuchen, Deine Fragen zu beantworten. Für mein Empfinden ist es wenig hilfreich, wenn man den handelnden Akteuren nachhaltige Bösartigkeit unterstellt. Das trifft bestimmt nicht die Situation. Ich denke, diese Menschen (seien es nun die Beamten oder auch die Softwareentwickler) fühlten sich im Recht. Warum? Vielleicht, weil sie gemeint haben, irgendein höheres Gut zu schützen (vielleicht die FGDO = freiheitlich demokratische Grundordnung). Diese höhere Ziel rechtfertig ihrer Meinung nach ihr (wahrscheinlich illegales) Handeln.
Ich habe den (ursprüngl. arbeitsrechtl.) Begriff Besitzstandswahrung verwendet, weil ich denke, er trifft die Motivation jener Menschen ganz gut. Es geht um den Erhalt von Privilegien für eine Gruppe/Schicht/etc. Diese Privilegien können immateriell sein oder es eben doch um Geld... Da ist dann der Berührungspunkt zu den Akteuren der Finanzkrise. Den häßlichen Bänker gibt es so vermutlich nicht. Er arbeitet vielmehr äußerst fleißig, redlich, systemkonform und bedient einen Markt. Vielleicht geht er sogar jeden Sonntag in die Kirche. Vermutlich wird er in einem Gespräch sagen, er müsse so handeln (aufgrund der Globalisierung und entsprechender Kundenwünsche).
Wird jetzt die Verwendung des Wortes Besitzstandswahrung irgendwie nachvollziehbarer?
Und übrigens: So neu ist der Trojaner gar nicht, er ist vermutlich aus handelsüblichen Trojaner-Bausätzen zusammengezimmert worden (man darf nicht vergessen, daß die Version, über die berichtet wurde schon zwei Jahre alt ist - das ist in IT-Umgebungen sehr alt). Mich hat die Enthüllung des CCC eigentlich nicht überrascht. Ein wenig erstaunt war ich angesichts des schier unglaublichen Dilettantismus' bei der Implementierung. Irgendwo geisterte die Summe von 15.000 Euro als Honorar für diese Leistung durch das Netz. Das ist kräftig.
Im Tango gibt es ebnso Besitzstände. Vielleicht gibt es irgendwo in der Provinz gräßlichen Anfänger-Unterricht, der schon Generationen von Tango-Interessierten vorher nachhaltig abgeschreckt hat, jemals wieder beim Tango aufzutauchen. Oder... oder...
Ich will nicht in eine Definitions- oder Deutungsdebatte, ich denke jede/jeder, die/der einige Jahre beim Tango ist, weiß, wann es Tango ist und wann es eben kein Tango mehr ist (sondern: Folklore, Dekoration, Geldschneiderei, Ego-Booster etc.)
Wie, sind wir hier ganz unter uns ;-)?
Vielen Dank jedenfalls für die ausführliche Antwort auf meine Fragen. Besitzstandswahrung kannte ich nicht als juristischen Begriff; so langsam verstehe ich, worauf Du hinauswillst.
Was Du im ersten Kommentar-Absatz schreibst, dass dahinter die besten Absichten sehen mögen, kann ich mir auch gut vorstellen. Wie der Polizeibeamte, der dem Kindsentführer Folter androhte - was ja dann nicht nur an Stammtischen Zustimmung fand.
Bei dem Banker spielen wahrscheinlich noch vor Globalisierung und Kundenwünschen der Druck von oben (wenn er nicht gerade im Vorstand sitzt) und die Angst um den Job eine Rolle.
Und die Tangoleute meinen es wahrscheinlich auch nur gut, wenn sie ganz viel in den Tango reinpacken, seien es Figuren oder sonstiges Beiwerk.
Aber ob ich weiß, was Tango ist und was nicht? Ich würd nicht meine Hand ins Feuer legen. Zu oft haben sich die Definitionsgrenzen schon verschoben - in ganz verschiedene Richtungen.
Lieber Cassiel,
Du kennst meine Abneigung gegen Non-Tango-Themen. Aber hierzu möchte ich nicht versäumen, Dir und allen anderen Interessierten einen Aufsatz von Dr.jur. Denis Basak in der Legal Tribune Online ans Herz zu legen, Thema "Strafbare Strafverfolger". Dort ist aus rechtlicher Sicht wohl alles abgehandelt, was es zu diesem Vorfall zu sagen gibt.
Die Strafverfolgung im Allgemeinen ist die Aufgabe nun ausgerechnet derer, die sich hier im Besonderen möglicherweise strafbar gemacht haben. Täter und Ankläger in einem? Man kann sich den Ausgang solcher "Strafverfolgung" vorstellen.
Zum ökonomischen Teil deines Beitrages kann ich hier aus zeitlichen Gründen nicht Stellung nehmen, ist jedenfalls ein wahnsinnig interessantes Thema.
P.S. Ich mag die von Dir vorgestellte Musik sehr gerne, weiß nur nichts dazu zu sagen.
Lieber Cassiel
Ja, Du triffst den Nagel auf den Kopf. Ein weiteres Bausteinchen, das unter der naiven Aussage "Privatsphäre wird sowieso überbewertet" läuft, wie jemand mir sagte, der meine Abneigung gegen Facebook so gar nicht begreifen konnte.
In diesem Zusammenhang frage ich mich auch, ob in all den enthusiastischen Elogen zum Ableben von Steve Jobs irgendwann noch die kritische Anmerkung das Tageslicht erblickt, dass Apple nicht nur schicke Gadgets verkauft, sondern auch an allem und jedem Content mitverdient, der darüber verbreitet wird und implizit die Möglichkeit hat, diesen Content zu beeinflussen bzw. zumindest zu steuern, was verbreitet wird...
laut Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) "Wem die Rechtslage unklar ist, der muss sie klar stellen" - Na dann, viel Glück beim der Klarstellen
(Zitat Frankfurter Allgemeine)
Hallo Cassiel,
zunächst zu der fehlenden Anmerkung zu deinen Tangobeiträgen.
Ich bin nicht so firm in den ganzen Tangostücken als dass ich da qualifiziert urteilen könnte.
Ich lese deine Tangobeiträge durchaus und höre mir auch die Stücke an, viel dazu sagen kann ich aber nicht.
Was ich ab und an in den Kommentaren finde und für mich nutze sind die Hinweise, welche weiteren Stücke und CDs es vom jeweiligen Künstler gibt.
Das wäre etwas, was ich ich nett fände, wenn es Eingang in deine Musikbeiträge fände - Empfehlenswerte CDs und ggf auch Warnungen (z.B. bei übersteuerten Neupressungen) für den Einsteiger in das Thema.
Vielleicht ja als Extrabeitragsreihe zum Thema "Aufbau einer eigenen Tangosammlung" - 1. Basisausstattung, 2. Erweiterung, 3. Vervollständigung, 4. Überblick behalten
Nun zum Thema der Besitzstandswahrung im Tango:
Dass es so viele Tangolehrer gibt und darunter etliche mit einem sehr "besonderen" Tangoverständnis (wie du dich ausdrückst) ist zunächst mal positiv, denn es zeigt, dass der Markt da ist. Es gibt also viele Tangotänzer/-innen und zum Glück haben nicht alle ein und denselben Geschmack.
Dass unterschiedliche Stile unterrichtet werden ist positiv und nichts schlechtes. Negativ ist, wenn die Lehrer kein Wort dazu verlieren, wie es sich mit der Rücksichtnahme und der Anpassung an die jeweilige Situation auf der Tanzfläche verhält. Hier gab es schon Kurse zu "Tanzen bei beengten Verhältnissen".
Wenn sich dann Tänzer nicht passend verhalten und wilde, raumgreifende Figuren bei vollem Parkett durchdrücken ist das etwas, wo auch der Veranstalter gefragt ist, den Leuten die gelbe und ggf. rote Karte zu zeigen.
Sich selbst darin weiter zu entwickeln, dass man auf engem Raum tanzen kann, ist eine Aufgabe, die man auch nur persönlich annehmen kann. Dazu ist die Beherrschung der Grundlagen (Achse, Richtung, klare Kommunikation...) wichtig und leider sind bei entsprechenden Kursen häufig nur wenige Teilnehmer zu finden.
Hier gibt es also auch keinen alleinig Schuldigen, dessen Besserung die Situation insgesamt drastisch verbessern würde.
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