Freitag, 28. Juni 2013

Leserzuschrift: Der Tango, der Tod und die Rituale

Ich bin diese Woche beruflich unterwegs und habe deswegen wenig Zeit für das Blog. Glücklicherweise ist auch die laufende Diskussion zum Thema Tango-Knigge eher gemütlich. Heute frühe erreichte mich eine Leserzuschrift mit einer interessanten Frage, die ich hier einmal öffentlich stellen möchte: Wie hält es jede/jeder Einzelne mit Ritualen? In der Leserzuschrift wird das am Beispiel eines Todesfalls diskutiert. Ich stelle hier einfach einmal diesen Meinungsaustausch zur Diskussion.


Hallo Cassiel,

danke zum Kopf hoch, aber damit hab ich keine Probleme. als freier Milonguero der keiner Gruppe angehören will bin ich eh fast immer alleine unterwegs und mache dadurch viele interessante Bekanntschaften [das bezog sich auf einen früheren Meinungsaustausch]. ein aktueller Anlass hier in der Region hat mich auf die Idee gebracht deine Meinung dazu zu erfragen… es geht um Rituale auf einer Milonga, oder wie Tänzer mit Lebensereignissen umgehen bzw. umgehen sollten. im aktuellen Fall ist regionale Persönlichkeit überraschend zu hause gestorben. seine Freunde haben gestern eine Milonga in Weiß als Trauer abgehalten, mit schwarzer Trauerschleife am Körper… etc. heute waren einige damit wieder schon unterwegs…

Der Betreiber der heutigen Milonga ist porteño und sagt das der Tod auch zum leben dazu gehört… in Buenos Aires wird aus diesem Anlass der Lieblingstango des Verstorbenen gespielt… zu dem NICHT getanzt wird, die Anwesenden applaudieren zu seinen Ehren und das Leben/Milonga geht normal weiter… er ist ja jetzt nur auf einer anderen Milonga… durch das oft hohe Alter der Tanzenden in Bs As kommt es dort öfter vor… und eine Milonga sollte nicht zu einer ritualisierten Trauerfeier verkommen (Punkt) Und jetzt die Frage: wie geht deine Region mit dem Thema um? Sollte eine extra weiße Milonga stattfinden (schwarz geht nicht, da oft Standartfarbe im Outfit)? Oder sollte dieser eine nicht getanzte Tango reichen.

bg XY, ich bin generell gegen Rituale…

Hallo XY,

vielen Dank für Deine Gedanken. Ich sehe das etwas anders mit den Ritualen. Natürlich hast Du Recht bei inhaltsleeren Ritualen. Aber ich finde Rituale haben auch eine positive Seite: Bestimmte Rituale oder Gebräuche haben m.E. einen tieferen Sinn. Sie können durch Äußerlichkeiten ein Gefühl von Gemeinsamkeit vermitteln. So fand ich es z.B. früher immer blöd, am Ende der Milonga "La cumparsita" zu hören. Inzwischen denke ich da anders. Dieses ritualisierte Ende der Milonga führt im besten Fall allen Tanzenden vor Augen, daß sie ein Teil einer weltweiten Gruppe von Tangueras und Tangueros sind. Wenn man so will, dann sind Rituale auch sinnstiftend oder vielleicht besser identitätsfördernd.

Wenn ein Mensch in einer Tangogemeinschaft verstorben ist, dann finde ich eine Geste des anerkennenden Gedenkens sehr schön. Ich kannte den Brauch mit dem Erscheinen in Weiß noch nicht. Ebenso war mir der Brauch mit dem Lieblingstango des Verstorbenen nicht bekannt. Ich habe einmal erlebt, daß ein leerer Sessel, daneben eine Kerze und ein Photo mitten auf der Tanzfläche stand. Das war in meinen Augen auch ein respektvoller Umgang mit dem Tod eines Mitglieds einer Gemeinschaft. Für mich gehört der Tod in besonderer Weise zum Tango dazu.

Wie denkst Du darüber?

Ich würde gerne unseren Gedankenaustausch in einem kurzen Blogbeitrag thematisieren. Vielleicht fällt ja anderen Kommentatoren noch etwas ein. Ich kann Dich namentlich nennen, ich kann auch einfach schreiben: "Ein Leser". Wie wäre es Dir lieber?

Dir einen schönen Tag und viele Grüße... c.

Hallo Cassiel,

die "ein Leser" Variante ist mir lieber, dann kann ich meine Gedanken zum Thema wie immer unter meinem Namen schreiben. alleine dieser kurze Dialog hat schon einige Rituale ans Licht gebracht,

ein Foto mit einer Kerze an geeigneter Stelle in der Milonga ist ok, die Tanzfläche sollte aber frei bleiben.....und man sollte aber auch trennen… war, es eine weltweit bekannte Persönlichkeit oder nur eine regionale (Tänzer, Veranstalter etc.) denn oft war der Verstorbene nicht allen Anwesenden bekannt

ich denke die Rituale im Tango zu hinterfragen ist ein interessantes Thema....

bg XY

Natürlich kann man alle Rituale hinterfragen und ich denke, das ist regelmäßig notwendig. Ich denke aber auch, Rituale gehören zum Menschen dazu. So gibt es beispielsweise bestimmte Initiationsrituale in allen Kulturen. Was in der christlichen Tradition die Taufe ist, ist in einer schamanischen Tradition ein rituelles Bad. Sogar die christliche Firmung wurde als Ritual in der damaligen DDR - als "Jugendweihe" versteckt - praktiziert. Ich behaupte einmal, der Mensch braucht Rituale. Wie das in den Tango zu übertragen ist, ist mir momentan auch noch nicht so ganz klar. Ich werde die Frage mal in einem Blog-Artikel formulieren.

Ich muss jetzt leider wieder arbeiten. Dir einen schönen Tag!
Herzlichst

c.


Für mich ist der Kontakt mit Leserinnen und Lesern sehr spannend; das ist eine nicht zu unterschätzender Nebenaspekt beim Bloggen. Häufig ergeben sich Denkanstöße, die mich wieder etwas weiter bringen. Leider reicht nicht immer die Zeit und manchmal bleiben Zuschriften auch ein paar Tage liegen. Ich bemühe mich aber, jede Zuschrift zu beantworten. Ich habe diesen Meinungsaustausch u.a. auch deshalb hier eingestellt, weil ich einmal transparent machen möchte, wie bei mir Themen entstehen und reifen.

7 Anmerkung(en):

Anonym hat gesagt…

Ha ha! Leserzuschrift? Klar! Die Erde ist eine Scheibe!

Anonym hat gesagt…

Die Milonga ist zwar ein öffentlicher Raum aber die Gemeinde ist klein, mit der Zeit kennt man viele Menschen. Ich sage ausdrücklich Menschen, nicht Tänzer. Wenn einer dieser Menschen aus dem Leben scheidet, ist es das normalste der Welt sich von ihm auch in diesem Umfeld zu verabschieden, das ist bei keinem anderen Verein anders. Zu der Verabschiedung gibt es Rituale, sie strukturieren die Zeit der Trauer. Ob das Ritual so oder anders aussieht, ist egal. Ich fände es sehr traurig, wenn man das Menschsein an der Tür abstreifen würde und zum Tanzzombie mutierte.
Das weiße hatte übrigens mit dem speziellen Fall zu tun.

Harry hat gesagt…

Hallo Cassiel,
eigentlich wollte ich zuerst nichts dazu schreiben, weil der Verstorbene eine für mich sehr wichtiger Mensch war, ein wirklicher Freund.
Mich hatte die Nachricht letzten Dienstag völlig überrascht.
In dem Zusammenhang hatten Freunde die Idee, auf einer lokalen Milonga in Mannheim einige Tandas ganz in Weiß zu tanzen. Nicht weil das ein Ritual sein sollte (gut, man kann es so sehen...), sondern weil Weiß die Lieblingsfarbe des Verstorbenen war. Das ist schon alles.
Eine Überhöhung in irgendeiner Richtung oder auch, das Ganze mit anderen Ritualen zu vergleichen, ist völlig überflüssig. Es war einfach eine Form des Gedenkens. Mehr nicht.
Viele Grüße
Harry

Anonym hat gesagt…

Zwei kleine, vielleicht etwas entfernte, Anmerkungen.

Sehr viele Sachen zu meinem Tangoäußeren sind mir von verschiedenen lieben Mitmenschen geschenkt worden, wofür ich sehr dankbar bin. Es gibt auch einen Gürtel von einem Verstorbenen, den ich ab und zu beim Tanzen trage. Ein Gedenken wegen eines Todes in irgendeiner Form habe ich auf einer Milonga noch nicht erlebt.

Ich empfinde in letzter Zeit viele Milongas als zu grell beleuchtet und musikalisch zu unruhig. Eine gedämpfte, feierliche Stimmung könnte meiner Meinung nach ein intensiveres Tangoerlebnis hervorbringen, wozu auch lustige Momente gehören. In Trauer-, oder Kummerphasen ist auch eine schönes Tanzerlebnis möglich. Tango: "Ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann"

dansante hat gesagt…

Ich kenne nur ein Geburtstagsritual in der Milonga: ein bestimmtes Lied wird für das Geburtstagskind gespielt, es beginnt mit einem Partner darauf zu tanzen, während die anderen Tänzer außen stehen oder sitzen. Und der Tanzpartner wird dann "abgeklatscht" von anderen TänzerInnen.

Von einem Sterberitual höre ich hier zum ersten Mal.

In einem Sterbefall eine weiße Milonga abzuhalten finde ich nicht grundsätzlich eine gute Idee, auch wenn es in diesem konkreten Fall gepasst haben sollte. Nicht jeder kann z.B. informiert werden,in Weiß zu erscheinen. Und eine ganze Milonga in Gedenken an einen Verstorbenen zu tanzen finde ich zu viel.

Mir gefällt die Idee besser mit dem Stuhl samt Foto und Kerze, allerdings nicht auf der Tanzfläche sondern vielleicht am Rande oder seinem / ihrem Lieblingsplatz.

Anonym hat gesagt…

Das Sterberitual hat viele verstummen lassen, scheint mir.

Aber neben dem Geburtstag gibt es ja noch andere gemeinhin als erfreulich
betrachtete Anlässe. Was habt ihr anlässlich von Hochzeiten und Geburten
erlebt?

Martin

Anonym hat gesagt…

Lieber Cassiel,

in unseren Kreisen ist vor kurzem ein sehr bekannter und geschätzter Tanguero gestorben. Gut möglich, dass Dein Beitrag aus aktuellem Anlass ihm gilt.

Ich hatte leider nicht mehr die Möglichkeit, ihn kennenzulernen, war aber auf zwei Milongas, wo seiner gedacht wurde.

Auf der ersten überbrachte die Gastgeberin unter Tränen die Nachricht von seinem Tod und kündigte eine Tanda an, in der der erste Tanz zu seinem Gedenken nicht getanzt werden sollte. Der DJ wählte sehr einfühlsam passende Orchester in seiner Muttersprache und/oder zum Thema Abschied.
Mich hat das alles sehr berührt, obwohl ich den Verstorbenen nicht einmal kannte - vor allem der nicht getanzte- und geschwiegene Tango. Die weiteren verbrachte ich tanzend und mich geborgen fühlend unter Tränen in den Armen eines sehr einfühlsamen Herrn.

Auf der zweiten Milonga wurde ebenfalls in einer Rede kurz über den Verstorbenen gesprochen, und daraufhin ein Tango zu seinen Ehren getanzt. Dies habe ich jedoch als weitaus weniger emotional und würdevoll empfunden.

Mich hat die erste Variante sehr bewegt und schwingt noch immer nach.

Wie auch immer man jemandem die letzte Ehre erweist - ich finde solche Rituale sehr wichtig, und auch schön, dass es überhaupt zelebriert wird, und hoffe, dass dies auch weiterhin so gehandhabt wird.

Allerdings sind auch mir freudige Anlässe natürlich wesentlich lieber.

But life is like Tango: “Sad, sensual, sexy, violent and quiet....“ as you quoted on another page.

Danke für diesen Beitrag - der Tod ist ein Thema, mit dem niemand wirklich gerne umgeht.
Aber die Betroffenen, und alle, die schon einmal einen lieben Menschen verloren haben, wissen es sicherlich zu schätzen, sich darüber auszutauschen!
So auch ich.

Alles Liebe,

Fiona