Dienstag, 18. Oktober 2011

Für die neue Woche 123: Aníbal Troilo, Francisco Fiorentino - El encopao

Mit einer kleinen Verzögerung gibt es jetzt den Tango für die neue Woche. Diese Woche habe ich eine Komposition von Osvaldo Pugliese (Text: Enrique Dizeo) aus dem Jahr 1942 ausgesucht. El encopao ist der resignierende Monolog eines Alkoholikers, dem sein Umfeld gleichgültig geworden ist. Und... welch eine Überraschung; Schuld ist mal wieder eine Frau. :-(

Ich möchte zwei Einspielungen dieses Tangos aus dem Jahr 1942 gegenüberstellen. Da wäre zunächst die Version von Aníbal Troilo mit Francisco Fiorentino und im Vergleich dazu die Version von Enrique Rodríguez mit Armando Moreno als Sänger.

Ich kann mich fast nicht entscheiden, welche Interpretation mir besser gefällt. Rodríguez ist sicherlich "erdiger" und der Dialog von Troílo (mit dem Bandoneon) und Fiorentino wirkt künstlerischer, fast atemberaubend.

Aníbal Troilo (Francisco Fiorentino) eine Aufnahme vom 1. September 1942

Direkter Link zum Titel bei goear.com.

Enrique Rodríguez (Armando Moreno) eine Aufnahme vom 22. Oktober 1942

Direkter Link zum Titel bei goear.com.

Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich eine gute Woche.

17 Anmerkung(en):

Cinderella hat gesagt…

Wunderbar, Cassiel. Vor allem dass Rodriguez mit Armando Moreno dabei ist. (Hatte neulich schonmal kommentiert, dass die für mich untrennbar miteinander verknüpft sind.) Troilo mit Francisco Fiorentino hat dagegen keine Chance, finde ich.
Danke!

Uralt hat gesagt…

Beides sind natürlich sehr schöne Aufnahmen. Es kommt auf die Situation an, wann welche Aufnahme bei mir bevorzugt würde. Eine Tanda von Rodriguez kann man nach meiner Meinung mit fast jeder anderen Musik kombinieren. Die Musik ist immer sehr gut tanzbar, solide gespielt, auch gut gesungen. Aber im Vergleich mit dem brillanten Arrangement von Troilo, das auch noch sehr dynamisch gespielt wird, ist es eben "einfache" Musik.
Es wird hier jede Woche wunderbare Musik vorgestellt und jede/ jeder kann dazu seine Gefühle und Meinung kundtun. Aber offenbar ist es reizvoller über ein kleines Festival zu schreiben, an dem die meisten gar nicht teilgenommen haben. Das finde ich schade.

Theresa hat gesagt…

Danke Cassiel, für das wunderbare Stück und die interessante Gegenüberstellung.

Also, ich kann "El encopao" von Rodríguez hören und es gefällt mir und macht Lust zum Tanzen, und danach höre ich die Troilo-Fassung und bin begeistert. Umgekehrt geht es nicht. Mit der Troilo-Fassung im Kopf nehme ich wahr, wie in der Rodríguez-Fassung Feinheiten eingeebnet sind, ich höre gleichförmige Figuren statt atemberaubender Expressivität, es fehlen die feinen Verzögerungen, das Schweben des Gesangs, der Dialog mit dem Orchester. "Música cuadrada", für sich nett und fetzig zum Tanzen, aber - nach Troilo mag ich es zumindest nicht mehr zum Zuhören. Bei Rodríguez klingt das Stück fröhlich, bei Troilo zugleich melancholisch und dramatisch.

Ein noch krasseres Beispiel für diesen Kontrast zwischen Troilo und Rodríguez ist "Suerte loca".

Ich bekenne hiermit, dass ich als DJ "tendenziös" bin und genau wegen der hier benannten Unterschiede nur wenig Rodríguez (und fast gar nicht de Angelis) auflege.

Theresa

P.S. Ich entdecke garade den späten Rodríguez, da ist es ein bisschen anders. Kann mich aber dazu noch nicht fundiert äußern.

Austin hat gesagt…

Mir gefällt der Gesang bei Rodriguez besser, weil der Sänger mehr Klangfarben einsetzt. Im Vergleich dazu finde ich den Sänger bei Troilo etwas zu operal/tenoral. Das erzeugt eine Dramatik, die ich bei Rodriguez überhaupt nicht vermisse. Freilich ist das Jammern auf hohem Niveau, denn das ist ein tolles Stück Musik und beide Interpretationen finde ich stimmig und hochgradig zum Tanzen anregend.

(auch wenn ich mich das kaum zu schreiben traue, angesichts der klaren Meinung von Theresa, und das ist schließlich nicht irgendwer)

Theresa hat gesagt…

@Austin:

Na du hast es dich zum Glück doch getraut! Wir reden ja über Geschmacksfragen, da kann man sich detailliert äußern, aber recht behalten gibts nicht.

Theresa

Theresa hat gesagt…

Ach ja, noch was zu Austin.

Die Dramatik, die in der Troilo/Fiorentino-Fassung erzeugt wird, ist dem Text angemessen. Cassiel hat es ja schon charakterisiert, es ist der Alkoholiker, der die Frau für sein Schicksal anklagt: er "muss" sich kaputtmachen, weil sie ihn verlassen hat. Das ist eine beliebte Figur im Tango, und man kann das eine schreckliche Attitüde finden; aber der Ausdruck in der Troilo-Fassung passt genau dazu, während die Rodríguez-Fassung eine ganz andere Stimmung vermittelt.

Theresa

Cinderella hat gesagt…

Jetzt komme mir etwas stümperhaft und vor allem allein mit meiner Meinung vor bei den anderen, sicherlich fundierteren Meinungen, die ich hier finde (vgl. Theresa). Ich tanze seit fast 15 Jahren, habe aber, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, erst relativ spät angefangen mich mit der Musik intensiver auseinanderzusetzen und bewusst Musik zu hören.
Rodriguez/Moreno ist ein Dreamteam für mich. Ich mag auch de Angelis. Warum sie hier als 'einfache' Musik bezeichnet werden (bei de Angelis war das auch schonmal so), verstehe ich nicht ganz. Dazu fehlt mir wohl das Fachwissen oder -verständnis. Kann mir das mal einer erklären?

Unknown hat gesagt…

@Theresa
Meinst du mit „späten Rodríguez“ Rodríguez ab 1944 mit Cupo (Klavier) und Garza (Bando)? Damit habe ich (als Tänzer) große Probleme…

Anonym hat gesagt…

Ich finde dieser Blog ist wahnsinnig elitär und knochentrocken. Das ekelt mich an. Warum gibt es hier keine Beispiele echter Tangos, die man in den Top-Milongas von heute hört? Immer nur die schimmelnde Musik von damals.

Mach euch mal locker und geht tanzen. Mit etwas Übung klappt es dann auch bei euch.

Und Tschüss!

Tanguero hat gesagt…

@ Cinderella: Das hier ist ein schöner Vergleich von Traditionalisten und Evolutionisten. Rodriguez gehört (wie z. B. auch D'Arienzo, Donato oder De Angelis) zu ersteren: durchgängiger, immer gut erkennbarer Beat, gleichbleibende "Lautstärke", kaum Dynamikwechsel. Das ist immer gut und leicht tanzbar, auch für ungeübtere Tänzer. Troilo dagegen (Evolutionist wie auch z. B. Fresedo, De Caro, Pugliese) sehr ausgefeilt und abwechslungsreich in den oben genannten Punkten (Musiker können das bestimmt noch besser ausdrücken) und für mich mit das Schönste, was man tanzen kann, aber für ungeübte Tänzer (oder auch geübte, die das Stück nicht kennen), sehr schwierig. M. E. lebt eine gute Milonga von einer guten Mischung aus beidem.
@ Teresa: Rodriguez ist Mitte der 40er ins andere Lager abgedriftet, hat sich dann aber schnell wieder auf seinen traditionalistischen Stil besonnen, mit dem er noch bis in die 60er Jahre große Erfolge gefeiert hat, u. a. auf Tourneen durch Lateinamerika.

PacoDaCapo hat gesagt…

Cuarteto SolTango spielt auf seiner ersten CD El encopao in einer heutigen, kraftvollen und wuchtigen, aber gleichzeitig seidigen und präzisen Interpretation. Kann ich sehr empfehlen, die junge Band!

Florian hat gesagt…

Zwei grossartige Versionen, wie ich finde. Vor einem Jahr haben wir mal über Agogik gesprochen (http://tangoplauderei.blogspot.com/2010/05/fur-die-neue-woche-63-orquesta-tipica.html). Also, was Fiorentino in El encopao macht ist wohl das extremste worauf ich noch tanzen könnte. Höre zum Vergleich viermal die gleiche Stelle: erst Rodriguez ab 0:37 und 1:36 und dann Troilo ab 0:38 (eine schöne Variation) und 1:40...

Anonym hat gesagt…

Ich liebe beide Versionen und tanze gerne zu ihnen. Aber fuer mich ist auch Troilo-Fiorentino Stueck deutlich schoener, obwohl ich das fachlich gar nicht gerechtfertigen koennte, wegen mangelnder Musikanalysekenntnisse. Danke fuer die Stuecke und die interessante Diskussion.

Monika hat gesagt…

Geschmäcker sind Gott sei Dank verschieden. Ich mag beide Versionen dieses Tangos sehr gerne, sowohl zum hören als auch zum tanzen.

Rodriguez (der scheint sich für mich zum nächsten Orchester das ich "fresse" zu entwickeln - kleiner Exkurs: ich erarbeite mir die Orchester nach und nach, und das ist keineswegs bewusst, irgendein Stück eines Orchesters gefällt mir - warum auch immer - und dann wird exzessiv genau dieses (also zunächst Stück und dann Orchester) gehört. So lange bis ich's "verstanden" habe - kann mir noch jemand folgen? - Was ich sagen will: das ist keine bewusste Entscheidung von mir, es passiert einfach) ist fröhlich, sehr tanzbar, und dem Text trotzdem angemessen.

Troilo hingegen, der sich mir eigentlich durchaus noch nicht erschliesst (obwohl ich hier den grössten Troilo-Fan ever zuhause sitzen habe) ist - für mich zumindest in diesem einen Tango - grossartig. Für mich klingt sowohl das Orchester als auch Fiore hier so als ob sie immer leicht betrunken um die (Takt- oder Rythmus-) Stange kreisen würden. Nicht daneben, aber ganz knapp nicht getroffen. Vor allem Fiore. Ganz grosses Kino.

Theresa hat gesagt…

@Monika,

das mit dem Erschließen durch "Fressen" kann ich genau nachempfinden! So geht es mir auch.

Nachdem dir der besoffene Fiore gefällt - dem Thema angemessen - vielleicht "frisst" du jetzt dann bald auch Troilo? Zum Sauf-Thema empfehle ich auch Tabernero und Los mareados mit Troilo/Fiore.

@Florian: Danke für die Details!

@Sweti und Tanguero: Aus Zeitmangel kann ich momentan zu Rodríguez gar nichts sagen. Kommt noch!

Cinderella hat gesagt…

@tanguero
Danke für deine Erklärungen. Ich verstehe aber immer noch nur bedingt. Natürlich ist mir klar - spätestens beim Tanzen - dass z.B. Pugliese schwer zugänglich ist. Ich habe erst sehr spät überhaupt das Gefühl gehabt, dass ich mich dabei wohl fühlen kann. Für mich war aber z.B. D'Arienzo bisher auch eher als 'schwer' abgespeichert, Fresedo ging mir dagegen sehr leicht ins Ohr - und in die Beine. Vielleicht hat das bei mir nichts damit zu tun, ob einer Traditionalist oder Evolutionist ist. Ich muss wohl einfach noch mehr hören.
@monika
Kann dich gut verstehen. Ich fresse gerade di Sarli. :) Den habe ich aber auch erst nach langer Zeit 'entdeckt'.

Monika hat gesagt…

@Cinderella: lustig, Fresedo war mir lange Zeit zu zuckrig und süss, konnte ich garnix damit anfangen (bis ein sehr guter Tänzer an einem grossartigen Festival mich mal holte - Danke, Lieber!), mit D'Arienzo habe ich mich aber fast sofort anfreunden können, auch wenn ich erst jetzt langsam das Gefühl habe ihn adäquat auf's Parkett malen zu können.

Ich finde das sehr spannend wie ich selbst mir die Musik erschliesse und auch der offene Austausch wie andere Tänzer andere Wege gehen.

@Theresa: scheint eher Firpo zu werden der als nächstes gefressen wird, C hat mich heute mal auf eine Reise mitgenommen - grossartig. Einige Stücke zumindest. Und er bedingt ZWINGEND eine sehr gute Abhöre - also eher nicht milonga-tauglich :-(

Danke, Cassiel für diese Plattform!