Montag, 19. Mai 2014

Cassiels großer Tango-Knigge: 3. Über den Umgang mit der Musik, den Texten und der Kultur im Tango

Leseempfehlung vorab, was bisher geschah... in diesem Tango-Knigge:
0. Einleitung - Abgrenzung zu Regeln, zur Etikette und zu den Códigos
1. Über den Umgang mit der aktuellen Tanzpartnerin / dem aktuellen Tanzpartner
2. Über den Umgang mit den Mitmenschen in einer Milonga


Kultur ist die Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes.
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900), deutscher Philosoph, Essayist, Lyriker und Schriftsteller


Das Verhängnis unserer Kultur ist, daß sie sich materiell viel stärker entwickelt hat als geistig.
Albert Schweitzer (1875 - 1965), deutsch-französischer Arzt, Theologe, Friedensnobelpreisträger 1952

Zugegeben: Man kann sehr lange trefflich darüber streiten, ob Betrachtungen über die Kultur in eine Handreichung über die Umgangsformen im Tango aufzunehmen sind, oder ab man das lieber bleiben lässt. Bei der Grundkonzeption dieser Artikelserie habe ich mich dafür entschieden, diese Frage ebenfalls zu erörtern. Wie immer stelle ich meine Ausführungen unter den Vorbehalt der Subjektivität. Es mag gute Gründe geben, es anders als hier dargestellt zu sehen und es ist selbstverständlich erwünscht, andere Meinungen hier zu vorzustellen, zu begründen und zu vertreten.

Und eine zweite Überlegung muss m.E. vor der eigentlichen Erörterung kurz skizziert werden: Ist es überhaupt legitim über die Kultur, die Texte und die Musik im Tango zu schreiben, wenn man eben kein Argentinier ist und vom Standpunkt eines Abendländers nach Buenos Aires blickt und über seine Gedanken zu diesem Kulturkreis schreibt? Ich neige zu der Ansicht, die Nicht-Zugehörigkeit zum entsprechenden Kulturkreis darf kein Denk- bzw. Schreibverbot begründen.


Gibt es überhaupt „die“ (eine) Kultur im Tango? Bei halbwegs objektiver Betrachtung der über 100-jährigen Geschichte des Tangos sollte sofort klar sein, dass es keine statische bzw. homogene Tango-Kultur geben kann. Der Tango Argentino war ständigem Wandel unterworfen. Der Tango entstand wohl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und war zunächst ein Phänomen materiell unterprivilegierter Kreise der argentinischen Einwanderergesellschaft. Insofern erklärt sich auch auf nachvollziehbare Weise, dass die Ursprünge des Tangos weitestgehend im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben. Über die Wurzeln gibt es heute gängige Theorien, die ihn als Verschmelzung afrikanischer und europäische Elemente sehen. Da sind die die Rhythmen mit schwarzafrikanischen Wurzeln, häufig werden das neapolitanische Lied und die italienische Oper auch als Vorfahren genannt. Aber es hat immer eine Weiterentwicklung im (!) Tango gegeben. So wurden beispielsweise die ersten Tangos mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einfachem Lehmboden getanzt und da es eine Kulturtechnik einfacher Leute war, waren Klavier und Bandoneón noch unbekannt. Erst später eroberte der Tango die Salons und erst 1924 etablierte Roberto Firpo mit dem Gewinn eines Wettbewerbs das Klavier im Tango. Es waren weiche Übergänge. So hört man auf manchen Aufnahmen mit Carlos Gardel oder Charlo noch eine Gitarre als Begleitinstrument. Allein schon deshalb sind die äußeren Erscheinungsformen im Tango Argentino vielfältigen Änderungen unterlegen und wer weiß schon, wie es zukünftig im Tango Argentino weitergehen wird…

Zusätzlich kommen diverse Wechselwirkungsprozesse mit Europa (und später auch Japan) hinzu. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erfreute sich der Tango in den Metropolen Europas (und nicht nur dort) großer Beliebtheit. Der argentinische Export in die verschiedenen Regionen der Welt kam natürlich nach einer gewissen Zeit wieder nach Buenos Aires zurück und änderte dort mindestens die Akzeptanz (wenn nicht auch die Praxis) des Tangos in den bürgerlichen Schichten im Großraum Buenos Aires.

Mit dem Staatsstreich 1955 änderte sich der Umgang mit dem Tango noch einmal radikal. Es ist immer wieder erstaunlich: Die letzten Zeitzeugen dieser Zeit betonen in Interviews immer wieder die erdrückende Dominanz des Rock'n'Roll in der Zeit. Niemals oder nur ganz selten hört man Argentinier über die politischen Umbrüche Mitte der 50er Jahre und deren Auswirkungen auf den Tango sprechen. Der Tango war eine Subkultur und als solche nicht unbedingt politisch, aber er flößte den Machthabern vermutlich genügend Angst ein. So wurde die bis dahin geübte Praxis, dass 80% der im Rundfunk gespielten Musik argentinischen Ursprungs sein musste, aufgegeben. Beschränkungen der Versammlungsfreiheit machten die bisher üblichen großen Milongas als gesellschaftliche Ereignisse unmöglich. In der Folge verschwanden die Auftritts- und somit auch die Verdienstmöglichkeiten für viele kleine Orchester. Es erwischte auch die großen Namen: Pedro Laurenz musste beispielsweise sein Orchester auflösen und spielte fortan Bandoneón im Quinteto Real.

Nun ist das an sich nichts dramatisches und kulturelle Rahmenbedingen ändern sich immer wieder. Für meine Wahrnehmung war aber dieser Bruch in den 50er Jahren für den Tango fatal. Tango verlor seinen gewachsene Existenzberechtigung als sozialer Rahmen für Zusammenkünfte großer gesellschaftlicher Gruppen und wurde zu einer musikalischen Aufführungspraxis degradiert. In diese Entwicklung passt auch der Werdegang von Astor Piazzolla. Er ging nach Paris und sagte sich weitestgehend von der gelebten Tango Tradition los. Sein Anspruch war der eines Musikers, der Musik um der Musik willen macht[1]. Der Praxis des Tanzens begegnete er zunehmend mit Skepsis bzw. offener Ablehnung. Wenn da meine Wahrnehmung stimmt, dann war Astor Piazzolla ein Sprössling des breit angelegten, europäisch orientierten Bildungsbürgertums, der mit dem Tango eigentlich überhaupt nicht in Berührung kommen wollte. Wenn ich das richtig verstanden haben, dann war ihm der Tango zu proletarisch bzw. vulgär. Es kam aber auch zu einer Versöhnung: Im Jahr 1989 kam es zu dem legendären Konzert in Amsterdam. Osvaldo Pugliese (der bekennende Kommunist) und Astor Piazzolla (der „Bürgerliche“) standen endlich gemeinsam auf der Bühne und musizierten. Auch das ist Kultur im Tango: Das Verbindende.[2]

Um es deutlich zu sagen: Ich sehe die musikalischen Änderungen nach 1955 durchaus in der Tradition des Tangos. Allerdings stand nicht mehr die Funktion als Musik zum Tanz im Vordergrund. Insofern wurde bereits in dieser Zeit der Grundstein für eine Entwicklung gelegt, die uns heute in so mancher Milonga begegnet: Die Musik ist nicht mehr zwangsläufig der Tango der goldenen Ära. Die weitverbreitete Ansicht, man könne jede Musik beim Tango "vertanzen" hat m.E. stellenweise zu einer Verwässerung des Tangos geführt. Mit allen bekannten und häufiger zu beobachtenden Problemen.

Die Reanimation des Tangos als Tanz nahm ihren Ursprung in den 80er Jahren. Später schwappten große Produktionen des Bühnentangos als Exportschlager nach Europa (Forever Tango, Tanguera u.a.). Aber diese Produktionen standen meines Erachtens in einer anderen Tradition. Der soziale Aspekt der Milonga stand hinter der teilweise artistischen Aufführung und Bühnenpraxis. Der Tango lief Gefahr, zu einem Folklore-Projekt auf der Bühne zu verkommen. (Mir fällt dazu ein drastischer Vergleich ein: Wie würden wir uns fühlen, wenn man die Kultur des deutschsprachigen Raumes auf Kuckucksuhr und Oktoberfest reduziert?)
Und wenn wir schon beim Stichwort Folklore sind, dann müssen wir auch so manche Blüte in der heute gängigen Tangopraxis kritisch hinterfragen. Mit einem Schmunzeln nehme mich so manches Mal die modischen Accessoires im Tango wahr. Männer mit Hüten und/oder Hosenträgern, Frauen mit Netzstrumpfhosen und bis zur Hüfte reichenden Schlitzen in den Röcken. Es mag im Einzelfall ja Ausdruck einer Individualität sein, generell sehe ich bisweilen die Gefahr, dass der Tango auf (modische) Äußerlichkeiten reduziert wird und somit zur Folklore verkommen kann.

Ich denke, der Diskurs über die kulturelle Herkunft, zeitgenössische Identität bzw. Erscheinungsform des Tangos ist notwendig. Für mich drängt sich da ein Vergleich auf. Betrachten wir vielleicht einmal die Entwicklung der sogenannten ernsten Musik (E-Musik; der Begriff Klassik wäre hier irreführend). Es gibt ein breites Spektrum unterschiedlichster Ansätze, sich diesem Kulturgut zu nähern. Fangen wir vielleicht einmal mit der Aufführungspraxis an: Immer wieder gibt es Versuche, die Musik auf historischen Instrumenten zu spielen. Damit wird versucht, möglichst nah an die klanglichen Vorstellungen des Komponisten heranzukommen. Am anderen Ende des Spektrums finden wir zeitgenössische Kompositionen (z.B. die 12-Ton-Musik Schönbergs) als Versuch der Erneuerung der bislang gültigen Tonalität. Diese große Bandbreite sieht sich in der kulturellen Tradition der ernsten Musik.

Und schließlich sind da noch die Texte im Tango, zu denen ich (noch) keinen tieferen Zugang gefunden habe. Es gibt im Netz zahlreiche Adressen für Übersetzungen und trotzdem fehlt mir noch immer der intuitive Bezug. Für unseren Horizont klingen die Texte bisweilen banal oder zumindest kitschig; trotzdem gehören sie zum Tango und eine intensive Beschäftigung mit ihnen ist sicherlich lohnend.

Es bleibt die Frage: Muss man sich als Tango-Tänzer mit all diesen Fragen auseinandersetzen? Ich denke, das ist - jedenfalls zu Beginn eines "Tangolebens" - nicht unbedingt notwendig. Allerdings macht es später, wenn man tiefer in die Materie eindringt, durchaus Sinn, sich diesen Fragen zu stellen und eigene Antworten zu finden. Manchmal begegne ich Menschen, die jede kulturelle Tradition im Tango leugnen und ihre eigenen Ansichten über die historisch überlieferte Praxis stellen. Das verursacht bei mir immer ein Stirnrunzeln. Mit einem Negieren - vielleicht reicht da auch schon ein Relativieren - gängiger Praxis im Tango stehen Vertreter einer solchen Haltung im Tango für mein Empfinden immer in der Gefahr, Kulturrelativismus zu betreiben. Da wird der Tango dann in einem Mainstream ertränkt, der ihn beliebig macht. Beraubt man den Tango seiner spezifischen Eigenheiten und ersetzt diese durch westeuropäische Sicht- oder Verhaltensweisen, so kann dieses Verhalten im Extremfall sogar ein Kulturchauvinismus sein. "Wir Europäer zeigen jetzt einmal den Argentiniern, wie der Tango wirklich ist".

Abschließend möchte ich einen Gedanken von Carlos Gavito aus seinem letzten Interview aufgreifen: Es gibt eine Weiterentwicklung im Tango. Insofern ist die Bezeichnung traditioneller Tango auch irreführend. Ich persönlich erlebe selten eine so innovative Herangehensweise, wie im Tango. Natürlich ist die Musik aus der Blütezeit des Tangos, aber die Methoden, diese Musik in Bewegung im Paar zu bringen bedient sich moderner Analysen und Methoden. Diese Weiterentwicklung findet in der kulturellen Tradition des Tangos statt. Insofern ist da eine deutliche Weiterentwicklung zu beobachten.


Ergänzungen:

[1] Diese Sichtweise des Wirkens von Astor Piazzolla ist nicht meine Analyse. An dieser Stelle sei noch einmal auf ein Portrait in der Zeitschrift Matices verwiesen.

[2] Ich möchte die unterschiedlichen Spielweisen des Tangos der Epocha de Oro und des Tango Nuevos anhand eines Beispiels verdeutlichen. Es ist ein Ausschnitt aus dem oben angesprochenen legendären Konzert von 1989 in Amsterdam. Osvaldo Pugliese und Astor Piazzolla spielten - jeweils mit ihren Ensembles - zusammen. In einem Video bei YouTube wird die angesprochene Veränderung im Tango besonders deutlich. Da wird La yumba von Osvaldo Pugliese konzertant aufgeführt und man erahnt, welche Ausdruckskraft für Tänzerinnen und Tänzer in diesem Stück steckt. In einer Überleitung mündet die Darbietung schließlich in einem Schlüsselwerk von Astor Piazzolla: Adios nonino. Für mein Empfinden wird hier die Entwicklung von einer Praxis, „Tango als Musik für Tänzer“ hin zu einer musikalischen aufgeführten Gattung besonders deutlich.



Link zum letzten Teil dieses Tango-Knigges:
4. Über den Umgang im Tango mit sich selbst.

105 Anmerkung(en):

Anonym hat gesagt…

Dislike !!!!!

cassiel hat gesagt…

Wieso? :-)

Chris hat gesagt…

Dies ist wirklich eine schöne, neutrale und vor allem liebevolle kurze Geschichte des Tango. Ich verstehe nur nicht, was Du damit sagen willst. Was ist darin deine persönliche Botschaft?

cassiel hat gesagt…

Hallo Chris, mir ging es um den Respekt für die Kultur des Tangos im Alltag. Nicht mehr, aber auch nicht weniger...

Irgendwie erschien es mir wichtig, im Kontext meines Tango-Knigges auch darauf einzugehen, dass wir alle mit einem kulturellen Erbe einer Bevölkerungsgruppe am Rio de la plata umgehen. Mir war es wichtig, dass das nicht in Vergessenheit gerät.

Ich war mir beim Schreiben auch unsicher, da ich finde, man kann kaum über eine kulturelle Entwicklung schreiben, wenn man sich innerhalb eben dieser Entwicklung befindet.

Anonym hat gesagt…

Ein überflüssiger Text in einem überflüssigen Blog! Daher mein Dislike!

Anonym hat gesagt…

Hallo anonymer Dislike, selten so gelacht über einen frustrierten Stinkstiefel. Warum liest Du diesen Blog? Warum kommentierst Du hier? Weil das hier alles so langweilig ist? Kaufst Du auch Bücher die Du blöd findest? Tanzt Du auch Tänze die Du langweilig findest? Lebst Du mit jemandem zusammen, den Du dumm findest? Ändere einiges in Deinen elenden kleinen Leben. Dann musst Du hier nicht mehr abkacken.

Montag hat gesagt…

@Anonym, 21:55
naja, wenn du mal die Seite liest, ganz oben schreibt Cassiel, die sei "Cassiels vollkommen überflüssiges deutschsprachiges Tango-blog". Damit ist doch klar, worum es hier in hunderten von Beiträgen geht.
mit amüsiertem Gruß
Montag abend

Anonym hat gesagt…

Es ist schade, aber war so zu erwarten. Die Osterferien sind vorbei und der Kindergarten hat wieder begonnen. Da kann man keine interessanten Kommentare erwarten!
Love You

cassiel hat gesagt…

Möglicherweise ist mein Ausgangstext sperrig, vielleicht sogar wenig verständlich… was ich aber hier so an aufgelaufenen Kommentaren lesen muss macht mich ratlos.

Darf ich daran erinnern, dass wir uns hier in einem persönlich geführten Blog befinden? Es geht nicht darum, diffuse Erwartungen einzelner Leser zu befriedigen, vielmehr schreibe ich über meine persönlichen Gedanken zum Tango und natürlich mag es Menschen geben, die die Dinge anders sehen bzw. meine Gedanken ablehnen.

Es ist fast eine späte Legitimation meines Textes über kulturelle Fragen im Tango, wenn eigentlich nur wenig freundliche bzw. sachorientierte Kommentare kommen. Vielleicht haben wir da einen Nachholbedarf in Fragen der Toleranz für das Fremdartige.

Durch die deaktivierte Kommentarmoderation bin ich in einer scheinbar schwachen Ausgangsposition. Ich staune, wie das in letzter Zeit offensichtlich immer stärker ausgenutzt wird. Man kann es aber auch anders sehen: Diejenigen, die sich entschlossen haben, sich hier ungewöhnlich aufzuführen zeigen, wie wichtig es ist, über Fragen der guten Kinderstube intensiver zu debattieren.

Vielleicht kehren wir nun zu einem sachlicheren Stil des Dialogs zurück…

Christian Tobler hat gesagt…

@ alle,

ich finde diesen Artikel, dieses Thema ausgesprochen interessant. Schade, dass autismusnahe Trolle bisher so dominant sind. Denn dazu gibt es Gesprächsstoff bis in alle Ewigkeit.

Nur weil man einen Text vielleicht dreimal lesen und sich hinterher ein paar Gedanken machen muss, bevor man einen ersten Kommentar schreibt, ist kein Artikel langweilig. Das Thema setzt den Rahmen und das Thema ist komplex. Da kann es unmöglich erstaunen, dass der Artikel darüber sich verbal nicht in den Niederungen der Bildzeitung bewegt und nicht im Rahmen der Anschlagzahl gewisser social-media-Plattformen bewegt. Cassiel stellt Fragen, viele Fragen, spannende Fragen, wichtige Fragen – Fragen, die viele von uns Tänzern und Machern bewegen.

Das belegen viele der Kommentare in diesem Blog seit langem. Dieses Thema ist hier in vielen Threads in der einen oder anderen Form längst Dauerbrenner und Zofflieferant. Zugegeben – ich hätte mir von Cassiel auch ein paar Antworten gewünscht, die nicht neutral sind, weil dezidiert neutrale Gedanken kaum zeugungsfähig sind. Ich vermute, dass er das unterlassen hat, um der Diskussion eine möglichst grosse Bandbreite zu ermöglichen. Aber vielleicht liefert Cassiel solch Persönliches im Rahmen der hoffentlich bald entstehenden Diskussion zum Thema nach. Ich kann unmöglich der einzige sein, der wissen möchte, was Cassiel zum Thema für Ansichten hegt.

Cassiel stellt viel Fragen und ein sticht heraus. Für mich stellt Cassiel die wichtigste, die zentrale, die kontroverseste Frage ziemlich am Ende des Artikels: die von wegen Kulturrelativismus bis hin zu Kulturchauvinismus. Das hat es in sich, ist eine gigantische Knacknuss.

Vielleicht hat sich der eine Anonym deshalb so zaghaft und zahnlos mit einem gehässigen dislike eingeführt. Ich tippe auf mächtig viel Furcht. Denn wenn wir dieses Thema hier offen und ehrlich, tief und bedacht angehen, dann wird es eng für jene Zeitgenossen im Tango Argentino, die ich ganz bewusst unten den unfreundlichen Begriffen Hupfdohlenkram oder Hallodri-Tango, Takthopserzeugs oder Touri-Tango zusammenfasse. Wenn wir Tango Argentino nicht instrumentalisieren um damit unsere eigenes, egoistisches Ding zu drehen – was natürlich auch ganz viele Argentinier tun – sondern uns diesem Kulturgut mit Sorgfalt nähern und es mit Respekt behandeln, dann stehen viele Auswüchse und Sauglattismus dumm und lächerlich da. Wer hier nicht Vogel Strauss spielen mag, könnte schnell in eine veritable, existentielle Krise geraten – was ich zielführend fände.

Weil das von mir Thematisierte nicht die einzigen Frage ist, die Cassiel im Thread stellt, bin ich gespannt darauf zu beobachten, zu welcher Frage die erste ernstzunehmende Diskussion hier auftaucht.

herzlich – Christian

Chris hat gesagt…

@cassiel verstehe, hätte ich ja eigentlich auch fast selber drauf kommen können.

Ich sehe aber den arg. Tango als Tanz und Musik nicht allein als Erbe einer kleinen Gemeinschaft am Rio de la Plata.
Tanz und Musik sind das Ergebnis einer Schmelze aus all dem, was europäische Einwanderer (mehr) und afrikanische Sklaven (weniger) im Gepäck hatten. Der Tango ist nicht die alleinkulturelle Errungenschaft indigener Ureinwohner.
Auch in seiner etwa 150 jährigen Entwicklung war er immer wieder Einflüssen vor allem aus Europa und Veränderungen ausgesetzt.

Das ist jetzt allerdings kein Plädoyer für eine Mißachtung des Überkommenen. Wer lange genug dabeibleibt, wird all die Regeln überwiegend befolgen, weil sie sinnvoll sind und damit selbstlegitimierend, oder weil sie die Person als 'Eingeweihten' ausweisen.
Andere "Auswüchse" wie pseudofolkloristische Accessoires entsorgen sich schnell selbst. Nur so am Rande, Du kannst es wohl nicht wissen. Die meisten Frauen tragen keine Strümpfe, weil sie sonst im Schuh herumrutschen. Und dauerhaft hält sich kaum einer in der Szene, dessen einziges Alleinstellungsmerkmal es ist, sich zum Affen zu machen (Hut).

Unser Magnetismus ist die Freude am Tanz, und bei den Tradis die Freude am Tanz zu traditioneller Musik. Daraus erwächst für mich ganz selbstverständlich der Respekt gegenüber Gleichgesinnten und den üblichen Regeln einer Szene. Intellektuellen Erwägungen und Forderungen stehe ich eher skeptisch gegenüber. Aber in einem stimme ich Dir uneingeschränkt zu. Muß man sich mit all diesen Fragen auseinandersetzen? Ja, muß man, und sich seine Antworten suchen.

Anonym hat gesagt…

Danke Cassiel für ein erneut interessantes und tiefgründiges Thema. Vielleicht stecke ich noch nicht tief genug drin im Tangoleben und verstehe daher noch nicht ganz, auf was Du hinaus willst, bzw. was genau Du kritisierst. So verstehe ich auch nicht, was Du mit der Hervorhebung "im" Tango etc. andeutest. Es kommt mir so vor, als ob dahinter schon eine Diskussion steckte, dich ich nicht mitbekommen habe. Ich werde aber Deinen Beitrag noch mal genauer lesen.

In Bezug auf "gute Kinderstube" habe ich als Pädagogin auch schon oft mit offenem Mund dagestanden mit welch schlechten Manieren manche junge Menschen sich im Ausland aufführen und sich als Europäer wohl zu erhaben fühlen, bzw. viele Serviceleistungen als so selbstverständlich hinnehmen, um ein kleines Danke auszusprechen.

Aber, hinter Sprüchen wie "Hupfdohlenkram oder Hallodri-Tango, Takthopserzeugs oder Touri-Tango …" und ""Auswüchse" wie pseudofolkloristische Accessoires … sich zum Affen zu machen (Hut)" spüre ich eine ungemeine Intolleranz, vor allem aber menschenverachtendes Denken, was mir ziemliches Unbehagen bereitet. Man kann gerne, oder sollte gar bestimmte Sachen im Tango kritisieren. Ich bin auch nicht fürs herumhopsen etc, aber gleich von oben herab so verächtlich verurteilt zu werden bereitet mir schon Bauchschmerzen. Vielleicht weil ich auch mal zu ihnen gehört habe und ein gewisser Lernprozess erforderlich war, um sich dem Guten und Schönen im Tango zu nähern.

Und ich "verkleide" mich auch gerne, weil es mir großes Vergnügen bereitet und dies für mich ebenso zum Spiel im Ernst gehört. Z.B. schon allein hohe Schuhe zu tragen, gehört für mich zu dieser Verkleidung, da ich im reellen Leben niemals solche trage.

Schönen Gruss an alle, Araja.

Anonym hat gesagt…

Hallo Cassiel,

ein interessanter Beitrag, der mir aber nicht ganz schlüssig erscheint - insbesondere der Mittelteil (inkl. Fußnote [2]), wo Du auf die "Verbindung" von Pugliese und Piazzolla, resp. die der EdO und Tango Nuevo eingehst.

Mit Pugliese und Piazzolla begann ja das Ende der EdO. Ja, die beiden sind überspitzt vielleicht sogar deren musikalischen Totengräber. Jeder für sich.

In seiner Frühzeit musizierten Piazzolla und Pugliese ja noch weitgehend traditionell (Stücke u.a. bei https://tango.info/eng). Doch mit Recuerdo (1944) und Corrientes y Esmeralda (1944), spätestens aber mit La Yumba (08/1946) schwor Pugliese der EdO ab. Wenige "traditionelle" Aufnahmen aus dieser Zeit von Pugliese sind dabei nur die Ausnahmen (Una vez 11/1946 - Wie wunderschön!) von der Regel und deren Bestätigung. Piazzollas Bruch war da schon heftiger und glücklicherweise direkt mit einer Abgrenzung versehen (Tango Nuevo).

Nein, ich tanze nicht zu Non-Tangos, nicht zu Tango Nuevos und i.d.R. auch nicht zu Pugliese (wie La Yumba, Negracha, La Tupungatina, etc.)

P&P sind vergleichbar (stellvertretend) mit den Beatles und den Stones, die ihrerseits Anfang der 60er dem Rock'n'Roll den "Gar ausgemacht" haben oder - je nach Sichtweise - zu Recht abgelöst haben.

Insofern würde ich die Entwicklung einer Kultur nach (!) ihrer Hochzeit eher ausklammern und (provokativ) als verzweifelte Irrwege des Abgesangs stehen lassen wollen. Pugliese und Piazzolla haben da mehr gemeinsam, als viele denken.

Und ja, in dem Weg zu ihrem Höhepunkt durchlebt eine Kultur einen steten Wandel, eine sich selbst befruchtende Entwicklung.

Was danach kommt, ist musikalisch manchmal schwierig (Nuevo, Elektro-Tango, Tangoschritte zu einer Rumba, etc.) und manchmal ein klein wenig peinlich (Verkleiden, mehr Argentinier sein wollen, als die Argentinier, Tango in der Werbung, etc.).

Viele Grüße

DrR

Unknown hat gesagt…

„…einen Text vielleicht dreimal lesen und sich hinterher ein paar Gedanken machen muss, bevor man einen ersten Kommentar schreibt…“ – ja, Christian, ich habe den Text 3-mal gelesen und mich ein Paar Tage Gedanken gemacht. Damit möchte ich nicht meine Gedanken, die unten stehen, hervorheben. Ich möchte lediglich betonen, wie schwer für mich der Zugang zu diesem Thema ist.

Als Tänzer und Sammler muss ich stets meine Interessengebiet begrenzen – einerseits weil meine physische Fähigkeiten nicht mehr soviel hergeben und meine finanzielle Mittel begrenz sind, aber auch, anderseits, weil ich mit meine Interessen nicht in Beliebigkeit verfallen möchte. So habe ich immer nach einen „Schlüssel“ gesucht, der mir mein Interessengebiet definiert. Ich glaube, Du, Cassiel hast diese Kriterium sehr trefflich definiert „…Funktion [des Tangos] als Musik zum Tanz…“ Ja, es ist ein Musikart, die unmittelbar für den Tanzt komponiert wurde und es ist ein Tanz der unmittelbar zu diese Musik getanzt werden kann/soll. Diese enge Verbindung zw. Musik und Tanz existiert nicht für alle Entwicklungsrichtungen des Tangos – weder die Musik von Carlos Gardel und später von Charlo, noch die Musik von Astor Piazzolla erfühlen diese Kriterium – Cassiel ist auf diese zwei Tangorichtungen eingegangen.

Auch andere Entwicklungsrichtungen der 30er und 40er Jahre des 20 Jahrhundert weisen diese enge Bindung zw. Musik und Tanz nicht auf. So z. Bsp. in Russland und Rumänien bekannte Sänger Leschenko – er zählt eindeutig zu dem Sparte Tango canción (wie auch Gardel und der späte Charlo). Das ist eine Musikrichtung, bei dem die Texte in Vordergrund stehen und der Tanz eine nachgeordnete Rolle spielt.

Auch die Entwicklung des Tangos nach 1955 erfühlt diese Kriterium nicht. Durch den Einzug des Fernsehens im Alltag der Argentinier wurden die tägliche Tangoübertragungen auf „fürs Auge“ getrimmt (einige Beispiele sind heute noch auf youtube zu bewundern, z. Bsp. von d’Arienos Orchester). Die Leute tanzten nicht mehr so wie damals bei der Radioübertragungen, sondern schauten sich das Fernsehübertragung des Orchesters an. Eine Entwicklung im Richtung Tango canción war nicht zu übersehen.

Der Geburt der neue Tangomusik (etwa ab 2000 mit den Album Vuelvo Al Sur von Gotan Project; ich möchte für diese Musikrichtung ungerne das Begriff Tango-Nuevo benutzen, weil diese durch der Musik von Piazzolla beleget ist) wurde auch nicht durch diese starke Bindung zw. Musik und Tanz geprägt. Zwar entwickelten hervorragende Pädagogen und Tänzer wie Gustavo Naveira, Mariano Frúmboli, Fabián Salas, Sebastián Arce u.a. dafür passende Schrittkombinationen, womit eine Tanzbarkeit (wie man auch immer diese Begriff versteht) auf jeden Fall gegeben ist, für meine Empfindung ist die Interaktion zw. Musik (interpretierende Musiker) und Tanz (in der Ronda tanzende Tänzer) immer zu schwach.

Noch schwächer ist diese Bindung bei der sog. Freetango oder Non-Tango Tanzrichtung. Das Tanzen von Tango-Schrittkombinationen auf beliebige Musik ist zwar möglich (ich gehe auch davon aus, dass es auch Spaß macht), für mich ist in diese Tanzrichtung meine o.g. Kriterium der Bindung zw. Musik und Tanz grundlegend verletzt.

Gustavo Naveira äußerte sich zum Begriff des Tango Nuevo folgendermaßen: „Man kann als Tango Nuevo die Phase nach 1980 erachten, in der der getanzte Tango technisch und künstlerisch seine höchste Entwicklung erreichte.“ Ich kann diesen Gedanken von Herr Navier nicht unbedingt teilen. Es kann sein, dass die „getanzte Tango technisch … seine höchste Entwicklung erreichte“, die Faszination der Bindung zw. Musik und Tanz hat das Tango-Nuevo für mich nicht. Ob man diese Periode (ca. 1980 bis 2000, danach ist in diese Richtung kaum was bedeutende passiert) als künstlerisch wertvoll bezeichnen kann, wird sich in ein Paar Jahrzehnten zeigen.

Tan Guero hat gesagt…

Cassiel: "Muss man sich als Tango-Tänzer mit all diesen Fragen auseinandersetzen?"

Muss man nicht, macht aber Spaß.

Das ist hier ein ziemlich weites Feld, das du da aufmachst. Dein Artikel kann das natürlich nicht im Ansatz befriedigend beackern (daher vielleicht die irritierten bis ablehnenden Kommentare am Anfang) - aber soll es wohl auch nicht. Ich verstehe ihn als Anregung, sich überhaupt mit Tangogeschichte und -hintergrund zu beschäftigen.

Meines Erachtens beschreibst du aber die Tangoentwicklung zu punktuell-linear: Erst war das, dann kam das, dann so, dann so. Vielleicht ist das in der Kürze notwendig, verstellt aber den Blick.

Tatsächlich entwicklete sich der Tango im Nebeneinander verschiedener Strömungen und Stile. Die Guardia Nueva löste nicht die Guardia Vieja ab, sondern beide existierten und entwickelten sich parallel weiter. Das Tango Canción zur Gitarre existierte auch noch in der EdO. Der "D'Arienzo Big Bang" 1935/36 eliminierte nicht die Decaristen, sondern zwang sie allenfalls, wieder tanzbare Musik zu produzieren etc.
Diese Spanungsfelder finden wir auch heute im Tango, die Diskussion über Tanzstile und Muskrichtungen sind ja Legion. Und wie bei allen Spannungen finden wir auch das Ausschließlich-Denken, angefangen bei Susanna Miller, die ihrem Estilo del Centro kurzerhand das Marketingetikett Estilo Milonguero verpasste und damit alle Milogueros aus Villa Urquiza und anderswo vor den Kopf stieß. Wo setzt hier eine restektvolle Diskussion an?

Auch die Fixierung auf das Jahr 1955 als Todesjahr des Tangos hat einigen Reiz und auch einige Wahrheit. Bill Haleys "Rock Around The Clock" kommt mit dem Film "Blackbord Jungle" ("Die Saat der Gewalt") um die Welt, Putschisten setzen Perrón ab. Dennoch lenkt das Datum den Blick von den vorherigen Entwicklungen ab. Tango als "Leittanz" Argenitniens hatte schon in den späten 40ern abgewirtschaftet. Die Produktionszahlen an Tonträgern ging rapide bergab. Perrón steuerte dem mit einer Politik des Kulturprotektionismus entgegen, was einen dritten Frühling des Tangos einläutete mit zahllosen neuen Orchestern und eines deutlichen Anstiegs der Tonträgerproduktion. Sogar ein eigenes argenitinisches Label wurde gegründet: TK. Leider, muss man aus heutiger Sicht sagen, denn die Qualität der Produktionen war deutlich schlechter als die von RCA Victor oder Odeón. In dieser Blase entstehen einige extrem schöne und tanzbare Aufnahmen, allen voran die von Di Sarli. Aber das meiste ist doch schon nicht mehr für Tänzer arrangiert. In dieser Zeit (und nicht erst in Paris) bereitet auch Piazzolla schon seine "Hora Zero" vor - als Arrangeur von Troilo. Als Kostprobe diene "Tanguango", komponiert und arrangiert von Piazzolla: >>http://www.youtube.com/watch?v=1ntyQNNpCQQ<<

Allen einen schönen Sonnentag.



cassiel hat gesagt…

[Teil 1 von 2] Da sind ja einige schöne Kommentare beigesteuert worden; ich bedanke mich sehr herzlich.

@Chris

Schön, dass Du noch einmal geschrieben hast. Selbstverständlich ist der Tango für uns West-Europäer primär ein Tanz. Ich denke - zumindest in der älteren Generation - in Argentinien ist das anders. Es gibt von Monica Paz bei YouTube eine eindrucksvolle Serie von Video-Interviews mit den älteren Tangueras und Tangueros, in denen die ganze Bandbreite der Bedeutung des Tangos für Einzelne deutlich wird. Auch in dem Interview mit Carlos Gavito, das ich im Text verlinkt habe, kann man lesen, wie der Tango auch ihre jeweilige Existenz mit geformt hat. Vor diesem Hintergrund plädiere ich für ein wenig Sorgfalt mit dem „geborgten Kulturgut“.

Ich persönlich neige zu der Auffassung, dass der Tango eben eine eigenständige kulturelle Leistung der noch jungen Einwanderergesellschaft am Rio de la plata ist. Daran ändern auch die afrikanischen und europäischen Wurzeln nichts.

@Araja

Vielleicht eine Klarstellung: Mit den Weiterentwicklungen im Tango spiele ich auf einen Gedanken aus dem bereits erwähnten Interview mit Carlos Gavito an. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann sieht er Versuche, den Tango durch äußere Einflüsse (er nennt als Beispiel die Musik von Narcotango) zu ändern. Er betont aber, dass eine Veränderung aus dem Tango kommt. Dann ist es für ihn eine Weiterentwicklung. Für andere Stömungen schlägt er das Etikett Mamborambo vor.

Und zu Deiner Einschätzung von Christians Wortmeldung ergänze ich vielleicht: Christian ist sich bewusst, dass es drastische Begriffe sind (das hat er ja auch selbst geschrieben). Aber er spricht niemanden persönlich an, er etikettiert Strömungen (die ich ähnlich sehe, aber anders beschreiben würde).

cassiel hat gesagt…

[Teil 2 von 2] @DrR

Vielen Dank für Deinen Beitrag. Mir ist er allerdings nicht differenziert genug, was Osvaldo Pugliese und Astor Piazzolla angeht. Da wird es in meinen Augen etwas arg pauchal. Pugliese sah sich nach meinen Informationen durchaus als Musiker für Tänzer und erst später spielte er konzertant (wie übrigens Aníbal Troilo auch). Piazzolla stand mit dem Tango als Tanzmusik so richtig auf Kriegsfuß (vgl. dazu den Link in Ergänzung 1 oben). Er wollte seine Kunst nicht als Tango gesehen haben. Das ist für mich ein deutlicher Unterschied. Natürlich sind die Titel aus den 40ern von Pugliese eine tänzerische Herausforderung und ich würde das als DJ bestimmt nicht in jeder beliebigen Umgebung spielen - ihn aber komplett zu übergehen halte ich für falsch.

@Sweti

Ich denke für müssen sauber trennen. Tango nuevo war zunächst die Bezeichnung für die Experimente von Astor Piazzolla erst später beanspruchten Naveira und Co diesen Begriff für ihre Form des getanzten Tangos. Ich stimme Dir zu, ob diese Form des Tanzes technisch die höchste Entwicklung darstellt, das müssen spätere Generationen entscheiden. Ich habe da so meine erheblichen Zweifel.

@Tan Guero

Vielleicht habe ich mich nicht präzise genug ausgedrückt: Natürlich gab es kaum harte Brüche. Es waren Strömungen die parallel existierten, aber über längere Zeiträume gesehen, entwickelte sich der Tango in eine gewisse Richtung. Auch ich bin als Gringo auf Informationen von Zeitzeugen angewiesen und bin natürlich ständig auf der Suche nach O-Tönen. :-) Wenn ich richtig informiert bin, dann verließ Astor Piazzolla das orquesta von Aníbal Troilo etwa zeitgleich mit Francisco Fiorentino. In einem Kommentar zu dem von Dir als Beispiel angeführten Video ist auch zu lesen, es handelt sich um das orquesta von Osvaldo Fresedo, der ja auch Ausflüge Richtung Jazz unternahm (u.a. Aufnahmen mit Dizzy Gillespie).

Tan Guero hat gesagt…

@ Cassiel

Piazzolla hat sehr eng mit Troilo zusammengearbeitet, nicht im Orchester, sondern als Arrangeuer. Von 1950 bis zu seiner Abreise nach Paris 1954 hat er meisten Stücke arrangiert (laut Booklets der "Archivo TK" Serie von EuroRecords). Contrabajeando, eines seiner letzten Stücke in BsAs, hat er gemeinsam mit Troilo komponiert.
Aber du hast recht, das YouTube-Video klingt leicht anders als die Troilo-Version auf der Archivo TK Vol. 1; also vermutlich Fresedo, der das Stück im gleichen Jahr aufgenommen hat – von Piazzolla komponiert und arrangiert.

cassiel hat gesagt…

@Tan Guero 

Ich mag da jetzt bestimmt keinen Disput mit Dir beginnen (dazu fehlt mir auch das Detailwissen). Ich denke aber, Deine Darstellung ist eine von mehreren möglichen Interpretationen der historischen Fakten. Ich habe gehört, dass Aníbal Troilo ein sehr großzügiger, fast weiser Orchesterleiter war. Er hat seine Musiker und Sänger unterstützt (wo immer es ging) und sie ziehen lassen, wenn sie meinten, sie würden sich in anderen Umgebungen besser verwirklichen können (so z.B. auch Francisco Fiorentino). Insofern ließen die historischen Daten auch eine andere Interpretation zu: Troilo hat Piazzolla eine Möglichkeit gegeben, Geld zu verdienen (soweit ich weiß, war sein Leben nicht immer materiell abgesichert). Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass Troilo seinem Arrangeur Piazzolla Noten aus den Arrangements herausgestrichen hat, weil sie „überflüssig“ waren. In dem oben verlinkten Portrait in der Zeitschrift Matices wird überdeutlich, dass Piazzolla auf einem anderen Weg war. Er wollte Musiker werden und es störte ihn wohl gewaltig, dass ihm der Stallgeruch des Tangos anhaftete. Auch das späte Konzert mit Osvaldo Pugliese wurde unter dem fast programmatischen Titel veröffentlicht: Finalmente juntos bzw. Finally together es war die späte Versöhnung zweier scheinbar unvereinbarer Interpretationsstile.

Ich will da keine Missverständnisse aufkommen lassen: Sehr gerne höre (!) ich Kompositionen von Astor Piazzolla (Oblivion oder Tristeza por un doble A mögen hier als Beispiele genannt sein) - aber solche Stücke höre ich, für die Milonga sind sie m.E. ungeeignet. Und es gibt auch schreckliche Kompositionen, die m.E. den Zugang zum Tango verstellen (so z.B. Libertango mit dieser in meinen Augen unsäglichen Interpretation im Film Tango Lesson). Ich hoffe, Du nimmst meine offenen Worte nicht als persönliche Kritik. Ich sehe aber die Person Piazzollas und sein Wirken im Tango sehr differenziert.

Ich wünsche allseits einen schönen und lauen Sommerabend... :-)

peter fangmeier hat gesagt…

@chris, ich trage seit 30 jahren hüte, täglich, und ich trage hosenträger als kleinen tribut an meine aktuelle figur...
im tango bin ich seit knapp 20 jahren unterwegs und trage dazu anzüge weil es mir so gefällt ! und ich fühl mit gut dabei (punkt)
peter fangmeier

peter angmeier hat gesagt…

p.s. @araja danke

cassiel hat gesagt…

@Peter

Nur zur Klarstellung: Bei meinen Zeilen hatte ich solche Stereotypen im Hinterkopf. Deswegen habe ich geschrieben. Derartige Bilder transportieren m.E. ein falsches Bild vom Tango - so wie Kuckucksuhr und Oktoberfest ein missverständliches Bild von Deutschland transportieren.

Tan Guero hat gesagt…

Cassiel,
wir müssen hier gar nicht disputieren, ich bin ganz deiner Meinung, sowohl in Sachen Milonga-Tauglichkeit von Piazzolla als auch, was seine Haltung zum "alten" Tango angeht (die damals noch eine Abneigung zum Tango generell war, bis er in Paris durch Nadia Boulanger "seinen" Tango entdeckte und damit praktisch wieder dorthin zurückkam, wo er 1951 mit "Tanguangó" fast schon war). Die Zusammenarbeit mit Troilo - wie eng auch immer - bestand, das zeigt der Output, ungeachtet der Art des Verhältnisses beider.
Nicht einverstanden - und darauf wollte ich eigentlich hinaus - bin ich mit deiner Ansicht des Bruchs Mitte der 50er. Putsch, Rock'n'Roll und Piazzolla hatten einen Einfluss, ja, werden aber m. E. überwebertet. Ehrlich gesagt, halte ich sie mittlerweise ebenso für Klischees wie Hut und Rose zwischen den Zähnen. Sie mögen einem siechen Patienten den Todesstoß verpasst haben, Auslöser für die Krankheit waren sie nicht. Diese Entwicklungen haben schon viel früher angefangen, vermutlich schon 1945.

cassiel hat gesagt…

@Tan Guero 

Eine interessante These formulierst Du da. Wo liegen denn Deiner Meinung nach die Ursachen für den schleichenden Niedergang des Tangos ab 45? Waren es äußere Gründe (Ende des Weltkriegs und Wegfall des Exports von Nahrungsmitteln aus Argentinien und damit verbunden wirtschaftlich schwierigere Zeiten) oder müssen wir die Gründe in der Musik suchen?

Ich bin noch immer auf der Suche nach einer Erklärung für den Wechsel zu langsameren Spielweisen (etwa 42/42) sehr auffällig bei di Sarli und Troilo. War das vielleicht der Anfang?

haribold hat gesagt…

Cassiels kurzer Abriss der Geschichte des Tango gefällt mir. Ein wenig habe ich mich auch schon damit beschäftigt und halte die kurze und bündige Cassielsche Darstellung für akzeptabel. Mir gefällt auch, dass Cassiel auf Dos und Don’ts weitgehend verzichtet hat. Das ist sehr wohltuend und war unter dem Obertitel "Knigge" nicht unbedingt erwartbar. Auch die sonst übliche EdO-Apologie findet sich allenfalls versteckt zwischen den Zeilen.

Was "die Ursachen für den schleichenden Niedergang des Tangos ab 45" anlangt, lautet meine These: Das Pferd EdO-Tango war musikalisch wie kommerziell totgeritten. Es musste was wirklich Neues kommen, wenn der Tango überleben wollte.

Was ich u.a. am Tango bewundere, ist seine Vitalität: Er erfindet sich immer wieder neu und strahlt weit in andere Gattungen wie den Jazz, die U-Musik, den Pop etc. aus. Insofern hat der Tango für mich eine ähnliche Bedeutung wie der Blues. Heute erfreut der Tango die Traditionalisten ebenso wie die musikalisch nicht Stehengebliebenen (das meine ich natürlich stereotypisch und nicht persönlich, gell!). Derzeit ist mir um die Zukunft des Tango nicht bang!

cassiel hat gesagt…

@Haribold, irgendwie kommt mir Dein Beitrag sowohl sprachlich als auch inhaltlich bekannt vor.

Leider isolierst Du Deine recht eigenwilligen Betrachtungen auf wenig Aspekte und versuchst den Tango wieder so hinzubiegen, dass er für Dich passt. Vielleicht schreibst Du ein eigenes Blog (falls Du es nicht schon längst tust) und stellst dort Deine recht gewagten Thesen zur Diskussion.

Und vielleicht noch eine Anmerkung zu Deinem Begriffspaar „Traditionalisten“ und die „nicht Stehengebliebenen“: Nach meinen Beobachtungen sind diejenigen, die Du als „nicht Stehengebliebene“ bezeichnest diejenigen, die sich vehement gegen Entwicklungen sperren. Sie beharren auf dem Tango den sie vielleicht vor einem Jahrzehnt glaubten erlernt zu haben und verteidigen diesen vehement gegen jede Verfeinerung bzw. Weiterentwicklung.

Christian Tobler hat gesagt…

@ Tan Guero,

dir empfehle ich die Lektüre eines Interviews mit Cacho Dante über seine Erlebnisse als Tänzer in den 50ern und 60ern. Er hat die abrupte Verdammung von Tango in Argentinien durch die Diktatur ab 1955 als junger Tänzer am eigenen Leib erfahren und für seine ungebrochene Liebe zum Tango Argentino als social dance lange Jahre einen hohen Preis bezahlt:

# http://cinema.argentango.ch/tango/pdf/Argentango-Milonga-5-Booklet.pdf
Das PDF ist für doppelseitigen Druck plus einmaliges Falten vorbereitet.

So ein Schicksal als Klischee abzutun halte ich für ziemlich frivol und einigermassen ignorant. Mit solcher Verniedlichung von Diktaturen beginnt Geschichtskittung. Diese Rose und diesen Hut wirst du daher ganz allein verspeisen müssen – wohl bekomm’s. Bereits vor 1955 war das Ausmass an Repression, welches die vorherige Diktatur zB auf Pugliese und jeden seiner Musiker ausübte enorm. Deswegen verliess Bandoneonist Caldara 1954 nach beinahe zehn Jahren Pugliese. Das Regime hatte Caldaras Familie über längere Zeit hinweg dermassen drangsaliert, dass der verzweifelte Musiker sich nicht mehr anders zu helfen wusste.

herzlich – Christian

Anonym hat gesagt…

Christian, kann man das nicht etwas verbindlicher formulieren? Wieso musst du sprachlich immer so draufhauen? Manchmal machst Du Dir viele Sympathien durch deine ruppige Form kaputt. Schade !!!

Chris hat gesagt…

@ Peter Fangmeier

einige würden sagen, idealerweise folgt die Form der Funktionalität, soviel zu den Hosenträgern.
Deine Facebookseite legt dagegen nahe, daß Du einen ganz individuellen Stil pflegst, mit hohem Wiedererkennungswert, und daß Du eher einen Schuh- als einen Huttick hast. Dies hat doch aber gar nichts mit Klischee zu tun.

@ Tan Guero
mir scheint deine These, der Tango habe sich als populärer Musikstil ganz natürlich überlebt, schlüssig. Es wäre ja auch keine ungewöhnliche Entwicklung.
Tango ist also derzeit eine Frage des Herzens, nicht der Nationalität oder einer Mode.

@cassiel so gesehen ist Tango dann auch ein Konzept im Ganzen, daß nicht wesentlicher Teile beraubt werden kann, ohne seinen Charakter, seine Seele zu verlieren. Insofern bin ich da schon bei Dir, wenn vielleicht auch mit anderer Begründung.

haribold hat gesagt…

@Cassiel:
Ich habe mich POSITIV über Deinen aktuellen Blog-Beitrag geäußert. Ich habe versucht, auf eine von Dir aufgeworfene Frage mit einer zumindest ziemlich plausiblen These zu antworten.

Warum reagierst Du darauf so aggressiv?

Was sollen Deine Unterstellungen? Und was willst Du mit Deiner kryptischen Beobachtung zu den Nicht-Traditionalisten sagen? Ich kann nicht folgen!

Du hast eingangs Deines Beitrags zu einer Debatte eingeladen, an der ich mich sachlich beteilige. Ich darf erwarten, dabei nach der von Dir wie mir gutgeheißenen Goldenen Regel behandelt zu werden!

cassiel hat gesagt…

Also Haribold, „aggressiv“ geht bei mir anders. In meiner Begriffswelt würde ich meine Äußerung auf Deinen Kommentar als „klar“ bzw. „deutlich“ etikettieren. Mir gehen dann irgendwann Begriffe, wie z.B. Dein wertendes Schlagwort: „nicht-Stehengebliebene“ auf die Nerven, deswegen habe ich mich davon klar distanziert. Ich schreibe seit gefühlten drei Jahren zur Musik und versuche mit immer anderen Worten und Beispielen zu belegen, dass zeitgenössische Musik m.E. für den Tango ungeeignet ist. Diese Äußerungen sind wohl komplett an Dir vorbei gegangen. Aber wir können uns gerne noch einmal darüber austauschen - ich bin geduldig. Dann wünsche ich mir aber von Dir eine saubere Argumentation, warum es denn nun ausgerechnet Nuevo, Neo bzw. Non in der Milonga sein soll.

Tan Guero hat gesagt…

@ Christian Tobler

Deine recht bluthochdruckartige Antwort versuche ich mal recht sachlich zu erwidern. Mir war es nicht darum zu tun, irgendeine Diktatur zu relativieren, zu verniedlichen oder persönliche Schicksale zu diffamieren. Nicht das Ereignis selbst halte ich für ein Klischee, sondern den Gebrauch des "Datums" als Begründung für den Niedergang des Tangos, als wäre es ein Meteoriteneinschlag gewesen. Ich dachte das genau so ausgeführt zu haben. Nun gut, es können ja nicht alle so gut hinlesen wie hinhören, für die tut es mir leid, wenn ich einen anderen Eindruck erweckt haben sollte. Und zur "Geschichtskittung": Beim Verwenden intellektueller Kampfbegriffe immer darauf achten, dass sie auch richtig geschrieben sind.
Danke aber für das Interview. Bestimmt hast du noch mehr konstruktive Beiträge zum Thema.

@ Cassiel und Peter Fangmeier
Über die Gründe des "Niedergangs" kann ich bislang nur spekulieren. Fakt ist, dass der Tango sich stetig weiterentwickelt hat und viele Orchester immer komplexere Arrangements einspielten. Es gibt vielleicht gute Gründe dafür, dass wir Heutigen auf Milongas uns im wesentlichen auf den Kern der EdO von 1935-1945 beschränken und späteres nur spärlich einstreuen, und Francini-Pontier ist dann meistens nicht dabei. Vielleicht haben das ja die Tanzenden damals ähnlich gefühlt. Viele Vielleichts. Belege, O-Töne und Zeitzeugen sind gerne willkommen. Denn vielleicht war ja auch alles ganz anders - 1948 die Popularität des Tanzes ungebrochen, die Zahl der Milongas immer noch so hoch wie 1941, und der Rückgang der Tonträgerproduktion hatte ganz andere Gründe, ebenso die kulturprotektionistischen Maßnahmen Perrons.

Theresa hat gesagt…

Ich lese bei Cassiel implizit und bei Christian Tobler explizit das Bedürfnis, den Tango als Kultur insgesamt zu würdigen und dieser Kultur, aus der Ferne sozusagen, da wir nicht Teil von ihr sind, Respekt zu erweisen.

Im Umkreis des Tango ist in Argentinien (und anderswo) ein sehr reichhaltiges Ensemble von Musik, Dichtung, Tanz, Sitten und Gebräuchen entstanden. Ich erforsche und genieße mit großem Interesse Teile dieses Ensembles. Aber ich weigere mich, der Tango-Kultur, sofern sie irgendwie bestimmbar und eingrenzbar ist, insgesamt pauschal Respekt zu erweisen.

Für mich sind es – sehr viele – einzelne Werke aus dieser Kultur, die ich entdecke und lieben lerne. Andere Teile sagen mir nichts oder ich finde sie befremdlich, z.B. viele Tango-Texte, die die Attitüde des verlassenen Mannes, der die Frau, die ihn verlassen hat, als Verräterin beschimpft, ohne zu thematisieren, was der Konflikt in der Beziehung war. Für mich als Frau, die nicht Eigentum eines Mannes sein will, sind diese Texte Zeugnis einer Gesellschaft, in der nicht gelebt zu haben ich froh bin. (@Cassiel: Banal oder kitschig sind die Texte eigentlich nicht, sie sind oft tolle Dichtung, aber die Subjektivität, die dort in der Dichtung dargestellt wird, ist uns eher fremd). Die Tangos mit diesen Texten sind oft geniale Kunstwerke, die ich gerne auflege. Aber Respekt habe ich nicht vor ihnen.

Wie anders als subjektiv soll der Zugang zu dieser Kultur sein? Was gibt es daran zu kritisieren, wenn Leute aus Europa sich subjektiv zum Tango stellen, und sich die Musik und die Tanz-Elemente heraussuchen, die sie ansprechen? In Argentinien sind die meisten Leute begeistert vom Tango Canción, sie kennen die Texte und können die Lieder singen, aber der Tanz interessiert sie nicht. Wieso sollen wir als Nicht-Argentinier jetzt alles interessant und würdigenswert finden? Wenn ich in eine gotische Kirche gehe und die Architektur toll finde, habe ich deswegen noch lang keinen Respekt vor der Kirche im Mittelalter und der Inquisition und der Ausbeutung der beim Kirchenbau beschäftigen Leibeigenen. Ich kann mir natürlich ein Urteil über die Kultur als Gesamte bilden, aber das ist nicht unbedingt positiv.

Völlige Zeitverschwendung finde ich daher den Streit, ob irgendwas noch Tango ist oder nicht mehr. Wenn man sich entscheidet, sich subjektiv zum gesamten Umkreis des Tangos zu stellen, erledigt sich die Frage sowieso, ich beschäftige mich mit der Musik, der Dichtung und den Tanzelementen, die mir zusagen. Wenn ich aber den Anspruch habe, den Tango als Gesamten zu würdigen, dann kommen die allerschwierigsten Abgrenzungsfragen auf.

Theresa

haribold hat gesagt…

@Cassiel:
Es gehört zu Deinem Repertoire, Dir unangenehme Fragen unbeantwortet zu lassen. Auch nicht gerade Goldene Regel.

In Deinem Artikel geht es um die Geschichte des Tango. Den Beginn verortest Du
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ok. Dann haben wir jetzt grob 130 Jahre Geschichte und Entwicklung des Tango. Davon nimmt die EdO 20 bis 30 Jahre (da lese ich unterschiedliche Zeiträume) ein. Also ein Viertel bis ein Fünftel der musikalischen Lebenszeit des Tango. Seit ca. 60 Jahren ist die EdO vorbei. Der Tango aber lebt und hat sich (musikalisch wie tänzerisch) weiterentwickelt!

Die Traditionalisten lieben die Musik der EdO. Nur das ist (der wahre) Tango für sie. In Ordnung. Aber sie sind halt stehengeblieben in einer inzwischen musealen Tangoepoche, deren Protagonisten längst auf dem Cementerio de la Chacarita oder anderswo begraben liegen. - Der Tango dagegen ist lebendig geblieben und hat sich weiterentwickelt. Nicht von allein. Da gab und gibt es Menschen, die nach der EdO und bis heute Tangomusik machen und Menschen, die diesen modernen Tango (auch) mögen und (auch) darauf tanzen. Die sind musikalisch nicht stehengeblieben! Soweit die Fakten. Die Wertung, welche Du mir unterstellst, findet in DEINEM Kopf statt.

Tja, und der Nontango. Kein Tango, warum soll man dann Tango darauf tanzen? Wer's mag und wem's Spaß macht: Warum denn nicht?! Alle anderen werden nicht dazu gezwungen.

Was mich betrifft: Gute EdO-Stücke sind für mich die Sahnetorte im Tango! Aber von zuviel Sahnetorte wird mir dann doch übel!

Lydia hat gesagt…

Ich habe lange überlegt, wie ich das, was mich zu diesem Thema umtreibt, in Worte fassen könnte. Jetzt ist mir Theresa zuvorgekommen und hat das, was mir nur unförmig im Kopf herumschwamm, trefflich formuliert. Insbesondere was die Texte betrifft. Danke, Theresa!

Tan Guero hat gesagt…

@ Theresa:
Deine Einstellung zu einer Art generellem Respekt kann ich teilen. Ich weiß auch gar nicht genau, wie ich das anstellen sollte.

Bei deiner Textinterpretation wünschte ich mir allerdings eine etwas differenzierte Betrachtung (oder etwas mehr Respekt ;-), auch weil ich denke, dass du das kannst und vermutlich sehr viel besser Spanisch sprichst als ich.

Dazu gehört zum einen die Einordnung in den zeitlichen Kontext. War das Frauenbild zu jener Zeit in Deutschland so viel anders? Ehrlich gesagt bin ich froh, überhaupt erst heute zu leben und nicht damals. Und so sind die Texte eben zu sehen: als Resultate ihrer Zeit und nicht als Handlungs- oder Denkanweisung für die heutige.

Dann gibt es eine ganze Reihe von Texten, die mit diesem Topos "Frau verlässt Mann" spielen und ihn sogar umdrehen, allen voran das fantastische "En esta tarde gris" von José María Contursi (Musik: Mariano Mores), in dem der Mann sich selbst anklagt, seine Liebe verlassen und trotz ihres Flehens nicht zu ihr zurückgekehrt zu sein. Ähnlich der Vals "Flores del alma" von Lito Bayardo und Alfredo Lucero (Musik: Juan Larenza), wenn auch weniger drastisch und mit einem etwas ambivalenten Ende. "Después" (Homero Manzi, Musik: Hugo Gutiérrez) besingt - soweit ich das verstehe - das Ende einer Liebe, aber ohne eine Schuld zuzuweisen.

Aber trotzdem, irgendwas passt hier nicht. Hochbegabete Dichter - die literarische Qulität vieler Texte entspricht m. E. dem Niveau der Muisk - besingen sehr kunstvoll ein völlig banales und klischiertes Thema? Mmmh ... Vielleicht muss man genereller ansetzen und sich fragen, warum das Thema der tragischen Liebe im Tango so dominant ist. Nun ist Liebe das vorherrschende Thema in wohl jeder Tanzmusik, aber mit dieser tragischen Note kenne ich das sonst nur vom Blues. Endeten die Beziehungen häufiger und tragischer als anderswo? Zweifeln erlaubt.
Gewagte These: Das Thema ist ein Reflex auf die repressiven politischen Verhältnisse, die in Argentinien eher die Regel als die Ausnahme waren. Die 30er Jahre sind bekannt als die "Década infame" mit einer Scheindemokratie, deren vom Militär geduldeten Regierungen das Volk als nicht reif für die Demokratie erklärten und den "Patriotischen Wahlbetrug" für legitim erklärten. Der einzige mir bekannte Tango, der hierauf direkten Bezug nimmt, ist "Cambalache" von Enrique Santos Discépolo (Text und Musik) von 1934, eingespielt von Lomuto 1934 und Canaro 1935 - und danach erst mal verboten, bis Perón die Zensur lockerte (Aufnahmen 1947 von D'Arienzo und Caló). Derart drangsaliert, machtlos und von der Politik enttäuscht, ziehen sich die Dichter in ihren Themen zurück auf das Allerprivateste: die Liebe; die aber natürlich gar nicht glücklich sein kann unter solchen Verhältnissen. Auch wenn ich nicht der Ansicht bin, dass die Texte in einer Art Verschlüsselung oder "Doppeldenk" auf die politischen Verhältnisse anspielen wollten, bekommen sie trotzdem, vor diesem Hintergrund gesehen, eine andere Farbe und verdienen eine andere Betrachtungsweise.

Theresa hat gesagt…

@Tan Guero

Mein Beitrag sollte keine allgemeine Interpretation von Tango-Texten sein. Ich habe Texte des Typs "Die Schlampe hat mich verlassen" erwähnt, um zu begründen, dass es für mich keinen Grund gibt, der Tango-Kultur grundsätzlichen Respekt entgegenzubringen.

Die historische Einordnung ist ein ganz anderes und sehr interessantes Thema (und in der Tat gab es eine Veränderung, wie die Beziehung zwischen Mann und Frau in Tango-Texten vorkommt, angefangen vielleicht mit Discépolo's "Confesión"). Vielleicht schreibe ich dazu später noch was. Aber momentan ging es mir nur um einen Kommentar zur Einforderung von Respekt gegenüber einer Kultur, nur weil sie eine Kultur ist.

Theresa

die A. hat gesagt…

Ich bin durch und durch begeistert. Vielen Dank an Tan Guero und all die Anderen, die wertvolle Beiträge geliefert haben. So langsam eröffnet sich mir ein weiterer Horizont im Tango. Ich lerne gerne dazu und bin weiterhin wissbegierig. Und nicht zu vergessen, Dank an Cassiel. Was Du geleistet hast ist einzigartig. Ich bleibe eine treue Leserin

Anonym hat gesagt…

Theresa, da hast Du Dich wieder einmal ganz doll vergaloppiert. Wer keinen Respekt gewährt, kann keinen Respekt erwarten. Denk mal darüber nach. Die Situation der Frau in Deutschland vor, während und nach dem 2. Weltkrieg war nicht komfortabler, als die der Frau in Argentinien. Unter dem Nationalsozialismus als stämmige Gebärmaschine, während dem Krieg als vollwertige Arbeitskraft und nach dem Krieg als vergewaltigte (im Osten) Trümmerfrau. Argentinien blieb in diesen Jahren vom Krieg verschont. Diese Woche ist im Fernsehen ein Film zu sehen der zeigt, warum der in unserem Grundgesetz 1948 verankerte Artikel 3, Absatz 2 (Männer und Frauen sind gleichberechtigt) nur unter enormem Widerstand Gesetz wurde. Trotzdem ist die Bilanz in Sachen Gleichberechtigung bis heute ernüchternd. Die vollständige Anpassung des BGB für diesen Artikel war erst 1957 abgeschlossen, die freie Berufswahl erst 1977 und der Anspruch auf gleiches Entgelt erst 1980. Aber in der Realität ist nicht nur der letzte Punkt gar nicht flächendeckend umgesetzt. Vielleicht lebst Du in einer Parallelwelt.

Chris hat gesagt…

@ Theresa...danke für dein profundes Wissen und die kritischen Anmerkungen. Die Rolle der Frau bzw. das Verhältnis der Geschlechter im Tango, in den Texten einerseits und in der Tanztechnik andererseits, das ist ein interessantes Thema.
Du weißt, ich spreche kein Spanisch, und daß ich die Inhalte auch gar nicht wissen will (ich bin da sehr am schwanken, ob das gut ist oder schlecht). Wenn Du mir Texte aus der Edo übersetzt, bremse ich Dich ein, weil ich die besser gar nicht verstehen will, die wundervolle Musik und dann die kleingeistige Prosa. Es würde mich dennoch interessieren, ob sich das Verhältnis der Geschlechter im Laufe der Zeit in den Texten verändert hat.

Bevor wir jedoch den Stab brechen über die argentinischen Texter dieser Zeit, wie verhielt es sich denn mit Texten aus dieser Zeit in z.B. Spanien? War dies ein Ergebnis aus Zeit und Kultur, oder ein speziell argentinisches Phänomen, vielleicht geschuldet dem 'Männerüberschuss'?

Andererseits: Das Intro von Cassiel war ein Zitat: "Kultur ist die Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes". Damit inkludiert also auch die Texte des in dieser Phase äußerst populären Tango, und damit eine stimmgewaltige Lebensäußerung der Argentinier dieses Zeitraumes. Nun würde es mir nicht soviel ausmachen, wenn der Tango auch ein bißchen dreckig, prollig, ungerecht und klagend ist, und wenn man ihn deswegen nicht auf einen Sockel hebt. Denn was man ehrt, ist oft schon tot ;-)

Theresa hat gesagt…

@ Anonym 17:06
Ich weiß nicht, warum du mir die Situation der Frau in Deutschland früher und heute vorhältst. Ich habe doch gar keinen Vergleich zwischen Argentinien und Deutschland gemacht. Sondern nur gesagt, dass ich froh bin, nicht in einer Gesellschaft gelebt zu haben, wo die besitzergreifende Attutüde des Mannes gegenüber der Frau das Normale war.

Theresa hat gesagt…

@ Tan Guero

Das stimmt, dass die Attitüde des Mannes gegenüber der Frau, wie sie in den Tango-Texten zum Ausdruck kommt, sich geändert hat, selbstkritischer geworden ist. Das hat zu tun mit der Änderung der Rolle der Frau, die ab den 30er Jahren zunehmend ins Arbeitsleben eingetreten ist und dadurch erstmals nicht zwingend als Anhängsel des Mannes existieren musste.

Und es stimmt auch, dass im Tango die Tragik in den Texten über die Liebe besonders ausgeprägt ist. Die gescheiterte Liebe mündet in Selbstzweifel , Verzweiflung bis hin zum Selbstmord. Das gibt es im richtigen Leben überall, aber auf kunstvolle Weise besungen wurde es besonders im Tango.

Übrigens auch Mord und Totschlag. In den Tangos "De puro guapo" (Übersetzung auf http://thesleepmeister.typepad.com/tango_decoder/2014/01/de-puro-guapo-1927-murder-at-a-milonga.html), "Como lo quiso Diós" (ich habe keine Quelle für den Text) und "A la luz del candil" (Übersetzung auf http://www.eltangoteespera.com/2012/03/la-luz-del-candil.html) wird von Morden an der untreuen Frau (und evtl. auch ihrem Liebhaber) so erzählt, dass der Mord für den Mörder in seinem selbstgerechten Standpunkt logisch war. Bei der sehr drastischen Mordschilderung in dem wohl später entstandenen "Un crimen" hingegen klagt sich der Mörder selbstkritisch an als derjenige, der die Beziehung kaputt gemacht hat.

(Beim Blues kenne ich mich nicht so gut aus, aber ein ähnlich drastischer Text von Eric Burdon ist mir im Ohr "As the years go passing by" http://www.youtube.com/watch?v=MOkp5bsYgXU , ab Minute 7:00 stößt er beklemmende Drohungen aus).

Christian Tobler hat gesagt…

@ Anonym 21. Mai 2014 15:21,

Teil 1: Du empfiehlst mir, meine Reaktion auf Tan Gueros Kommentar verbindlicher zu formulieren. Rückwirkend betrachtet muss ich zugeben, dass ich gelassener hätte reagieren, freundlicher hätte formulieren können. Ein Stück weit kann ich dich also verstehen.

Allerdings gibt es manchmal gute Gründe eine Antwort sehr dezidiert zu formulieren? In diesem Fall zB hielt ich es aus inhaltlichen Gründen nicht für angebracht, verbindlicher zu bleiben. Das ist keine Frage des Blutdrucks, sondern der Dimension. Tan Guero schrieb: „…bin ich mit deiner Ansicht des Bruchs Mitte der 50er. Putsch, Rock'n'Roll und Piazzolla hatten einen Einfluss, ja, werden aber m. E. überbewertet. Ehrlich gesagt, halte ich sie mittlerweile ebenso für Klischees wie Hut und Rose zwischen den Zähnen. Sie mögen einem siechen Patienten den Todesstoß verpasst haben…“

Damit relativiert Tan Guero die Menschenrechtsverletzungen von Putschisten, das Gewalt-Regime einer nicht demokratisch legitimierten Gruppierung, die sich einen Teufel um Grundrechte und Humanität scheren. Das ist kein irrelevantes Klischee wie die Kombination Rose im Maul plus Hut auf dem Kopf im Tango. Das ist aber nicht auf dich gemünzt, Peter Fangmeier. Hier ging es oft genug um Leben und Tod. Ich kenne persönlich eine Frau, die während der Diktatur 1955/83 – das war natürlich keine homogene Geschichte, schon klar –  als kleines Kind ihren Eltern geraubt und bei einem regimetreuen Paar zwecks moralisch einwandfreier, sprich regimetreuer Aufzucht plaziert wurde. Das damit verbundene Trauma verfolgt beide Elternpaare und das zum Spielball gemachte Kind, heute natürlich längst erwachsen, ein Leben lang. Dieselbe Diktatur hat zehntausende von Menschen umgebracht und viele von ihnen vorher bestialisch gefoltert.

Eigentlich sind wir mit Tan Gueros fraglichem Kommentar mitten im Thema, welches Cassiel uns in diesem Thread vorgesetzt hat. Tan Gueros Äusserung ist ein typisches Beispiel für jene Art, wie manche Menschen mit dem Kulturgut Tango Argentino und seinem Umfeld umspringen. Mag sein, dass diese Äusserung nicht typisch für Tan Guero ist. Das ist aber ein anderes Thema. Für mich der fragliche Kommentar bereits Kulturimperialismus. Jede Diktatur ist ein Alptraum, ganz besonders für Kulturschaffende. Noch viel mehr gilt das für jeden Putsch mit seinen meist gewalttägigen Ausschreitungen den darauf folgenden Abrechnungen. So was lässt sich gar nicht überbewerten, wirkt in jeder Gesellschaft massiv traumatisierend nach – über Jahrzehnte hinweg. Argentinien ist dafür exemplarisch und inzwischen ist das einigermassen dokumentiert.

Christian Tobler hat gesagt…

Teil 2: Die wenigen Gespräche, welche ich mit Zeitzeugen der 50er in BA geführt habe, bestärken mich in der Ansicht, dass der Putsch von 1955 und die sich daraus im Alltag ergebenden Konsequenzen für tanzbaren Tango Argentino einem Metheoriteneinschlag gleichkamen. Versammlungen von mehr als zwei Personen bedurften plötzlich einer Bewilligung. Und die wurde vielen Milonga-Betreibern nicht mehr ausgestellt, weil die Machthaber tanzbaren Tango den Garaus machen wollten. Also mussten Milonga-Betreiber auf einen anderen Tanz ausweichen, ihren Tanzschuppen schliessen oder in die Illegalität abtauchen. Tango-Tänzer, die sich von diesen Vorschriften nicht abhalten liessen, wurde auf dem nächtlichen Heimweg häufig aufgegriffen, auf die nächste Polizeistation verfrachtet, dort stundenlang festgehalten und massiv eingeschüchtert.

Ich bin der Ansicht dass man so was weder klein reden darf – deshalb der Vorwurf der Geschichtskittung –  noch mit harmlosen Attributen wie Rose und Hut auf eine Stufe stellen und damit verniedlichen darf. Natürlich hat der Niedergang tanzbaren Tango viele Jahre früher seinen Anfang genommen. Die Politik ab 1955 war für Milonga-Besucher trotzdem ein einschneidender Wendepunkt, von dem tanzbarer Tango sich nie mehr erholt hat, weil damit die sowieso schon schwächer gewordenen Strukturen eines ehemaligen Mainstream-Genres vollends zerschlagen wurden.

Nicht mal das vermutlich schönste Milonga-Lokal in BA, das exklusive Chantecler hat es geschafft, das Ende der 50er zu überleben. Es ist kein Zufall, dass die oft gezeigten TV-Videos von d’Arienzos Auftritten von Ende 50er, Anfang 60er nie Tänzer zeigen. Tango Argentino als social dance tanzen war damals unschicklich. Darum wurde so was in der Glotze nicht gezeigt. Was blieb, war Tango als konzertantes Ereignis und Exportgut zwecks Deviseneinnahmen. Und als diese Politik 1983 endlich ein Ende fand, waren die Brücken längst abgebrochen, fehlten tanzbarem Tango Argentino eineinhalb Generationen Musiker und Tänzer, Veranstalter und Arrangeure –  und noch viel mehr.

Nachdem Tan Guero sich inzwischen in diesem Thread mehrmals differenzierter geäussert hat, sehe ich seine ärgerliche Äusserung in einem anderen Licht –  aber so verständlich, wie er meist sich geäussert zu haben, hat er den fraglichen Kommentar nicht formuliert. Ein freundliches Nachfragen meinerseits auf diesen einen problematischen Kommentar wäre aber angebracht gewesen. Da gebe ich Dir recht, Anonym 21. Mai 2014 15:21.

herzlich –  Christian

Tan Guero hat gesagt…

@ Christian Tobler

Natürlich hast du Recht: Der Putsch 1955 hatte massive Auswirkungen auf die Tangokultur. Ich will das auch nicht kleinreden und schon gar nicht die persönlichen Schicksale relativieren. Etwas lächerlich finde ich, mich hier offenbar erklären zu müssen, dass ich von diesen Auswirkungen weiß und Diktaturen schrecklich und inakzeptabel finde etc. Nun gut, wenn es denn sein muss. Du kriegst offenbar schnell was in den falschen Hals, das finde ich schade. Vielleicht war meine Aussage dazu angetan, aber man kann sie auch anders interpretieren.

Also noch mal: Nicht der Putsch selbst ist ein Klischee, sondern das Argument "Putsch = alleinverantwortlich für das Ende des Tangos". Immer so vorgebracht, als bestünde eine bis dahin ungebrochen blühende Tangokultur in allen Facetten von 1935 bis 1955. Das ist für mich Geschichtsklitterung (bitte nicht Geschichtskittung): Zusammenhänge auszublenden. Vielleicht sind diese Zusammenhänge ja unbedeutetend, aber außer Angriffen auf mich hast du dich mit meinen Beiträgen nicht beschäftigt.

Geschichtsklitterung ist auch, das Schicksal der dir persönlich bekannten Frau in einen vagen Zeitraum von 38 Jahren zu stellen. Kannst du hier kein genaues Datum nennen oder den Zeitraum eingrenzen? Die Diktaturen vor 1976 mögen schlimm gewesen sein, aber die Junta von 1976-1983 übertrifft sie an Brutalität und Schrecken beiweitem. Das auf eine Stufe zu stellen finde ich ungehörig. Also bitte mehr Präzision.

Tan Guero hat gesagt…

@ Theresa

Nochmal zu den Texten. Vorher habe ich mich nicht so intensiv damit beschäftigt, aber jetzt, nach dem Lesen einiger Übersetzungen, entspinnt sich ein sehr viel differenzierteres Bild, weitaus weniger stereotyp und schwarz/weiß, als ich vorher selbst gedacht hatte.

Es stimmt, dass so einige Tangotexte die Frau für das Ende der Liebe verantwortlich machen, aber weniger als gedacht. Viele besingen das Ende der Liebe, ohne eine Begründung oder Wertung abzugeben. Es ist nur immer so, dass der Mann wünscht oder die Frau beschwört, sie möge doch zurückkommen, z. B. "Vuelves". Aber das findet man auch in moderner Popmusik häufig genug. Und beschreibt es nicht einfach eine der extremsten Gefühlslagen, zumindest der Jugend (auch der unsrigen)? Eine sehr drollige Wendung nimmt das übringens in "Charlemos", wie man hier nachlesen kann: http://poesiadegotan.com/2013/05/22/charlemos-1940/

Dann gibt es, wie gesagt, immer noch viele, die der Frau die Schuld für das Ende der Beziehung geben oder sie sogar als als niederträchtig hinstellen: "Mientas", "La bruja", "Mandria", um drei von D'Arienzo mit Alberto Echagüe eingespielte Stücke zu nennen.
In diese Kategorie gehört auch "Rondando tu esquina": Der Verschmähte streicht schmachtend um die Hausecke seiner immer noch Angebeteten, in der Hoffnung, sie möge sich zeigen, damit er reinen Tisch machen und ihr vergeben könne – zumindest gilt das für den Originaltext, besungen von Ángel Vargas im Orchester von Ángel D'Agostino. Osvaldo Pugliese hingegen, der das Stück mit Roberto Chanel eingespielt hat, ändert kurzerhand die ersten zwei Verse: Der Mann will nun seine Flamme schlicht nur vergessen, fühlt aber nach wie vor das starke Verlangen sie zu sehen. Von Vergeben (und damit vorheriger Schuldzuweisung) keine Spur mehr. (http://poesiadegotan.com/2011/12/02/rondando-tu-esquina-1945/) (Übrigen ein schönes Werwolf-Motiv: der nachts rastlos schmachtend um die Ecken streifende Mann).

Und dann gibt es jene Texte, die von roher Gewalt berichten. Aber auch hier lohnt eine differenzierte Betrachtung. Nehmen wir die von dir erwähnten. In "A la luz del candil" (1927) bezeichnet sich der Gaucho selbst als "criminal", zeigt sich selbst an und übergibt sich der Justiz. Er hat sogar die Beweisstücke im Koffer dabei: Die Zöpfe seiner Liebsten und das Herz seines schurkischen Freundes. Ob "la infamia" (Schande, Schmach, Niedertracht), die diese grusligen Mitbringsel beweisen sollen, der Betrug ist, den er erlitten hat, oder der Doppelmord, bleibt offen: weder heißt es "su infamia" noch "mi infamia", sondern "la infamia".
In "De puro guapo" in der Version von 1927 distanziert sich der Text sogar klar vom beschriebenen Mord, indem er sich keineswegs mit ihm identifiziert oder die Tat gutheißt, sondern ihn im Gegenteil als lächerliche Figur hinstellt. (http://thesleepmeister.typepad.com/tango_decoder/2014/01/de-puro-guapo-1927-murder-at-a-milonga.html)

Ebenso wie im erstgenannten wird hier das Geschehen nicht glorifiziert, sondern recht nüchtern beschrieben. Wir dürfen sogar vermuten, dass der Autor einen solchen Mord selbst miterlebt hat. Das Messer saß vielen sehr locker. Michael Lavocah (Autor der auch auf Deutsch erschienenen "Tangogeschichten") fragte einmal einen alten Milonguero (oder war es Alberto Podestá?) nach dem Hauptunterschied zwischen den Milongas damals und heute. Antwort: Es gab mehr Prügeleien.
Übrigens: Im oben erwähnten "Mandria" (Text von 1923) enthält sich der Sprecher der Gewalt gegen seinen Rivalen und stellt seinen Verhalten als wahre Überlegenheit dar.

Zahlreiche Textübersetzungen (ins Englische) lassen bequem sich auf der Website http://www.tangotranslation.com/ über eine Suchmaske finden.
Spannende Lektüre allerseits.

chamuyo hat gesagt…

Ein Aspekt des sog. Untergangs der Tanzkultur ab den späten 40'er ist m.E. nicht erwähnt, das schnöde Geld. Argentinien hat im Krieg immens profitiert, indem es Nahrung an beide Parteien geliefert hat. Das brachte viel Wohlstand ins Land, von dem ein große Mittelschicht profitierte. Mit dem Ende des Kriegs konnten Amerika und Europa sich wieder selbst um die Versorgung kümmern und die Exporte gingen stark zurück. Es war einfach nicht mehr genug Geld zum Ausgehen da. Dann bleibt man lieber zu Hause und hört Radio. Die anderen Einflüsse wie Politik und Rock greifen zusätzlich ein. Die Musiker selbst sind nicht der Motor de Entwicklung gewesen, sie haben vielmehr auf die Marktentwicklung reagiert. Der Wechsel von einem Orchester (10-15 Musiker) zu einem Quintett heißt nur, dass man nicht mehr 15 Leute bezahlen kann, sondern bestenfalls 5. Und wenn es sowieso keine Engagements gibt, und man die Brötchen anders verdienen muss, kann man auch das spielen, was einem selbst Spaß macht, oder nur eine kleine Gruppe von Fans interessiert.

Anonym hat gesagt…

kann hier zwar nicht wirklich mitreden, aber sitze genüßlich im Schaukelstuhl und höre hochinteressiert den Stimmen zu … Danke. Araja.

cassiel hat gesagt…

[Teil 1 von 2] In den letzten Tagen fand sich leider keine Zeit, hier noch einmal auf die aufgelaufenen Kommentare zu antworten. Das hole ich jetzt nach.

@Theresa (22.05. 02:33h)
Wenn Du den Eindruck gewonnen haben solltest, ich würde hier dafür plädieren, irgendeinen Respekt dem Tango als Kulturgut an sich zu erweisen, dann habe ich mich wohl nicht präzise genug ausgedrückt. Respekt nur um des Respektes willen ist natürlich grober und inhaltsleerer Unfug. Mir ging es zunächst einmal darum, dass man sich bewusst wird, wir gehen alle wie selbstverständlich mit einem kulturellen Erbe um. Für mein Empfinden wird durch diesen Umstand auch begründet, dass man ein wenig Sorgfalt walten lässt. Nichts anderes wird auch nach meiner Wahrnehmung durch die Verleihung des Status' Weltkulturerbe durch die UNESCO beabsichtigt. Wie eng bzw. wie weit man dieses Abstraktum Tango definiert ist sicherlich Gegenstand intensiver Überlegungen. Mir ging es zunächst darum, ein Bewusst sein zu schaffen (bzw. zu fördern) bevor wir in eine inhaltlich Diskussion einsteigen.

Im Verlauf der Diskussion sind wir dann so nebenbei bei einem Kernproblem der Methodendiskussion in vielen Geisteswissenschaften gelandet. Ist etwas aus sich heraus erklärbar, oder beziehen wir zusätzliche Informationen (z.B. sozio-kultureller Hintergrund bzw. Biografie der Akteure) in unsere Überlegungen mit ein. In den Literaturwissenschaften wurden und werden lange Diskussionen über die Frage der Interpretation von Texten geführt. Ist ein Text nur aus sich heraus analysierbar bzw. erklärbar (also losgelöst vom Autor und seiner Interaktion mit seiner Umwelt). Oder fließen Informationen über sein Biografie und sein Umgebung zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes in den Versuch einer Interpretation mit ein. Soweit mir bekannt ist, ist die Diskussion über die Methoden in den Literaturwissenschaften bislang nicht abgeschlossen, also werden auch wir uns mit diesen Fragen ewig auseinandersetzen.

Wenn Du es als Zeitverschwendung betrachtest, darüber zu diskutieren, was nun Tango ist bzw. was nicht mehr, dann ist das natürlich Deine zu respektierende Meinung. Ich stehe da auf einem anderen Standpunkt: Für mich lohnt das Nachdenken darüber, wie weit bzw. wie eng wir den Begriff Tango definieren immer.

@haribold (22.05. 08:29h)
Meine deutlichen Worte zu Deinen Einlassungen beziehen sich darauf, dass für mich eben der Begriff Tango nicht beliebig dehnbar ist. Für mich ist auch ein deutlicher Unterschied zwischen den klassischen Werken des Tangos und ihre zeitgenössischen Repliken bzw. Versuchen der Weiterentwicklung wahrnehmbar. Insofern kann ich Deinen Vergleich zwischen Tango und Sahnetorten nicht nachvollziehen.

cassiel hat gesagt…

[Teil 2 von 2] @Tan Guero
Bei Deinen Ausführungen über die Themen in den gesungenen Tangos fiel mir spontan das Stichwort vom Rückzug in das Private ein. Unter dieser Überschrift wurden gesellschaftliche Phänomene in der untergegengenen DDR nach dem Mauerfall diskutiert. Vielleicht ist das ein Aspekt, den wir in Diskussionen mit einbeziehen sollten. In nicht-demokratisch organisierten Gesellschaften war dieser Rückzug ins Private ein Ventil um die äußere politische Wirklichkeit zu handhaben. Vielleicht ist das ein weiterer Aspekt neben der kulturellen Entwurzelung aufgrund der Auswanderung in der damaligen Gesellschaft.

@chamuyo
Ich denke, das Ende des wirtschaftlichen Aufschungs in Argentinien aufgrund des Kriegsendes ist ebenfalls ein guter Kandidat für die Erklärung des Niedergangs im klassischen Tango. Das hatte ich gar nicht in meine Diskussion aufgenommen.

Wolfgang_wi hat gesagt…

Hallo zusammen, es ist derzeit nicht mein Ziel, eine eigene Theorie zu den Ursachen für den Niedergang des Tango aufzustellen oder mich für eine der angebotenen Theorien zu entscheiden. Ich möchte nur - @Anonym - eine kleine Reflektion über das Wortbild "Totengräber" anbieten. Ein Totengräber bringt eine Leiche unter die Erde. Weder ist es seine Aufgabe, den medizinischen Tod festzustellen und schon gar nicht ist er Ursache dieses Todes. Bestimmte Musiker als Totengräber zu bezeichnen funktioniert auf dieser Ebene nicht.

Spekulation: ist vielleicht "Verräter" im Sinn von "Meuchelmörder" gemeint? (hier fühlen sich vielleicht moch mehr Kommentatoren angesprochen). Statt sein musikalisches Talent in den Dienst einer bestimmten Sache zu stellen, machen sie etwas anderes und ziehen vielleicht einen Vorhang beiseite, zeigen damit, daß die bei Bühnenlicht noch recht lebendig aussehende sorgfältig geschminkte Figur im Tageslicht schon ein wenig wächsern aussieht?

Wie gesagt - eine Reflektion und ein "Alternativ-Spiel" mit Worten - meine persönliche Ansicht zum Vitalstatus des Tango ist durchaus vielschichtiger und möge bitte nicht von irgendwem auf "tot" oder "lebendig" verkürzt werden.

Christian Tobler hat gesagt…

@  Tan Guero,

Eigentlich bin ich immer noch der Ansicht, dass wir zwei uns mehr zu sagen hätten –  im Positiven. Aber irgendwie kommt es dazu nie.

Ich habe geschrieben: „…der Diktatur 1955/83 – das war natürlich keine homogene Geschichte, schon klar –  als kleines Kind…“. Wenn du meinen Einschub nicht beachtest und dann dessen Fehlen bemängelst, ist das dein Problem. Im Interesse der Präzision verlangst du ein genaues Datum. Aber die Antwort gibst du selbst. Und wenn mein Kommentar immer umfangreicher wird, beklagst du dich irgendwann über dessen Länge. Tan Guero, eine Debatte unter diesen Vorzeichen ist langweilig.

Als ehemals eidg. dipl. Legastheniker kommt es immer noch vor, dass ich nicht nur manche Buchstabendreher kaum sehe, sondern immer wieder die selben falschen, fehlenden oder überflüssigen Buchstaben übersehe. Und manchmal tritt dieses Problem massiert auf. Dazu stehe ich, es ist meine Schwäche. Aber falsch versteht mich nur, wer falsch verstehen will.

Du klagst: „aber außer Angriffen auf mich hast du dich mit meinen Beiträgen nicht beschäftigt.“ Auf deine letzten Kommentare bin ich nicht eingetreten. Aber nicht weil ich sie nicht gelesen habe oder nichts dazu anzumerken hätte. In diesem Thread gehen mir bisher zu viele Kommentare in eine Richtung die schlussendlich nicht zielführend ist, obwohl sie für sich allein betrachtet spannend sind. Wenn hier ein Dutzend Kommentatoren die Geschichte von Argentiniens Diktaturen oder tanzbarer Tango-Argentino-Musik nachzeichnen, beantwortet das Cassiels Fragen noch nicht. Das ist wichtig und interessant, sehr sogar. Darüber zu diskutieren hilft – dabei ins eigentliche Thema einzusteigen. Trotzdem fehlt dieser Schritt vorläufig.

In Cassiels Titel steht: Über den Umgang mit der Musik, den Texten und der Kultur im Tango – nicht: über die Musik, die Texte und die Kultur im Tango.

herzlich – Christian

Christian Tobler hat gesagt…

@ alle,

Teil 1: Es geht hier also nicht nur darum, was war. Hier geht es auch darum, wie wir damit umgehen was war. Ich halte den zweiten Aspekt für wichtiger.

Provokant formuliert könnte man zB sagen, die bisherige Debatte über Respekt ist eine Nebelkerze, weil ein so antiquierter wie egozentrischer Respektbegriff dazu benutzt wird, Respekt als etwas hinzustellen, worüber jeder nach eigenem Gusto verfügen soll. Im Zusammenhang mit Kulturgut ist Respekt als Feindbild zwecks Selbstbedienungsladen aber keine funktionierende Lösung. Konstruktiv angelegt hat Respekt ein anderes Gesicht, jenes der Selbstverantwortung. Ein anonymer Kommentator hat dazu ziemlich unfreundlich aber treffend kommentiert: „…Wer keinen Respekt gewährt, kann keinen Respekt erwarten…“ Ich möchte ergänzen: Erschliessen kann sich einem nur, was man mit Respekt behandelt.

Die bisherige Debatte über Emanzipation könnte man ebenfalls eine Nebelkerze nennen. Wie kann man behaupten in Europa wären es in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts um die Rechte der Frauen besser bestellt gewesen, als in Argentinien? So eine Sicht ist vermutlich falsch, aber vor allem zu eindimensional. Wer das nicht wahrhaben will, muss sich nur einige deutsche Filme aus den 50ern reinziehen. Ausserdem: Wo immer Männer öffentlich besonders grossmäulig herum krakeelen und auf dicken Max machen, hat daheim fast immer die Frau die Hosen an und duldet keinerlei Widerspruch –  Pantoffelhelden. Falls Cassiel mal einen Beitrag über Emanzipation im Tango Argentino schreibt, wird das bestimmt eine turbulente Runde werden.

Mir fehlen hier bisher Diskussionen darüber, inwieweit der Status von Tango Argentino als Kulturgut einen allzu arglosen oder egozentrischen, allzu konsumfixierten oder gaudiverliebten Umgang zu destruktivem Handeln mutieren lässt. Cassiel spricht von Kulturrelativismus, Kulturchauvinismus und ich ergänze Kulturimperialismus. Vielleicht hat sich bisher niemand auf diese Fragen eingelassen, weil diese Begriffe so abstrakt daher kommen. Sie handeln aber von sehr konkreten Geschehnissen. Und sie betreffen jeden einzelnen von uns Tänzer unmittelbar. Ausserdem betreffen sie nicht nur Gringos, sondern natürlich genauso Argentinier und Porteños.

Christian Tobler hat gesagt…

Teil 2: Im von Cassiel genannten Interview aus dem Jahr 2004 spricht Gavito dazu ein deutliche Sprache. Das Interview, welches Plebs 2009 mit Frumboli gemacht hat, halte ich für noch wichtiger. Es ist der Schlüssel zu enormen Fehlentwicklungen im Tango de Salon der vergangenen 15 Jahre. Lasst euch kein X für ein U vormachen: Es gibt nur Tango de Salon und Tango Escenario – alles andere ist Marketing-Quark für Gringos. So ehrlich wie in diesem Interview hat sich Frumboli nie zuvor und nie danach geäusst. Was Frumboli dort eingesteht, wird nach wie vor weitgehend totgeschwiegen, weil es das windige Geschäftsmodell vieler Lehrer – Europäer wie Argentinier natürlich – entlarvt. Es droht der Verlust von Status und Pfründe.

Gavito:
http://tangoplauderei.blogspot.ch/2012/12/Interview-2-Carlos-Gavito-Dez-2004.html

Frumboli:
http://www.eltangauta.com/nota.asp?id=1412&idedicion=0#nota-i ).

Beide Interviews zusammen sind ein guter Ausgangspunkt, um sich abseits abstrakter Begriffe mit der Frage zu beschäftigen, wo wir Tango de Salon, also social dance instrumentalisieren anstatt zelebrieren und damit diesem Genre Schaden zufügen, Schaden der nach kürzester Zeit auf uns zurück fallen wird.

So betrachtet stellt sich ständig die Frage, was wir mit dem machen, was wir im Tango Argentino vorfinden. Schwarzweiss formuliert: Bauen wir auf dem auf, was andere vor uns geschaffen haben oder trampeln wir auf Vorgefundenem rücksichtslos umher und drehen damit unser eigenes Ding, was mit Tango Argentino zwangsläufig kaum mehr was zu tun hat –  ganz egal wie oft wir aus Marketing-Gründen darauf als Köder das Etikett Tango kleben.

Tango Argentino wird nicht mehr verschwinden. Trotzdem ist Tango Argentino heute ist ein fragiles Gebilde. Diese Genre wird nie mehr über den Status einer Nische hinauswachsen. Die Zeiten, in denen praktisch jeder zweite Porteño intensiv Tango Argentino tanzte und alles 14 Radio-Stationen in BA täglich stundenlang Tango Argentino sendeten, sind 70 Jahre her und für immer vorbei. Und in Europa ist der grossen Tango-Argentino-Boom bereits im abklingen. Also stellt sich die Frage, wie können wir mit diesen Einschränkungen konstruktiv umgehen. Womöglich sind das gar keine Einschränkungen – falls wir einen angemessenen Umgang damit entwickeln.

Christian Tobler hat gesagt…

Teil 3: Ich kenne das Niveau des Tanzens an Milongas in BA in den 90ern nicht aus eigener Erfahrung. Aber ich kenne eine ganze Reihe von Porteños gut, die das für sich zurecht in Anspruch nehmen. Und alle sagen sie dasselbe: Das heutige Niveau auf Milonga in BA ist nicht mehr dasselbe. Weil viele Könner unter den Tänzer inzwischen gestorben sind und neue Tänzer kaum Persönlichkeit entwickeln. Frumboli beschreibt das im Interview. Daran kann sich nur was ändern, wenn wir etwa unternehmen.

In BA sind dafür ganz andere Dinge erforderlich als in Europa. Konzentrieren wir uns auf Europa. Bei uns wäre schon ein grosser Schritt gemacht, wenn es in jeder grösseren lokalen Szene eine einzige Milonga gäbe, die tatsächlich traditionell orientiert ist, anstatt sich lediglich so zu nennen. Ohne tolle traditionelle Milongas können mehr gute Tango-de-Salon-Tänzer gar nicht heran wachsen. Dazu braucht es Veranstalter, die nicht nach Quoten schielen und einen langen Atem haben. Dazu baucht es viel mehr gute DJs. Und dazu braucht es unter den Tänzer jeder lokaler Szene ein Minimum an Schlüsselpersonen, die handeln anstatt konsumieren und auch dann stehen bleiben, wenn mal Gegenwind aufkommt.

Zu oft habe ich in den letzten Jahren an allen möglichen Orten beobachten müssen, wie ausgezeichnete Lehrerpaare die uns ganz viel zu vermitteln hätten, nach dem Eintanzen der Paare angesichts des Niveaus der Teilnehmer kurz einen traurigen Blick austauschen und dann das angekündigte Programm ohne ein Wort zu verlieren auf einen Bruchteil dessen herunter brechen, was ausgeschrieben war. Sie haben gar keine andere Wahl als zu konstatieren: gewogen und für zu leicht befunden.

Neben unglaublich vielen mediokren bis grottenschlechten Workshop-Angeboten sind Ausgezeichnete immer noch in genügender Zahl zu finden. Wenn wir Tänzer aber nicht Sorge tragen, dass wir diese Angebote nicht nur buchen, sondern ihnen auch gewachsen sind, ist die Gefahr gross, dass noch mehr tourende Lehrer es sich irgendwann einfach machen und nur noch das anbieten, was sich problemlos verkaufen lässt. BA müsste dagegen sich auf das besinnen, was mit dem einfältigen Nuevo-Wahn verloren ging. Europa hat einen längeren Weg vor sich. Hier gilt es Qualitäten zu entdecken, die es im deutschsprachigen Raum vielenorts noch nie gab.

Interessanterweise finden sich die spannendsten Angebote betreffend Milongas, Encuentros und Workshops inzwischen immer öfter nicht mehr in jenen Hochburgen des Tango Argentino, wo bereits in den 80ern Szenen entstanden, sondern irgendwo in der Provinz, wo Tango Argentino noch nicht unter minimalistischen Vorzeichen kommerzialisiert wurde. Wenn es um ein Kulturgut geht, mutiert der kleinste gemeinsame Nenner zum Killer. Ich kann ein Lied davon singen. Ich lebe in so einem Jahrmarkt der Eitelkeiten.

herzlich – Christian

die A. hat gesagt…

Christian Tobler hat es ja schon angesprochen, es gibt zu viele schlechte Angebote im Tango. Ich weiss nicht, ob das hier der richtige Ort ist, aber es sollte auch über die materiellen Nöte der Veranstalter und Lehrer gesprochen werden. Ich sehe viele Angebote, die sich zum Teil gegenseitig enorme Konkurrenz machen und gelangweilte Kunden, die schliesslich immer weniger Kurse und Milongas besuchen. Das Zitat von Albert Schweitzer steht wohl kaum zufällig über diesem Text.

Chris hat gesagt…

es geht um das, was war, wie wir damit umgehen, und, was mir wichtig ist, was ist. Es wird nicht wenige geben, die einwenden, die Gegenwart sei nicht ohne Kenntnisse der Vergangenheit zu verstehen, und natürlich haben sie recht. Ich sehe nur die Gefahr, dass die Vergangenheit wichtiger wird, als die Gegenwart. Jetzt möchte ich mal ein Zitat in den Ring werfen: Tradition ist nicht das Hüten der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.

Respekt, dieser Begriff trägt schwer an dem Missbrauch, der mit ihm getrieben wurde. Aber ja, dahinter steckt Verantwortung, und Selbstwertgefühl. Wie stehe ich zu den Traditionen des Tango? Aber ist Tango nicht auch die Summe der Tänzer? Was wäre Tango, ohne die lebenden Tänzer, nur eine Erinnerung. Haben die Lebenden also nicht das Recht, und die Pflicht, Tango zu leben, in ihrer Zeit und auf ihre Weise?

Frumboli würde ich mit Skepsis genießen. Es wurde ihm auch schon vorgeworfen, dass er sein Fähnchen in den wechselnden Wind hängte, aus ökonomischen Gründen. Die Besinnung auf den Milonguero-Stil war jedenfalls nicht sein Verdienst, so viel ist klar. Wenn, dann ist er allenfalls ein reuiger Sünder, jedoch kein Prophet.
Die Szene fand ganz alleine zum Milonguero-Stil zurück, tanzt ihn moderner, feinfühliger, kommunikativer. Tango lebt, bewegt nicht durch Einzelne, sondern aus dem Inneren heraus. Sie benötigt Unterstützung, stimmt, aber keine erhobenen Zeigefinger.

Anonym hat gesagt…

Zuerst war ich skeptisch und dachte, es ist das evige Spiel: "Früher war alles besser". Dann las ich jedoch das hier verlinkte Interview mit Carlos Gávito. Ich hatte es schon mal gelesen und ganz vergessen, wieviel Poesie darin, in ihm enthalten ist. Und ich erinnere mich jetzt wieder, dass ich auf der Suche nach genau dieser Schönheit bin – in mir, im Tanzpartner.

Ich denke, ich bekomme als noch zu Junge im Tango mitlerweile eine winzige Ahnung von dem, worüber ihr hier gerne diskutieren wollt. Die nach wie vor hochinteressierte Leserin Araja.

cassiel hat gesagt…

@Chris

[...] aber keine erhobenen Zeigefinger.

Ich nehme hier eigentlich kaum erhobene Zeigefinger wahr. In Diskussionen wird es nach meiner Wahrnehmung mittlerweile nur dann dogmatisch, wenn einzelne Zeitgenossen größtmögliche Freiheit im Tango einfordern. Ich finde es bisweilen ermüdend, immer wieder zu lesen, dass Liebhaber traditioneller Tangomusik mit erhobenem Zeigefinger unterwegs sind.

Ist es schon zu viel, wenn ich schreibe, dass manchmal eine unpassende Musikwahl oder ein missachten der kulturellen Traditionen dem Tango - so wie ich ihn verstehe - im Wege steht?

Also ich wäre froh gewesen, wenn ich mir so manchen Umweg auf meinem Weg zum Tango erspart hätte weil jemand einmal deutlicher seine Meinung artikuliert hätte.

Nix für ungut...

Tan Guero hat gesagt…

@ Christian Tobler

Im Grunde bin ich auch deiner Ansicht: dass wir uns viel zu sagen haben, ganz positiv. Deine erste Replik in diesem Thread machte nur nicht gerade den Anschein, dass du das zulassen wolltest. Schwamm drüber, Friedenspfeife.

Die Dikussion brauchte ja etwas, um sich einzupendenln. Ich denke aber schon, dass wir schon früher auf einem Punkt waren, der auch zur Sache gehört. Du hast jetzt im Wesentlichen über das Tanzen geschrieben, gut und treffend (auch wenn mir beim Begriff "traditionelle Milonga" etwas seltsam zumute ist; führt aber wieder weg vom Thema).

Mein Blick ging auf die Texte, weil mir immer etwas unwohl wird bei den sehr reflexartigen Ablehungen der "doofen" Texte. Die leiden immer am meisten, weil uns der Zugang am Schwersten fällt. Ich lass das jetzt hier mit weiteren Ausführungen, der kurze Abriss weiter oben dürfte genügen, um bei manchen einen genaueren und tieferen Blick anzuregen.

Gerade hierum geht es aber bei Respekt: sich mit den Dingen auseinanderzusetzen, genau hinzuhören, genau zu lesen, genau hinzusehen, lernen zu wollen. Oder sich eines Urteils zu enthalten (oder besser nicht auf die Tanzfläche zu gehen). Ich will hier nicht von jedem ein literaturwissenschaftliches Studium fordern, bevor er die Texte beurteilt. Aber einige Grundprinzipien wissenschaftlichen Herangehens zu beachten wäre nicht falsch, bevor man über den Dichtern den Stab bricht, zumindest aber eines: Respekt vor der kreativen Leistung (was Kritik keineswegs ausschließt, solgange sie fundiert ist).

Dieselbe Arglosigkeit im Umgang mit dem Tango ist ja auch in seinen anderen Bereichen (Tanzen, Lernen, Unterrichten, Auflegen etc.) zu beobachten, siehe oben. Aber es gibt auch immer noch genügend Menschen, die sich dem mit Respekt, Leidenschaft und Demut (von der Kirche malträtiertes und daher meist missverstandenes Wort) nähern. Ach ja, nicht zu vergessen: Freude. Denn das soll's machen.

Allen ein schönes Tanzen
T.

Theresa hat gesagt…

@ Christian, Teil 1:

Ausgehend von dem Anspruch, dem Kulturgut Tango Respekt zu erweisen und es nicht durch "allzu arglosen oder egozentrischen, allzu konsumfixierten oder gaudiverliebten Umgang" zu schädigen, schreibst du mit dem Tenor: Der Tango heute ist viel schlechter als früher und wir müssen was unternehmen, dass diese Tendenz aufhört. Dem widerspreche ich!

Zu allererst mal: Dass mit Tango Geschäft gemacht wird, ist in den allermeisten Fällen eine traurige Notwendigkeit. Im Kapitalismus kann niemand davon leben, dass er nur seiner Kultur treu ist, er muss auch irgendwie ein Geschäftsmodell daraus machen (oder sich einen anderen Brotberuf suchen). Das heißt, der Tango wird instrumentalisiert für das Interesse dessen, der versucht davon zu leben. Ob das "dem Tango" Schaden zufügt oder nicht, ist damit aber noch überhaupt nicht entschieden.

Ja, es gibt viele schlechte Angebote im Tango, aber auch viele gute.

Du berichtest von Workshops, in denen die Tänzer "dem Angebot nicht gewachsen sind" und die Lehrer dann ihr Programm reduzieren. Das ist ja wohl eher ein Problem des Veranstalters. Der Veranstalter kennt seine Zielgruppe und entwirft zusammen mit den Lehrern das Workshop-Programm. Wenn die Lehrer von ihrem angekündigten Programm abweichen müssen, weil das Niveau der Tänzer nicht gut genug ist, dann ist wohl eine Fehlplanung passiert. Dann müssen Workshops her, die grundlegende Fähigkeiten der Tänzer behandeln. Ja, Workshops über die Basis, die Essentials, über das was man fühlt, aber (auf den ersten Blick) nicht sieht, verkaufen sich schlechter. Das Problem sehe ich (als Veranstalterin) in der Tat. Da muss der Veranstalter ein Bewusstsein schaffen für das, wovon die Tänzer wirklich profitieren. Und vor allem aber müssen Lehrer her, und sie müssen gut beworben werden, die nicht an einer vorbereiteten Schrittfolge kleben (und diese gegebenenfalls vereinfachen müssen), sondern eine Ahnung von Körpermechanik und Bewegungsdidaktik haben.

Theresa hat gesagt…

@Christian, Teil 2

Und was hat das mit der Frage des Respekts zu tun?

"Authentische" alte Milongueros geben Tango-Unterricht vom Typ "schaut her, ich mache es euch vor" und haben keine Ahnung von Körpermechanik und Didaktik. Auf der anderen Seite gibt es sehr gute junge, in Theater und anderen Künsten geschulte Lehrer, die den Körper sehr gut kennen, aber vielleicht die Tango-Musik nicht besonders gut, die einen exzellenten Unterricht machen.

Die Ex-Nuevo Tänzer tanzen inzwischen meistens in enger Umarmung, aber in einer Kreativität, die ich bei den Alten nicht finde und auch vor 15 Jahren, als noch mehr gelebt haben, nicht gefunden habe. Es ist einfach nicht wahr, wenn Christian schreibt, dass neue Tänzer kaum Persönlichkeit entwickeln. Ich habe in der Generation unter 35 erstaunliche Persönlichkeiten in Buenos Aires (und auch anderswo) kennengelernt.

Es hat sich definitiv die Tanztechnik des Tangos weiterentwickelt, gerade auch bei Frauen durch die jungen Tänzerinnen, die auch in anderen Tanztechniken ausgebildet sind. Ich als ältere Frau, die nur hobbymäßig tanzt, habe unglaublich viel von diesen innovativen Tänzerinnen und Tänzern profitiert, die vielleicht auch mal den Umkreis des traditionellen Tangos verlassen haben, aber ambitionierten Tänzern sehr viel geben können. Und zwar nicht blicke-heischende Bühnenelemente, sondern aus dem Wissen um die Körpermechanik heraus entwickelte Techniken, die den eigenen Stil und die eigene Expressivität entwickeln.

Die Entwicklung der Tango-Technik und der Tango-Inspiration bei Frauen wird augenfällig, wenn man alte Vidoes von den tollen verstorbenen Milongueros schaut: dann heißt es oft "y Sra.", statt die Partnerin beim Namen zu nennen. Es wurde so präsentiert, und es war auch so: die tollen Hechte waren die Männer, die Frauen tanzten mit, waren aber zweitrangig, und ihre Tanztechnik war auch, mit wenigen Ausnahmen, nicht besonders gut.

Ich habe den Eindruck, dass diese Entwicklung von Christian ausgeblendet wird, weil irgendwie das Etikett "Tango nuevo verseucht" dran klebt. "Marketing-Quark für Gringos" kann ein Produkt hoher Qualität sein, und es gibt sehr viele "Gringos", die sehr viel über Musik wissen und sehr inspiriert in ihr tanzen.

Für mich persönlich ist der in jüngerer Zeit entstandene gute Tango-Unterricht zusammen mit der traditionellen Musik die Quelle meiner Freude am Tango.

Theresa

Theresa hat gesagt…

@Tan Guero

Das ist zwar peripher in der stattfindenden Diskussion, aber trotzdem nochmal zu den Texten der Mord-Tangos:

Ich habe geschrieben, "es wird von Morden an der untreuen Frau (und evtl. auch ihrem Liebhaber) so erzählt, dass der Mord für den Mörder in seinem selbstgerechten Standpunkt logisch war." Ich denke, das stimmt, wenn man noch ein bisschen genauer hinschaut.

Ja, in "A la luz del candil" bezeichnet sich der Mörder selbst als Verbrecher. Aber vorher erwähnt er, dass er rechtschaffen ist und nicht betrunken und dass er von Gaunern übel hintergangen wurde. Und das Ganze ist pathetisch vorgetragen mit der Attitüde, das ihm keine andere Wahl blieb.

Ebenso in "Como lo quiso Diós". Mein Freund Lucas aus Den Haag hat den Text für mich aufgeschrieben:
"Me jugué en la partida
en mi muerta esperanza
al tomar la venganza
con mi cruel rival
y en mi ??? bravura
como lo quiso dios
bajo la noche que estaba oscura
yo sin asco maté a los dos".
Der mutige Akteur tat, was Gott wollte, die Frau und den Rivalen töten.

In El puro guapo (in der Version von Fresedo mit Famá sind nur die letzten 3 Verse gesungen) ist die Ironie sehr subtil. Eine klare Distanzierung von dem Mord kann ich nicht erkennen. Der englische Kommentar "The lyrics describe the incident quite matter-of-factly, without apparent judgment, and in the process it gives us a very nice picture of the tango scene in a Buenos Aires conventillo".

Und in Mandria geht es nicht einfach darum, dass der Protagonist sich der Gewalt enthält, sonders das ist ein Verachtung ausdrückendes Spottlied. Der Rivale wird als so erbärmlich dargestellt, dass der Protagonist ihm sogar sein Messer leihen kann. Und er siezt ihn als Zeichen der Verachtung. Ein argentinischer Tangokenner und Freund sagte, er will zu diesem Stück nicht tanzen, weil es in so drastischer Weise Verachtung ausdrückt.

Theresa

cassiel hat gesagt…

Also Theresa: Ich will ja überhaupt nicht bestreiten, dass es Zeiten gegeben hat, in denen die Frauen keine besonders komfortable Position im Tango hatten. Es nun ins Gegenteil zu verkehren und die Leistungen der Frauen als besonders hinzustellen, finde ich unglücklich. Nicht etwa, weil sie möglicherweise in Deinem Text besonders über die Männer erhoben worden wären, sondern einzig und allein aus dem Grund, dass wir wieder einen Leistungsgedanken in den Tango tragen. Und da verliert der Tango dann in meinen Augen etwas spezifisches: Das Soziale, das Verbindende in der Milonga.

Wir werden es nicht vermeiden können, dass sich manche Herren, wie ein toller Hecht fühlen (sie werden i.d.R. nicht sehr weit damit kommen) - jetzt im Gegenzug eine Bewegung zu fördern, die aus den Damen lauter CatWomen macht, halte ich für verkehrt.

[So viel von mir an dieser Stelle. Die Fragestellung nach dem unguten Wettbewerb wird dann demnächst in Kapitel 4 dieser Serie behandelt.]

Christian Tobler hat gesagt…

@ die A.,

Teil1: Natürlich gibt es materielle Nöte unter Veranstaltern und Lehrern. Und bei der Menge an Angebote spreche ich schon seit Jahren von mehr Häuptlingen als Indianern im Tango Argentino. Auch wenn das hier nicht Kernthema ist, will ich trotzdem versuchen, möglichst kurz ;-) auf den ersten Punkt zu antworten. Denn das wäre natürlich ein Thema für einen eigenen Thread. Wir alle kennen im Tango Argentino beste Angebote, die völlig erfolglos sind. Und wir alle kennen mieseste Angebote, mit denen Geld verdient wird. Daher gibt es zum Thema Nöte, respektive Geld im Tango Argentino keine einfachen Antworten. Um zu erfassen was schief läuft, kommen wir nicht darum herum, einige Schritte zurück zu treten.

Ich kann verstehen, warum viele Tango-Argentino-Aficionados Lehrer und Milonga-Betreiber, DJs und Reiseveranstalter oder was auch immer werden wollen. Mir ist das ein Stück weit auch nicht anders ergangen. Aber ich kann nicht verstehen, warum viele dieser Tanzverliebten damit ohne Rücksicht auf Verluste ihren Unterhalt verdienen wollen. Das sind zwei vollkommen verschiedene Dinge. Jeder Mensch mit etwas Lebenserfahrung weiss, wie schnell man sich eine Liebhaberei versaut, wenn man sie zum Geldesel macht, weil dann nicht nur Sachzwänge zuschlagen. Oft geht damit der Spass an der Freud verloren.

Seit Jahrzehnten wird in unserer Gesellschaft das amerikanische Ideal des Professionals hochgehalten. Dem Tango Argentino und nicht nur dem täte ein ganz anderes Ideal wohl: jenes des Amateurs im ursprünglichen Sinn dieses französischen Begriffs und die damit einher gehende Haltung einer massvollen Bescheidenheit, was ein gesundes Mass an laisser faire ermöglicht, was überhaupt nicht mit mangelnder Professionalität verbunden sein muss. Wer so was unterstellt, hat nicht verstanden was für ein anspruchsvolles Gebilde ein Amateur, ein Liebhaber ist. Amateur war nicht immer ein Schimpfwort. Ich möchte zB in der Fotografie an Cartier-Bresson* erinnern, der allerdings das Privileg wirtschaftlicher Unabhängigkeit auf seiner Seite hatte. Trotzdem halte ich den Mann für das Musterbeispiel eines Amateurs unter positiven Vorzeichen.
* http://bfox.files.wordpress.com/2010/11/henri_cartier_bresson_photo_010.jpg

Ein angeregter Amateur ist immer das Gegenteil eines unterkühlten Profis. Er folgt seinen Neigungen, ohne sich ihnen durch völlige wirtschaftliche Verstrickung auf Gedeih und Verderben auszuliefern und so im Verlauf der Jahre viel zu oft seine Orientierung zu verlieren. Trotzdem ist ein Amateur nie ein Pfuscher. Das beinhaltet bereits das Wort Liebhaber. Ein Amateur bewahrt sich seine Freiheit und entzieht sich dadurch vielen Sachzwängen.

Christian Tobler hat gesagt…

Teil 2: All das gilt ganz besonders für Nischenmärkte mit marginalen Einkunftsmöglichkeiten. Hier hat es immer nur Platz für eine begrenzte Zahl von Profis. Wollen mehr ein existenzsicherndes Stück vom Kuchen abhaben, kommt es zu einem Verdrängungswettbewerb, meist auf Kosten anstatt zu Gunsten der Qualität. Noch viel schwieriger wird es, wenn jemand den Anspruch hat, in so einer Nischenkonstellation den Rest seines Lebens ein menschenwürdiges Auskommen zu finden. Das wird sogar vielen ehemaligen Stars irgendwann zum Verhängnis. Nur hört man davon oft nicht viel. Die Arquimbaus sind dafür ein gutes Beispiel.

Ich habe im Tango Argentino im Verlauf der Jahre vermutlich gleich viel falsch gemacht, wie ich richtig gemacht hat. Gerettet hat mich einzig, dass ich immer am Ball geblieben bin – learning by doing eben. Aber eins habe ich stets richtig gemacht: Ich habe immer Geld in den Tango Argentino investiert anstatt Geld aus dem Tango Argentino zu ziehen.

Wenn wir Wandern oder Klettern, Segelfliegen oder Reiten, Kunstturnen oder Surfen, kostet das auch pausenlos viel Geld. Und ab einen gewissen Niveau sind fast alle Sportarten eine exorbitant teure Angelegenheit –  oft so teuer, dass ganz andere Finanzierungsvehikel her müssen, weil ohne keine weitere Steigerung der Leistung möglich ist.

Nur im Tango Argentino wird häufig darüber gejammert, dass Veranstaltungen mehr Geld kosten als sie einbringen. In fast allen Sportarten geht ab einem recht tiefen Niveau heute nichts mehr ohne Sponsoring in irgend einer Form. Und in der Kunst sowieso. Warum sollte ausgerechnet Tango Argentino davon ausgenommen sein? Social dance ist eine Art Bastard aus Kunst und Sport. Und wieso sollte ausgerechnet so eine klitzekleine Nische fähig sein, Kulturpflege und -vermittlung aus sich heraus zu finanzieren? Tango Argentino leidet in dieser Beziehung seit längerer Zeit unter mangelnder Professionalität in Sachen Mittelbeschaffung – ich sage nur: Sponsoring – respektive unter einer mangelnden Verbreitung von Amateurtum im besten Sinn. Denn der unterfinanzierte Profi wird sein Ziel oft nicht erreichen.

Christian Tobler hat gesagt…

Teil 3: Im Fall der Argentinier und Porteños sind die Dinge bei minderwertigen Angeboten etwas anders gelagert. Den meisten Menschen dort geht es wirtschaftlich dermassen schlecht, dass die Verlockung Gringos in ihren Ländern mit Tango das Geld aus der Tasche zu ziehen unwiderstehlich ist. Und auch wenn sie hier ziemlich erfolglos sein sollten, verdienen sie so meist immer noch etwas mehr Geld als daheim und haben einen anderen Status. Dasselbe gilt für argentinische Veranstalter, die sich hier niederlassen. Tango Argentino bedeutet vielen von ihnen wenig. Sie ermöglichen sich mit diesem Vehikel eine Existenz in einem 1.-Welt-Land. Und nach einigen Jahren zählt nur noch das, ganz egal wie sehr sie unter der Hand darüber jammern, wie langweilig eine Existenz in Mitteleuropa sei.

Wer genau hinschaut, entdeckt sehr schnell, ob es bei einem Angebot darum geht leicht Geld zu verdienen oder ob diesen Menschen Tango Argentino viel bedeutet. Niemand zwingt uns minderwertige Angebote auf. Einmal in dieser Mühle gefangen gibt es für Macher allerdings keinen Ausweg mehr, der nicht mit Dornen gespickt wäre. Hängen sie Tango Argentino als Erwerb wieder an den Nagel, fallen sie sozial meist tief, müssten wieder als Kellner oder Putze arbeiten, oder zurück in Argentinien eingestehen, dass sie gescheitert sind, anstatt hüben wie drüben irgendwie knapp als halbwegs grosser Meister durchzugehen.

Ich kann jedem Tango-Argentino-Aficionado, der Veranstalter werden möchte lediglich raten, diesen Zirkus ausschliesslich als Liebhaberei zu betreiben und seine Brötchen auf andere Weise zu verdienen. Das wird nicht nur seinem Tango gut tun. Denn fast immer kommt zum Killer-Faktor Nischenmarkt das Problem Unterfinanzierung hinzu. Und dann reicht der Atem kaum je, um gute Ansätze so lange durchzuhalten, bis der Erfolg sich einstellt. Gut Ding will nun mal Weile haben. Bei Existenzgründungen geht man davon aus, dass mindestens zwei Jahre Durstrecke normal sind.

Schon seit Jahren habe ich bei 90% der Angebot im Tango Argentino den Eindruck, dass die Dinge immer dann anfangen aus dem Ruder zu laufen, wenn pekuniäre Zwänge hehre Ansprüche platt machen. Das geht rasend schnell. So eine Nische ist immer ein knallharter Markt, falls man mit Pfusch nichts am Hut hat und auf Rosen im Maul allergisch ist. Die blöden Dinger haben nämlich Dornen. Das mit dem Hut ist aber nicht auf dich gemünzt, Peter Fangmeier. Natürlich braucht es für so eine Haltung eine gewisse Reife. Aber eigentlich ist es schrecklich simpel: sein anstatt scheinen heisst die Devise.

herzlich – Christian

Chris hat gesagt…

@ Tan Guero Mir hat einmal ein spanischer Muttersprachler gesagt, ich könnte noch besser die Musik interpretieren, wenn ich die Texte verstünde. Ich habe lange darüber nachgedacht und für mich entschieden: nein.

Das ist nicht logisch, ist so ein Tango doch ein Gesamtkonzept aus Musik und Gesang (wenn gesungen wird).
Ich bin aber der Ansicht, für mich, daß die Kombination aus Musik und Text nicht immer gelungen ist, und nicht nur im Tango. Ich höre eine schöne, fast romantische Melodie, und Text und Thema sind brachial.

Solche Bruchstellen, gewollt oder nicht, einer anderen Zeit oder Kultur geschuldet oder nur unglücklich kombiniert, wie auch immer, sind in einem improvisierten Tanz in einer dichten Ronda fast nicht mehr befriedigend umzusetzen. Sie erfordern eine sehr weitreichende Kenntnis von Musik und Text, excellente Tanztechnik und Platz. Eigentlich eine gründliche Choreographie, textliche Informationen in Kombination mit Musik tänzerisch darzustellen, ist eine Aufgabe für gute Choreographen.

Außerdem ist Musik eine universelle Sprache, Argentinisch nicht. Es ist deshalb ein hohes Risiko etwas zu interpretieren, daß der Partner mit hierzulande hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht versteht.

Also bin ich wahrscheinlich kein Amateur im besten Sinne.

Chris hat gesagt…

@ cassiel Du bittest die Kommentatoren darum, die Texte gründlich zu lesen und nichts hineinzuinterpretieren, und nun scheint es gerade bei Dir daran zu mangeln. Ich habe nichts von erhobenen Zeigefingern explizit in diesem Thread geschrieben, und Theresa nichts von besonderen Leistungen der Frauen. Es ist schade, weil doch diese Diskussion, trotz unterschiedlicher Standpunkte, eigentlich ganz friedlich und einigermaßen sachorientiert verläuft.

cassiel hat gesagt…

@Chris, ich denke, ich habe Dich schon richtig verstanden. In Deinem letzten Absatz sprichst Du davon, dass es bitte keine erhobenen Zeigefinger geben soll. Im Kern stimme ich Dir zu, ich habe jedoch dazu eine Frage formuliert und denke, das ist legitim.

Meine Anmerkung zu Theresa habe ich auch noch einmal gelesen und sehe nicht, was da zu beanstanden wäre. Mir ging es im Kern um einen kompetitiven Ansatz, den ich in Theresas Beitrag wahrgenommen habe (selbstverständlich kann ich mich natürlich auch irren). Dieses Wettbewerbsdenken im Tango finde ich bedenklich.

Klar läuft es hier sachorientiert... Deshalb muss es aber doch möglich bleiben, andere Standpunkte oder Fragen zu formulieren.

Theresa hat gesagt…

@Chris

Im Tango gibt es beides, dramatische Texte und Musik, die eher fröhlich klingt (z.B. Tabernero, sogar in der Version von Troilo; bei Rodríguez klingt sowieso alles fröhlich, so traurig der Text auch ist) und es gibt dramatische Texte, mit denen die Musik zusammen eine absolute Einheit bildet. Und im letzteren Fall bilde ich mir ein, tatsächlich besser zu tanzen. Und ja, es ist ein Genuss, mit Inbrunst auf z.B. Duelo criollo oder Verdemar zu tanzen.

Und dieser Genuss ist auch nicht perverser, als wenn es sich Millionen Deutsche sonntag abends zum Tatort gemütlich machen.

Danke auch für die Richtigstellung des Missverständnisses :-)

Theresa

Theresa hat gesagt…

@Cassiel

Doch, es ist ein Missverständnis.

Dass die Señoras damals zweitrangig waren, darüber sind wir uns wohl einig. Als die Pioniere und Innovatoren des Tango-Tanzens werden fast immer Männer erwähnt, und Legenden, die mir plausibel erscheinen, besagen, dass sie miteinander geübt und die Schritte weiterentwickelt haben.

Ich finde die Entwicklung sehr erfreulich, dass die Frauen jetzt anderes wahrgenommen werden und dass die Tanztechnik in der Frauenrolle sich weiterentwickelt hat. Aber das hat doch nichts mit einem Wettbewerb zwischen Männern und Frauen zu tun. Ja, diese Entwicklung ist eine Leistung von vielen Tänzern und Lehrern, so wie auch vorher in Tanz und Musik sehr viel geleistet worden ist. Leistung muss aber nicht automatisch im Wettbewerb stattfinden. Und mir ist, als Amateurin ;-), Wettbewerb im Tango ziemlich zuwider, obwohl oder gerade weil ich als Veranstalterin unfreiwillig in ihm stehe.

Theresa

Chris hat gesagt…

@ Christian

"Jeder Mensch mit etwas Lebenserfahrung weiss, wie schnell man sich eine Liebhaberei versaut, wenn man sie zum Geldesel macht, weil dann nicht nur Sachzwänge zuschlagen."

Wohl wahr, sehr richtig, und wie schade eigentlich.
Aber aus der Nummer kommen die meisten dann ja auch nicht mehr raus. Ob es hier gestrandete Argentinier sind, die manchmal erst hier das Tangotanzen lernen, oder Einheimische, die aus Begeisterung (oder ökonomischen Gründen) aber in Verkennung ihrer Fähigkeiten (oder trotzdem) umsatteln. Die Zelte wurden abgebrochen, vielleicht sogar Geld investiert, der Weg zurück erscheint unmöglich und der Teufelskreis beginnt.
Diese "Meister" werden es vermeiden, gute Lehrer einzuladen und ihre Schüler auf gute Milongas oder gar ein Festival/Marathon/Encuentro zu schicken.
Mehr Häuptlinge als Indianer? Hier in M. ist glaube ich die Hauptstadt der Häuptlinge, zeitweilig scheint es mehr Lehrer als Schüler zu geben. Ist das gut für die Szene? Oh nein, es ist eine Katastrophe. Wenn schlechte Tänzer als selbsternannte Lehrer zum Vorbild für Anfänger werden, gibt es keine Entwicklung. Schlimmer noch, die Schüler werden nie erfahren, wie wundervoll guter Tango sein kann, und das Tanzen ganz aufgeben. Wenn ich nicht die Erfahrung gemacht hätte, daß ein Tanguero mehr sein kann, als ein arroganter Kerl mit einem Stock im A., einem Betonarm und einem Würgegriff, der zufällig hin und wieder den Takt trifft, wäre ich wohl auch nicht mehr dabei.

Ist dies mangelnder Respekt vor dem Kulturgut Tango? Ja, aber schlimmer noch, es ist mangelnder Respekt vor dem Gegenüber 'Mensch', der Zeit, Geld und Mühen investiert (aus welchen Gründen auch immer) und frustierenden Ramsch bekommt und dem damit eine Chance genommen wird.

"Ein Amateur bewahrt sich seine Freiheit und entzieht sich dadurch vielen Sachzwängen."
Auch hier meine volle Zustimmung. Über die Wandelung eines hoffnungsvollen Paares zum Lehrerpaar und dem damit beginnenden Unheil könnte man viel schreiben. Um aber beim Thema zu bleiben. Wer sich bis zu einem gewissen Punkt "gekämpft" hat, wird auch eine Form des Respektes vor dem Tango gewonnen haben, vor dem, was der Tango bietet, und dem, was er den Tänzern abverlangt. Wer diese Achtung nicht kennengelernt hat, hat, so glaube ich, auch nichts verstanden.

Chris hat gesagt…

@ Theresa

wer Tangotanzen als Kommunikation im Paar begreift, wird über die gewonnene Dialogfähigkeit der letzten Jahre sicher heilfroh sein ;-)

Christian Tobler hat gesagt…

@ Tan Guero,

betreffend der Diskussion rund um die Texte der Dichter gebe ich dir natürlich rundum recht. Die Debatte darüber ist wichtig, auch wenn sie ihm Rahmen von Cassiels Fragestellung hier noch nicht ganz ans Ziel führt. Mehr Respekt für Texte –  nicht im Sinn von Kadavergehorsam –  tut Not. Wer den einen oder anderen Text versteht und eine Ahnung davon hat, worum es dem Texter ging, der tanzt so ein Stück hinterher anders. Womit man sich nicht auseinander setzt, kann man kaum angemessen tanzen. Das betrifft aber schlichtweg alles im Tango Argentino. Ausserdem gibt genau so viele „doofe“ Kompositionen, respektive Arrangements wie Texte. Dort würde ich mir eine kritischere Haltung der Tänzer sehr wünschen –  natürlich nach einer ernsthaften Beschäftigung damit. Noch fehlt das schmerzlich.

Klar klingt „traditionelle Milonga“ seltsam. Falls du dafür eine bessere Lösung weist –  her damit. Ich verlange lediglich, dass ich an Hand der Etikette weiss, was in der Büchse drin steckt, bevor ich sie kaufe und öffne, damit ich mir die Anreise an Milongas deren Ausrichtung und Programm mir überhaupt nicht zusagen sparen kann. Dafür braucht es irgend eine Unterscheidung, die kristallklar ist. Und was den Rest betrifft – natürlich, Schwamm drüber. Ich bin gelegentlich etwas sehr pointiert in meinen Aussagen.

herzlich – Christian

Anonym hat gesagt…

@Chris,28.Mai:
Ja,Chris,sehe ich ähnlich.Spanisch hat als Sprache einen schönen Klang (selbst,wenn es um Mord und Totschlag geht).Bei der Gestaltung meines Tango-Tanzens richte ich mich primär nach der Musik(sie sollte ja auch den Inhalt des Textes widerspiegeln)und genieße dabei den Klang der Sprache.Im Laufe der Jahre habe ich mich aber auch zunehmend mit den Inhalten des Tango argentino befasst(Historie,Politik,Text-Inhalte,Codigos,usw.).Finde das einfach interessant und,für meine Person,auch notwendig.Das ist wohl das,was etliche hier in der Diskussion unter "Respekt" verstehen.Es ist mehr als nur höfliches "Zuhören". Es wäre schon gut, wenn man zumindest bei einigen der Gesangsstücke beispielhaft den Text einigermaßen versteht/kennt und das im Laufe der Zeit allmählich ausbaut.Es geht aber-insbesondere für Tanz-Anfänger-auch zunächst ganz gut ohne.
Tanzen muss man den Text dann wirklich nicht unbedingt(hoffen wir,dass die Übersetzung ins Deutsche oder Englische überhaupt inhaltlich richtig war).Habe das als Modeströmung in einer anderen Tanzszene(nicht Tango) miterlebt(die Turnier-tanzenden Lehrer gingen offensichtlich davon aus,dass wir Kursteilnehmer alle auch Turniere tanzen wollten).Denke,das sollten wir den Profis überlassen.Mein Interesse gilt dem Tanz der Amateure.Auf ihn sollten wir unser Augenmerk richten!

haribold hat gesagt…

Zum Thema Tango und Respekt:

Wer Respekt vor dem Tango einfordert, soll ihn auch selbst erweisen! Aber bitteschön dem ganzen Tango und nicht nur dem Teil, der subjektiv am Besten gefällt! - Mein Respekt gilt dem Tango als anspruchsvollem und ästhetischem Tanz. Mein Respekt gilt auch den Tänzern, deren tänzerisches Vermögen diesem wunderbaren Tanz gewachsen ist.

Zum Thema Tango als Kulturgut:

Bei einigen Äußerungen, insbesondere aus der helvetischen Ecke, klingt die Betonung des (wahren) Tango als Kulturgut schon pseudoreligiös überhöht. Wage es niemand, sich an diesem Kulturgut zu versündigen! Wenn doch, sind diese Sünden zu geißeln! Pietismus nennt man das und findet es nicht nur bei den Eidgenossen.
Natürlich ist Tango ein Kulturgut. So what?! Die Currywurst ist auch ein Kulturgut, ebenso wie das Klopapier. Auf diese Drei möchte ich genauso wenig verzichten wie auf viele andere Kulturgüter, die uns täglich umgeben. (Und Cassiel, um Deinen wohlfeilen gezielten Missverständnissen vorzubeugen: Ich vergleiche hier NICHT Tango mit Currywurst, Klopapier oder Sahnetorte!)

Zum Thema Tango und Geldverdienen:

Der Tango ist ein Nischenmarkt, und in jeder Nische ist Geld schwerer zu verdienen. Auf funktionierenden Märkten regulieren sich Angebot und Nachfrage. Nach meinem Eindruck funktioniert der Tango-Markt, weil er klein und überschaubar genug ist.

Zum Thema Tango und Texte:

Lunfardo verstehe ich nicht und meine Spanischkenntnisse sind bescheiden. Hin und wieder lese ich Übersetzungen mit sehr unterschiedlichem Lust- und Erkenntnisgewinn. Mir gefällt der Hinweis von Chris, dass die Musik die universelle Sprache ist. Daher tanze ich auf die Musik und nicht auf den Text!

Christian Tobler hat gesagt…

@ Chris,

danke für deinen letzten Kommentar. Da sind wir für einmal – aber das muss nicht immer der Fall sein – ein Herz und eine Seele. Allerdings fürchte ich, dass sich viele Häuptlinge nie bis zu dem von dir erwähnten Punkt vorgekämpft haben und deshalb pausenlos tänzerisches Porzellan zerschlagen. Aber nein –  Hauptstadt der Häuptlinge ohne Indianer dürfen sich viele Metropolen nennen ;-)

herzlich – Christian

Anonym hat gesagt…

Haribold, daß Du Lunfardo nicht verstehst und Deine Kenntnisse über Tango sehr bescheiden sind, ist nichts Neues. Das wissen wir längst. Heute hast Du mit Deiner Beichte den Vogel abgeschossen: Du hast vermutlich einen Kopf, aber da kommen nur Geistlosigkeiten raus. Wie wäre es mit Holz hacken anstatt Tango?

Anonym hat gesagt…

Und wenn dann Alle die Lunfardo-Texte (in korrekter Übersetzung!) tanzen können, fordert wieder ein Tanzlehrer dazu auf, dies und das noch interpretorisch einzubauen. Kenne diese Tendenz aus dem Boogie-Woogie-Tanzen(schon eine Zeit lang her).Die Turnier-tanzenden Tanz-Lehrer meinten offensichtlich,alle anwesenden Kurs-Teilnehmer wollten(sollten) wohl Turniere tanzen.
Leute,macht irgendwo einen Schnitt!Was sollen die Tanz-Anfänger - und generell die Tanz-Amateure(in positiver Definition dieses Wortes) - denken,wenn immer perfektere Forderungen dieser Art in den Raum gestellt werden.
Baut man so eine breite Basis auf?Natürlich strebt man/frau im Tango-Tanzen nach einer guten Qualität. Aber:zur Ermutigung aller Anfänger und tanzmotorisch weniger fitten Tänzer sei gesagt(und davon lasse ich mich nicht abbringen):Das Wichtigste ist die Kommunikation(!) zwischen den zwei Tanzenden und zwischen den Besuchern der jeweiligen Milonga.Dazu bittschön noch Einhalten bestimmter essentieller Codigos und Verständnis für bestimmte Grundwerte des traditionellen Tango(die gibt es)-als Ausgangspunkt. Das ist es doch!Tango argentino ist primär ein Gesellschaftstanz(social dance).Bitte keine frustrierenden Überhöhungen!

Anonym hat gesagt…

Cassiel, when you come to Buenos Aires? You dance tango now for some years, you love tango, you respect tango. Why you not visit us?

Anonym hat gesagt…

Wie besucht man jemanden in Buenos Aires, der anonym auffordert. Ist das eine neue Form von Cabeceo über den Atlantik hinweg? Was willst Du Cassiel mit Deinem Rätsel sagen?

Christian Tobler hat gesagt…

@ Theresa,

Teil 1: Bezüglich der Texte verstehe ich deinen, wie soll ich sagen, tierischen Ernst im Umgang damit nicht. So eine Betrachtungsweise ist viel zu eindimensional für einen Tanz. Das muss zwangsläufig zu Missverständnissen führen. Klar handeln viele Texte von eher traurigen Begebenheiten. Aber Texten über den gestrigen Einkauf im Supermercato, die heutige Taxifahrt, den Wurm im Salat in der Parrilla vorgestern würden Deine Probleme nicht lösen. Das würde ganz schnell ganz langweilig werden.

Wenn Kreative keine Auftragsarbeiten erledigen, beschäftigt sich ihr Schaffen immer mit dem was sie ganz persönlich beschäftigt oder mit Aspekten die sie wichtig finden – also dem, was sie tatsächlich bewegt im Leben. Und das sind meist nicht die alleralltäglichsten Dinge. Klar gibt es Ausnahmen, zB die grossartige Milonga „La Mañana“, welche erzählt wie die Sonne am Morgen auftaucht und eine Ameise ihr Tagwerk beginnt –  ein hinreissender Leckerbissen für Tänzer und an Milongas viel zu selten zu hören.

Leid gehört zu jedem Leben. Wer Leid verdrängt, wird es nie mehr los. Da muss man durch. Darüber zu schreiben oder es auf andere Weise künstlerisch zu verarbeiten hilft solche Erlebnisse zu transformieren. Und hinterher kann man Erlebtes hoffentlich endlich beiseite legen. Unter Umständen sogar mit einem Augenzwinkern. Ich könnte hier jetzt noch tiefer bohren, aber das muss nicht sein.

Bei Tanzen zu solchen Texten spielen die selben Mechanismen. In der Musik jedes Genres sind nicht nur banale Texte über unglückliche Liebe oder rasende Eifersucht Legion. Auf so eine Stimmung kann ich mich als Tänzer einlassen oder auch nicht – wenn es gar traurig wird vielleicht mit einer gehörigen Portion Selbstironie, mir und dem Autor gegenüber. Und hinterher lege ich das Thema beiseite. Oder ich lasse mich ganz bewusst für drei Minuten auf dieses Spiel, wir könnten es Kurzoper nennen, ein.

Christian Tobler hat gesagt…

Teil 2: Wenn ich ein im Grossen und Ganzen fröhlicher und ausgeglichener Mensch bin, der mit dem was das Leben mir aufgetischt hat versöhnt ist, fällt mir wegen ein paar trauriger oder aggressiver, selbstmitleidiger oder überzogener Textzeilen kein Zacken aus der Krone.

Ein selektiver Umgang mit Komposition wie Text, auch mal unter egoistischen Vorzeichen, hat im Tango Argentino seit jeher Tradition. Das beginnt damit, dass Orchesterleiter und Arrangeur bei jeder Komposition mit Versen, welches ins Repertoire aufgenommen wird, nach Lust und Laune darüber entscheiden, ob sie nur die Komposition verwenden, oder auch die Verse, aber auch wie viel von den Versen sie verwenden, oder ob sie die womöglich zensierte Fassung verwenden oder deshalb ganz auf Verse verzichten. Es gibt sogar Fälle, in denen 20 Jahren nach Fertigstellung der Komposition zu einem Tango Verse gedichtet wurden. Die Kreativen haben sich damals aber noch viel weitergehende Freiheiten im Umgang mit ihrem Quellenmaterial erlaubt.

Ein konkretes Beispiel: Den Tango „Nueve Puntos“ und dessen drei ausgesprochen elegische Interpretationen von di Sarli kennt jeder. Zu diesem Tango gibt es keine Verse. Vermutlich wissen nicht viele Tänzer, wovon „Nueve Puntos“ handelt. Das Titelblatt der Partitur gibt einen ersten Hinweis. Aber man muss recht tief graben, bis man entdeckt, was Canaro im Kopf hatte, als er diesen Tango komponiert hat. Und tatsächlich kapiert habe ich erst, als ich irgendwo in der Literatur auf einen kurzen Hinweis in einem Nebensatz gestossen bin. Wenn man Canaros Interpretation von 1955 hört, ist noch ein klein wenig von dem mit dem Thema verbundenen Augenzwinkern vorhanden. Seine Interpretation von 1943 habe ich leider nicht. Bei di Sarli dagegen, ist diese Komponente wie vom Erdboden verschluckt.

Canaros Tango handelt von einen ganz bestimmten Triebwagentyp der Strassenbahn in BA, welcher seit etwa 1900 herum in Betrieb war. Die neun Punkte beziehen sich auf die neun Fahrstufen, die der darin verbaute Elektromotor dem Strassenbahnfahrer zur Verfügung stellte.

Christian Tobler hat gesagt…

Teil 3: Als ich ein Kind war, waren in Zürich ausgerechnet auf jener Linie die ich für meinen Schulweg benützte fast identische Triebwagen immer noch in Gebrauch, mit offenen Türen auf die man in engen Kurven aufspringen konnte und auf deren hinterem Trittbretter in Stosszeiten eine ganze Traube von Passagieren hingen, falls die Klapperkiste Steigungen damit überhaupt schaffte. Zürich hat die steilsten Strassenbahnstrecken der Welt und wenn im Frühjahr Blütenstaub herum fliegt oder im Herbst die Blätter fallen, ist auf diesen Strecken auch mit allerneusten Triebwagen der Fahrplan Makulatur. Es war auch für einen routinierten Strassenbahnfahrer praktisch unmöglich dieses charmante Gefährt mit neun Fahrstufen zu beschleunigen, ohne beim Wechsel zur nächsthöheren Fahrstufe einen ziemlichen Ruck zu provozieren, ganz besonders in Steigungen. Das hat nicht nur in vollen Strassenbahnen immer zu lustigen Momenten mit unfreiwilligen Berührungen geführt.

So betrachtet geht sogar das Titelblatt* der Partitur am eigentlichen Thema vorbei. Dieser Strassenbahntyp hat nicht mehr Fussgänger auf den Rechen an der Front geschmissen und nicht mehr Fussgänger überfahren, als jedes andere Modell. Man muss in solchen Dingern unterwegs gewesen sein, um zu verstehen, warum Canaro auf die Idee kam, darüber einen Tango zu komponieren.
* http://www.todotango.com/3074/Nueve-puntos
* http://ferrocarriles-amigosdelmundovirtual.blogspot.ch/2010/02/el-tranvia.html

Es ist daher völlig legitim, dass sich Tänzer bei einzelnen Aufnahmen, die für sie warum auch immer problematisch sind, die Freiheit nehmen, am Text vorbei zu hören und zu tanzen oder die Aufnahme gar nicht zu tanzen. Deswegen ganz darauf zu verzichten, sich intensiv mit den Texten zu beschäftigen, halte ich für verfehlt. Damit verpasst man ganz viel, was eine innige Verbindung von Tänzer und Musik stärken kann. Und bei vielen Tangos ist es schlicht unmöglich sie angemessen zu tanzen, wenn man nicht weiss, wovon die Verse handeln. Denn wenn im selben Moment, in dem meine Partnerin mir ihren Beinen ice crusher spielt, die Protagonistin auf dem Krankenbett ihren letzten Atemzug macht, ist das geschmacklos und macht einzig und allein deutlich, dass dieses ignorante Paar von Tango Argentino keinen blassen Schimmer hat.

Christian Tobler hat gesagt…

Teil 4: Ich gehe davon aus, dass für jeder Tänzer eine Handvoll Tangos mit ganz persönlichen Einschränkungen verbunden sind. Bei mir ist das Pasional von Pugliese mit Moran. Diesen Tango tanze ich ausschliesslich als letztes Stück einer Milonga vor La Cumparsita. Das hat mit der Kombination von Text und Musik zu tun, die hier mit unglaublicher Intensität in die selbe Richtung zielen. Dem kann ich mich nicht entziehen, ohne meine Fühler einzuziehen. Meine Fühler einziehen werde ich beim Tanzen niemals. Dann kann ich genauso gut daheim bleiben. Pasional ist rundherum grossartig gemacht, ein unglaublich intensive gestricktes Zusammenspiel von Musik und Text. Daher ist die Luft nach dem Tanzen dieses Tangos bei mir für den Rest des Abend draussen. Demzufolge tanze ich diese Aufnahme jedem anderen Zeitpunkt einer Milonga nicht. Aber ich würde nie auf die absurde Idee kommen, mich deshalb über diese Aufnahme zu beklagen oder mich von ihr zu distanzieren. Damit würde ich das Leben negieren und mein eigenes Erleben kastrieren.

„Mandria“ von 1939 ist einer der grossartigsten d’Arienzos überhaupt. Das ist Tanzspass pur und wenn ein DJ diese Aufnahme auflegt schaffe ich es kaum je sitzenzubleiben, falls eine Tänzerin verfügbar ist die dafür genug Pfeffer im Hintern hat. Sonst macht „Mandria“ keinen Spass. Und dann geht die Post ab, und zwar subito. Bereits das relativiert den Text ein Stück weit, passt aber auch zu ihm. Und so wie ich beim Tanzen immer wieder vor der Wahl stehe, welche musikalischen Elemente ich mir für meine tänzerische Interpretation wann heraus picke – das Piano von Polito, die Violine von Mazzeo, das Bandoneon von Moro oder die Intensität der Aufnahme als Ganzes – liegt die Entscheidung, wie viel Gewicht ich tänzerisch dem Lunfardo von Echagüe wann gebe, ausschliesslich bei mir. Ich habe das in jeder Hinsicht unter Kontrolle. Wenn ich schlau bin, lasse ich mich allerdings von Echagüe leiten. Der war damals Teenager noch und macht das grossartig.

Christian Tobler hat gesagt…

Teil 5: Es kann daher nicht die Rede davon sein, dass ich diesem oder anderen Texten auf Gedeih und Verderben ausgeliefert bin. Und wenn für einmal doch, dann steht mir immer noch das psychologische Stilmittel der Ironie zwecks Versöhnung zur Verfügung. Ich kann in diesem Fall die Grundhaltung der Spottverse dermassen übertreiben –  tänzerisch – dass die Lächerlichkeit offensichtlich wird und mich mit dem bösen Buben versöhnt, der da thematisiert wird. Dazu brauche ich natürlich die richtige Partnerin, eine die diesen Klamauk erfasst, mitgrinst und verstärkt. Ein ernsthafter Umgang mit Tango Argentino bedeutet nicht, dass alles was uns die EdO vorsetzt eins zu eins und tierisch ernst genommen werden muss. Dann wäre jede traditionelle Milonga ein todlangweilige, deprimierende Veranstaltung.

Aber ja, in einer prallvollen Milonga ist so viel individueller Ausdruck und Expressivität auch für gute Tänzer eine Herausforderung. Wie bekommt man das auf die Reihe, ohne die anderen in ihrem tänzerischen Ausdruck einzuschränken? Wäre dem nicht so, wäre alles einfach, wäre Tango de Salon eine schrecklich langweilige Angelegenheit.

Ausserdem hängt so was immer auch davon ab, wie ein DJ seine Tandas baut und wie er den Spannungsbogen des ganzen Abends gestaltet. Macht er dabei das meiste richtig, hat das enorm positiven Einfluss auf die Grundstimmung der Tänzer und ihre Anfälligkeit für vereinzelte Genre-typische Problemfelder.

Ich sage: Die Verse zu „Mandria“ sind natürlich ausgesprochen ironisch gemeint, weil die sonst überhaupt nicht zur hinreissenden Musik passen würden. Das merkt ein Blinder mit Krückstock! Komponist und Texter, Arrangeur und Orchester wären nie auf die Idee gekommen, dass jemand diesen Text tierisch ernst nimmt. Das passt überhaupt nicht zur Stimmung dieser seminalen Aufnahme. Wer will das widerlegen? Und mit welchen Argumenten will er das tun? D’Arienzo war immer sehr kommerziell orientiert und ganz dem Tanzspass verpflichtet. Der hätte diesen Tango nie in sein Repertoire aufgenommen, wenn damals die Gefahr bestanden hätte, dass der Text den Tänzern die Stimmung verdirbt. Ganz besonders in den Jahren vor 1940 hat d’Arienzo davon gelebt, pausenlos gute Laune zu verkaufen. Und dafür könnte ich ihn jeden Tag von Neuem umarmen.

Christian Tobler hat gesagt…

Teil 6: Dasselbe gilt übrigens für d’Arienzos „La Bruja“ von 1938. Mann o Mann, habt ihr in jungen Jahren nie mit Tränen im Gesicht darüber gejammert, wie gemein die/der Ex war, die/der euch gestern verlassen hat, womöglich wegen einem Kerl/einer Schickse der/die unter aller Sau war. So was gehört zum Leben. Und irgendwann kann man/frau darüber lachen, schüttelt den Kopf über das damalige Brett vor der Stirn. Warum sollte ein Kreativer so was nicht darin schwelgend verarbeiten und überzeichnen? Warum sollen wir damit nicht unseren Spass haben, und dabei wenn es denn sein muss heimlich eine klitzekleine Träne der Bitterkeit vergiessen? Auch so was ist Teil unseres Lebens. Schmunzeln über sich selbst, Menschliches wie Allzumenschliches.

Ich könnte jetzt behaupten, nur wer so was nie erlebt, respektive verarbeitet hat, ist von solchen Versen unangenehm berührt. Das ist aber nicht auf dich gemünzt, Theresa.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass heutige Tänzer es mit ihrem Mimosenhaftigkeit übertreiben. Sind wir heute dermassen verwöhnt und lebensuntauglich, dass bereits die Erwähnung einer unangenehmen Begebenheit uns aus unserer Balance schmeisst? Viele grossartige Opern haben eine ausgesprochen tragische Handlung, die allerdings kaum geistreicher angelegt ist, als die eines deutschen Schlagers aus einer der unteren Schubladen – ganz egal ob bei Verdi, Puccino oder Rossini. Und trotzdem ist auch das grossartige gute-Laune-Musik, welche uns auf dem Heimweg so entrückt wie beschwingt die Melodie nachträllern lässt. Warum sollte das bei Tango Argentino anders sein?

Wenn die letzte Phrase von „Mandria“ verklungen ist, denke ich jedes mal: schade, schon wieder fertig und ich konnte so viel davon tänzerisch immer noch nicht umsetzen, was ich gehört habe und bestens kenne. Aber schön war es, und wie! Und falls das der letzte Tango der Tanda war, bedanke ich mich lediglich mit einem verschwörerischen Grinsen bei meiner Tanzpartnerin. Nach „Mandria“ oder „La Bruja“ ist jedes Wort zuviel, zerstört die Magie des Moments augenblicklich. Das sind in sich geschlossene, form- und inhaltsvollendete Dreiminutenkunstwerke, Kleinode der EdO, quasi in Tantal gegossen.

Dazu werde ich noch in der Hölle wie der Lump am Stecken tanzen, weil natürlich nur dort jene Tänzerinnen mit dem meisten Pfeffer im Hintern zu finden sind. In diesem Sinn…

herzlich – Christian

Tan Guero hat gesagt…

Ein Tanguero sagte mir mal, seit er wisse, dass es in "El yacaré" um Pferderennen ginge, tanze er diesen Tango ganz anders. Ich glaube ein leises Augenzwinkern in seiner Stimme gehört zu haben ...
(http://thesleepmeister.typepad.com/tango_decoder/2013/07/tango-lyric-el-yacar%C3%A9-the-alligator.html)

Nein, man muss nicht die Texte beim Tanzen interpretieren, man muss sie nicht mal verstehen, um sie zu tanzen. Ich verstehe auch nicht alles, schon gar nicht in Lunfardo, und bei einigen muss ich mein Wissen wieder ausblenden, weil sie mich zu stark anrühren, ich bin da etwas nah am Wasser gebaut. Und nein, man muss sich nicht mal damit beschäftigen. Das ist zwar alles sehr schade, weil man viel verpasst, wie Theresa und Christian sehr schön dargelegt haben, aber seis drum.

Was nicht geht, pauschal alle Texte über einen Kamm zu scheren und als doof, voll macho und frauenverachtend zu kritisieren, ohne sich damit eingehender befasst zu haben und eigentlich zu wissen, was drinsteht und wie es gesagt wird. Was auch nicht geht, die Texte losgelöst von ihrem zeitlichen und sozialen Kontext zu beurteilen. So viel an literaturwissenschaftlichem Minimalprinzip sollte man schon einhalten - allein aus Respekt.

Bruno Rogalla hat gesagt…

Liebe Diskutanten,

ich habe aufmerksam gelesen, was unter 'Über den Umgang mit der Musik, den Texten und der Kultur im Tango' hier geschrieben steht.

Wie gehabt beruhgen alle Einlassungen auf Vermutungen, Anekdoten, eigenen Wahrnehmungen und dem verklärtem Wunsch, der Gutmensch ansich war der Geburtshelfer des südamerikanischen Tango. Da kommt der Beitrag vom behuteten Herrn noch recht niedlich daher.

Wer nichts weiß muss alles glauben

http://www.spiegel.de/einestages/juedische-prostitution-in-suedamerika-leidensweg-der-weissen-sklavinnen-a-951189.html

Allzeit flotte Beine

Bruno

Tan Guero hat gesagt…

@ Christian:

Der Fall D'Arienzo ist sehr interessant. Er hat sich ja lange um gesungene Tangos herumgedrückt. Mit Walter Cabral hat er 1936 nur drei Valses und eine Milonga aufgenommen, Erique Carbel durfte 1937 einen Tango mitsingen, "Paciencia". Zu viel Romantik, das stört den Drive. Ich vermute mal, dass es live nicht viel anders war. Die erste Aufnahme mit Alberto Echagüe gibt es erst im Januar 1938 (schon 1937 gibt es einen Filmauftritt des Gespanns mit "Melodia Porteña": http://www.youtube.com/watch?v=6abxAtOmZu8). Echagüe passte zu D'Arienzo wie Faust auf Auge, kein lyrischer Gardel-Typ, sondern ein Kerl, ein Varón mit Lunfardo im Blut. Die Texte sind, zumindest am Anfang, entsprechend: handfest, geradeaus, wenig blumig (Infdiferencia, Nada más, Pénsalo bien, das spätere Mandria ebenso). Gute Popsongs. Oder eher Rock. Jedenfalls ziemlich jung.

Die interessante Frage, die sich hier für mich anschließt, ist die nach dem Publikum. Von D'Arienzo wird ja immer gesagt, dass er die jungen Leute wieder zum Tangotanzen gebracht hat. Stimmt das überhaupt, und wieso hat Donato das nicht geschafft? Wie jung müssen wir uns das vorstellen? Hat der Tango die Jugend gehalten oder ist sie irgendwann wieder abgesprungen, weil der Tango zu erwachsen wurde? Mitte der 40ern scheint ja selbst D'Arienzo mit Echagüe die Frische und den Drive verloren zu haben.

Danke übrigens für die nette Anekdote zu "9 Puntos"; mal sehen, ob ich das jetzt anders tanze ...

Schönes Tanzen allerseits
T.

Christian Tobler hat gesagt…

@ Tan Guero,

keine Ahnung, warum Donato nicht geschafft hat, was d’Arienzo gelungen ist. Mein Eindruck ist, dass d’Arienzo zielstrebiger und konsequenter im Umsetzen seiner sehr konkreten Vorstellungen war. Und vielleicht war die Zeit dafür in den Jahren 35/36 schlicht überreif. Gardel hat den Löffel abgeben und dem Land ging es wirtschaftlich wieder gut. Ich finde, dass Echagüe wunderbar dazu passt, wie d’Arienzo in den Jahren 39/39 musiziert. Das ist aus einem Guss, frisch, lebendig, tanzspassig, kugelrund und doch überraschend. Rock? Ja, auch das.

Das völlig neue Orchester d’Arienzos ab 1940 ist für mich ganz anders und wenn ein Sänger überhaupt nicht zu d’Arienzo passt, dann war das Mauré mit seiner sophistizierten Art. Das war ein tolles Orchester bis 44. Aber es ist kein Zufall, dass das Orchester nach Maurés Abgang sofort wieder härter im Klang wurde. Sowohl Laborde als auch Echagüe erzwingen diesen Schritt. Sonst würden sie aus dem Orchester wie falsche Fuffziger heraus stechen. Ab 1940 ist d’Arienzo zudem kein Vorreiter mehr. Diese Rolle haben ihm Laurenz und di Sarli, Troilo und Calo weggeschnappt und er hatte diesbezüglich gar nichts zu melden. Mit Mauré versucht d’Arienzo ein Stück weit an diese Erneuerung anzuknüpfen, bis er nach dem Abgang von Mauré wieder zu seinem Kern zurück findet. Natürlich ändert das nichts daran, dass d’Arienzo mit Mauré tolle Tanzmusik ist. Aber oft hat man schon den Eindruck, das Orchester würde mit halb angezogener Handbremse musizieren.

„Nueve Puntos“ deswegen anders tanzen? Das muss ich sehen! Mach davon bitte ein HD-Video und stell es in Youtube ein. Ich kann es kaum erwarten zu sehen wie du zu dieser elegischen Musik von di Sarli deutlich markierend von Stufe eins auf Stufe zwei auf Stufe drei… Und was deine Partnerin damit macht. Und was du dabei für Geräusche produzierst. Das muss auf jeden Fall irgendwie metallisch klingen. Aber was geschieht wenn du an einer vollen Milonga auf Spur eins Stufe neun einlegst? Ich hoffe doch sehr, dass du über funktionierende Luftdruckbremsen mit zwei unabhängigen Kreisläufen verfügst. Zeit deiner Partnerin trotzdem, wo deine Notbremse zu finden ist. Und füll die Sandkästen vor dem lostanzen. Man weiss nie…

herzlich – Christian

Theresa hat gesagt…

@Christian

Danke für deine Ausführungen über Trambahnen im allgemeinen und den Tango "Nuevo puntos" im besonderen.

Mit dem, was du über das Verhältnis der Tänzer zu den Texten schreibst, bin ich ziemlich einverstanden. Ja, das Verständnis des Textes kann die Tanzqualität noch enorm steigern. Aber, wenn Tänzer sich die Freiheit nehmen, den Text zu ignorieren (weil sie ihn nicht verstehen oder obwohl sie ihn verstehen), kann das Tanzen aber trotzdem phantastisch sein.

Wer von uns beiden plädiert nun für den "tierischen Ernst" gegenüber den Texten?

Jedenfalls kommst du mit deiner Sichtweise " bei vielen Tangos ist es schlicht unmöglich sie angemessen zu tanzen, wenn man nicht weiss, wovon die Verse handeln. Denn wenn im selben Moment, in dem meine Partnerin mir ihren Beinen ice crusher spielt, die Protagonistin auf dem Krankenbett ihren letzten Atemzug macht, ist das geschmacklos" in schwierige Abgenzungsprobleme. Über die Verachtung in "Mandria" hinweggehen, weil das Stück so fetzig ist? "Pasional" nur tanzen, wenn es das vorletzte Stück der Milonga ist – obwohl auch ohne Verständnis dieses Textes das Stück extrem anrührend ist - ?

Ich hatte jedenfalls nicht für einen tierischen Ernst plädiert - ich tanze narrisch gerne auf "Mandria" -, sondern wollte darauf aufmerksam machen, dass Texte mit einem, sagen wir, für uns befremdlichen Tenor, Teil der Tango-Kultur sind, weswegen ich "Respekt" nicht für die angebrachte Attidtüde ihr gegenüber als Ganzes halte.

(Der argentinische Freund, der sich weigert, auf "Mandria" zu tanzen, nimmt den Text jedenfalls tierisch ernst. Ich habe es auch schonmal erlebt, dass eine Argentinierin mich gebeten hat, "Tormenta" aufzulegen, ich bastelte also eine Tanda von Canaro mit Famá, und sie ging in die Ecke, schlug ein Heft auf, um in Inbrunst dieses Gebet mitzusingen, das ich normalerweise nicht auflege, wenn Spanisch Verstehende zugegen sind.)

Doch, man kann "Nueve puntos" jetzt , wo man den Inhalt kennt, anders tanzen. Einfach, indem man weiß ,dass es um die Gänge bei "dem Tram" (wie die Schweizer sagen) geht. Von außen muss das niemand merken, nicht mal die Partnerin.

Theresa

MBO hat gesagt…

Da mein Spanisch höchstens gut genug ist, um allenfalls einen groben Inhalt der Texte während einer Milonga zu verstehen, bin ich dankbar für alle interessanten Hinweise auf bemerkenswerte Textstellen oder gar so schöne Hintergrundinformationen wie die von Christian zu 9 Puntos.
Ich würde mich nämlich unbedingt der Behauptung von Theresa anschließen, dass man (zumindest im seiner persönlichen Empfindung) ein Stück unterschiedlich tanzt, je mehr man darüber weiß.
Wenigstens erarbeitet man sich auf diese Art die Möglichkeit hierzu. Darin unterscheiden sich Tango meiner Meinung nach nicht von einer Oper oder einem Schubert Lied. Sobald man ein Libretto und Hintergründe kennt, hat man die Option zwischen "vertieftem zuhören" oder dem schlichten "anhören", während man nebenher eigentlich gerade die Steuererklärung macht. Egal wie trivial der Text auch immer sein mag.

@Theresa
Danke für diesen Aspekt im blog. Wenn dir übrigens bei Rodríguez mal danach ist, Rotz und Wasser zu heulen, dann empfehle ich Dir "La casita está triste". Bei "¡Papito, yo quiero dormir con mamá!" am Ende, kann nicht mal Rodríguez fröhlich bleiben...

Chris hat gesagt…

@ Christian und Theresa

Eure Sichtweise, eine möglichst gelungene/treffende Interpretation setze auch Kenntnisse des Textes und diverser Hintergrundinformationen voraus, trifft zu, wenn eine derartige Interpretation auch gewollt ist.

Mein Ehrgeiz liegt darin, dem Stück etwas eigenes hinzuzufügen. Da ich aus einer anderen Zeit und einer anderen Kultur entstamme, würde ich mich in einer so werkgetreuen Interpretation nicht mehr wiederfinden können.

cassiel hat gesagt…

Nur ganz kurz (ich habe momentan viel Arbeit):

Christian hat noch einen ausführlichen und in meinen Augen sehr lesenswerten mehrteiligen Kommentar zum letzten Blog-Artikel verfasst. Dieser Kommentar findet sich hier.

Viel Spaß beim Lesen und einen angenehmen Tag...

Anonym hat gesagt…

Freebornman hat gesagt:

Ein paar Bemerkungen zu Cassiels behutsamer Öffnung gegenüber Astor Piazzolla:
Für mich ist Piazzolla der bedeutendste Tangomusiker des 20. Jahrhunderts – und darüber hinaus (da beißen auch Carlos Gardel und Annibal Troilo gemeinsam keinen Faden ab). Aber wir haben ihn ziehen lassen in die Konzertsäle oder zu niederländischen Königshochzeiten. Untanzbar! Das Etikett haftet Piazzolla an, seit die Hohepriester der Orthodoxie in Buenos Aires den jungen Wilden Ende in den 50-er Jahren als Ketzer gebrandmarkt haben.

Astor P. ist aus einer Welt ausgebrochen, in der er als Tanzmusiker immer wieder dieselben Hits live runternudeln sollte, deren knarzende Konserven wir heute verehren. Und der Mann hat immerhin für Anibal Troilo gearbeitet! Zu seiner Musik aus dieser Zeit tanzen wir sogar, in der Regel ohne es zu wissen. Denn da war der junge Astor nur Ensemblemitglied und Arrangeur – nicht die Weltmarke Piazzolla. Der alte Meister hat dem jungen Meister in spe damals Grenzen für seine Experimentierfreude gesetzt – nach seinem Begriff von „Tanzbarkeit“ am Ende der goldenen Zeiten.

Piazzollas Antwort waren sein Ausstieg aus der Tanzmusikszene und die „Zehn Gebote“ seines „Octeto de Buenos Aires“, deren siebentes lautet: „Wenn das Ensemble in der Öffentlichkeit zu hören ist, wird es nicht auf Tanzveranstaltungen spielen.“ Insofern trägt er Mitschuld am Klischee der Untanzbarkeit. Aber hatte er lebenslang etwas dagegen, dass zu seiner Musik getanzt wurde? Seine Witwe Laura Escalada Piazzolla erinnert sich anders: „Astor sagte eines Tages zu mir: Ich verstehe das nicht, hier in Argentinien behaupten sie, man kann zu meiner Musik nicht tanzen, aber auf der ganzen Welt tun es alle.“

Zugegeben, dieser Tanz fand zunächst auf der Bühne statt. Aber was die Profis von Ballett und Show für sich erobert haben, ist in vereinfachter „Volksausgabe“ doch für die „Pista“ der Amateure zu kapern. Wir sind Piazzolla den Tanz schuldig. Denn ohne den Siegeszug seiner Musik in den Konzertsälen und die Broadway tauglichen Shows von Juan Carlos Copes und Co. in den 80er Jahren würden die selbst Orthodoxen von heute (wenn überhaupt) Discofox tanzen, weil sie vom Tango nichts gehört hätten.

Wer aktuellen Tangoformationen zuhört, die ganz selbstverständlich zum Tanz spielen, wird schnell feststellen: Fast überall sind - ob in Harmonien, Rhythmik oder Phrasierung - Piazollas „Spuren“ deutlich wahrnehmbar. Ist es schlimm, wenn die musikalisch gebildeteren unter uns beim Tanzen Anklänge an Bela Bartok, Igor Stravinski oder den Jazz der klassischen Moderne wahrnehmen? Mich stört auch nicht, wenn ein Vals von Francisco Canaro mich an Johann Strauß erinnert.

Und überhaupt, was heißt „tanzbar“? Haben die Fans der „Epoca d'oro“ einen ungefähren Begriff davon, wie die goldigen Herrschaften im Buenos Aires der 1940er Jahre sich über das Parkett bewegt haben? Nach allem, was ich darüber gelesen habe, blieben die Füße weitgehend am Boden – nix mit Boleos, Ganchos & Co. Wer Piazzolla verschmäht, sollte sich mindestens die Hälfte seiner teuer erkauften Figuren verkneifen, will er zu „klassischer“ Musik wirklich klassisch tanzen.

Die Scheu vor Piazzollas Musik hängt meiner Meinung nach auch mit der falschen Unterstellung zusammen, zu „komplizierter“ Musik müsse man kompliziert tanzen. Wer es kann, darf, aber er/sie muss es nicht. Auch ausladende Neo-Figuren sind nicht nötig. Nur gutes Zuhören. Was für eine wunderbare Erfahrung, sich in so ein komplexes Stück langsam, aber immer sicherer gemeinsam hinein zu tasten. Wenn wir dann den sprichwörtlichen „Flow“ finden - der pure Traum, mag auch die persönliche Choreografie zunächst noch unterkomplex sein. Ich weiß in solchen Momente sowieso nicht mehr, welche Schritte oder Kombinationen ich tanze. Ich spüre nur die Symbiose zwischen der Musik, meiner Partnerin und mir. „Die Musik führt mich“ hat der alte Milonguero Tete Rusconi gesagt. Vom Metronom war nicht die Rede.



Unknown hat gesagt…

Wer ist Astor Piazzolla für mich?

Für mich ist er ein Komponist, der in der Mitte der 20 Jahrhundert sehr emotionale Werke auf Basis von traditioneller Tangomusik geschaffen hat. Er bereicherte die Tango-Harmonien mit Elemente der traditionellen Jazz-Musik und führte neue für den traditionellen Tango unübliche Spieltechniken ein. Er blieb der melancholischen Stimmung der Tango treu und behielt die typische Charakteristika des Tangos bei, wie Stakkati, synkopierte Rhythmen und der spezifische Bandoneon-Klang. Auf Basis von diese Elemente schuf er ein unterwechselte Klang, der ich persönlich sehr schätze und liebe.

Traditionale Musik war immer eine Inspirationsquelle für klassische Werke. Joseph Haydn und Johannes Brahms sind nur zwei Beispiele dafür wie man Roma-Musik konzertant verarbeiten kann. Auch Jazz wurde mehrfach durch Komponisten der 20 Jahrhundert in seinen Werken verwendet. Wer hat nicht (mindestens Teile von) die Suite Nr. 2 für Jazzorchester von Dmitri Schostakowitsch genossen? Die Fähigkeit großer Komponisten sich von verschieden Musik-Quelle zu inspirieren ist faszinierend und für mich eine der bemerkenswerteste Interaktionen zw. der verschieden Kulturen. Ein argentinischer Komponist, der als Kind in New York das Jazz kennen gelernt hat, sein italienischer Vater ihn Bandoneon und die Liebe zur Tango beigebracht hat, in Buenos Aires und Paris klassische Komposition studierte und begeistert von der Musik Bachs war, ist zwangläufig eine Bereicherung des Musikgeschehens des 20 Jahrhundert. Nur… keiner Bezeichnet der Musik von Brams als Roma-Musik und die Suite Nr. 2 von Schostakovitsch ist auch kein Jazz. Warum soll man die konzertante Musik von Piazzolla (z.Bsp. Histoire du Tango) als Tango bezeichnen?

Piazzolla hat einige traditionelle Tangos komponiert (Suite para cuerdas y arpa 1943, El desbande - 1946, Triunfal - 1950). Keine davon wurde ein Erfolg. Anfang der 40er traf Piazzolla Alberto Ginastera, ein hervorragender argentinischer Komponist und Klavierspieler und nahm bei ihm Kompositionsunterricht. Die Tangos aus dieser Zeit sind für mich keine typische traditionelle Tangos - sie weisen eine eigenartige Struktur auf und melodisch unterscheiden sich von den üblich Tangos.

1939, 18-Jährig, wurde Piazzolla in den Orchester von Troilo als Bandoneonspieler engagiert. Schnell erkannte der erfahrenen Bandlieder die Fähigkeiten von Piazzolla und beauftragte ihm mit Arrangements einige Tangostücke. Wie weit der junge Piazzolla die Stücke selbständig arrangiert hat, weiß ich nicht - überliefert ist, dass Troilo die Arrangements oft und rigoros korrigiert hat. Piazzolla müsste ja mit einem anderen Arrangeur konkurrieren - der, wesentlich ältere und erfahrenere Pianist Orlando Goñi. Die Erfolge als Arrangeur kamen erst in der Orchester von Fiorentino (der wunderbare Sänger von Troilo; ich liebe sein Gesang). 1944 sollte Piazzolla das bereits verstorbene Pianist Goñi ersetzen. Der Orchester von Fracisco Fiorentino nahm (laut todotango.com) 22 Stücke (meist arrangiert von Piazzolla), die keine kommerziellen Erfolge waren.

Auch einen eigenen Orchester (1946-1949) brachte kein der Durchbruch in der Tango-Szene von Buenos Aires. Die wenige Aufnahmen aus dieser Zeit wurden auch kein Erfolg

Es ist unfair, das Werk von so einem bedeutenden Komponisten in nur einige Sätze zu umschreiben. Ich bitte Leser, die sich bestimmt besser als ich auskennen mein strafbar-verkürzten und oberflächlichen Beitrag zu ergänzen. Astor Piazzolla war für mich zur keinen Zeitpunkt einen hervorragende Tangomusiker (Komponist, Bandoneonspieler, Arrangeur, Bandleader). Später in der 60er hat er hervorragende Musik komponiert, die ich sehr gerne genieße - nur nicht beim tanzen

Unknown hat gesagt…

Anonykous@09.06.2014 (Freebornman)

In deinen Beitrag hast du einige Aussagen mit den ich nicht einverstanden bin. Ich werde jetzt nicht jede einzelne kommentieren. Einen Satz kann ich aber sofort unterschreiben:
"Nach allem, was ich darüber gelesen habe, blieben die Füße weitgehend am Boden – nix mit Boleos, Ganchos & Co. Wer Piazzolla verschmäht, sollte sich mindestens die Hälfte seiner teuer erkauften Figuren verkneifen, will er zu „klassischer“ Musik wirklich klassisch tanzen." - ja ich habe jahrelang in Figuren investiert, die ich jetzt nicht tanze – nix mit Boleos, Ganchos & Co :)

Wolfgang_wi hat gesagt…

@Freebornman,

das Lesen dieses Beitrags war erfrischend.

Um es nochmal zu wiederholen, was ich in einem anderen Thread geschrieben habe - für mich ist "der Tango" wie ein großes Haus mit vielen Räumen, das am besten ohne Schlösser oder Türsteher bleibt.

Soweit ich weiß, werden auch die traditionellsten Tradi-Fans nicht fertig konfiguriert vom Klapperstorch gebracht. Es gibt, in diesem Bild eines Hauses, Bewegung zwischen den Räumen, in alle Richtungen. Gelassenheit und Neugier sichert eine breite genetische Basis für ein langes Leben "des Tango". Abgrenzung und aggressive "Vorwärtsverteidigung" gefühlter Status-Bedrohungen gefährdet sie durch Inzucht.

Peter Baumgartner hat gesagt…

Hallo männliche Tango-Freunde. Habt Ihr neben dem obergescheiten Gestänkere und Gequassel auch noch Zeit zum Tanzen?

Peter Baumgartner

Lydia Stolle hat gesagt…

Herzlichen Dank, Peter Baumgartner

Wolfgang_wi hat gesagt…

@Peter Baumgartner, äh...ich würde Dir ja grundsätzlich zustimmen, falls Du sagen wolltest, "habt ihr nichts Besseres zu tun?"...nur eine neugierige Frage, hast Du diesen Text abgefeuert, nachdem Du all das Zeug gelesen und nichts für Dich Nützliches oder Unterhaltsames darin gefunden hast...oder einfach nur so?

Und, sorry daß ich Dir erst jetzt schreiben kann..hatte vorher einfach zu viel anderes zu tun.

Schönen Gruß an Lydia, bei dieser Gelegenheit.

cassiel hat gesagt…

[Ich hatte zwei Wochen Urlaub vom Blog (und das Blog hatte zwei Wochen Urlaub von mir :-) ), deswegen kommen meine Anmerkungen etwas verspätet]

@Freebornman

Danke für Deinen umfangreichen Kommentar. Ich verstehe nicht so ganz, wo Du eine behutsame Öffnung bei mir siehst. Ich lehne Astor Piazzolla keinesfalls ab. Er hat in meinen Augen allerdings eben nicht für Tänzer komponiert und gespielt. Das kann man direkt aus seiner Musik ableiten und es gibt auch Zitate, die diesen Schluss zulassen. Was ist daran so schlimm?

Wenn Du Astor Piazzolla als den bedeutensten argentinischen Musiker des 20. Jahrhunderts siehst, dann ich das Deine vollkommen berechtigte private Meinung, es ist aber auch ebenso legitim, es anders zu sehen. Ja, er hat wohl bei der Hochzeit des niederländischen Tronfolgers mit einer Argentinierin gespielt, aber das ist für mich noch kein Beleg für eine (wie auch immer geartete) Tanzbarkeit.

Weiterhin führst Du aus, dass zu den Stücken von Piazzolla auf der Bühne getanzt wird. Da liegt für mein Empfinden der fundamentale Unterschied, über den ich hier nun schon eine Weile blogge. Für mich ist der Bühnentango mit dem sozialen Tango in der Milonga nicht vergleichbar. Beim Bühnentango muss eine Emotion sichtbar getanzt werden, d.h. sie ist i.d.R. choreographiert um beobachtbar zu sein. Im sozialen Tango braucht es diese Choreographie eben nicht - Gefühle externalisieren sich auf ntürliche Weise selbst (das ist nicht von mir, sondern aus dem späten Interview mit Carlos Gavito).

Natürlich ist das kompositorische und das interpretatorische Werk von Astor Piazzolla undenkbar ohne den Tango. Also wird es vermutlich Tango sein. Für mein Empfinden fehlen den Werken Piazzollas aber entscheidende Kriterien für die Milonga. Um es einmal pointiert zu sagen: Ich finde beispielsweise in dem Stück Libertango nichts von dem, was ich im Tnago suche. Gleichwohl ist es bei YouTube häufig als Bühnentango zu finden. Es ist eine Hatz, ein nervöses Galoppieren und es verlangt von einem tanzenden Paar, dass sie sich von der Musik antreiben lassen. Das widerspricht zumindest meinem Tangoempfinden.

Wenn Du von „knarzenden Konserven“ schreibst, dann vermute ich, wir suchen wirklich vollkommen unterschiedliche Aspekte in der Tangomusik. Mir fällt immer häufiger diese stark wertende Wortwahl auf. Für meine Begriffe führt das nicht weiter.

Ich habe ja auch im Laufe meiner Tango-Karriere einmal die Musik von Astor Piazzolla ganz toll gefunden. Das ergeht wohl jedem so. Wenn ich jetzt schreibe, dass ich der Auffassung bin, es hat etwas mit Erfahrung oder mit dem „Tango-Alter“ zu tun, dann möchte ich damit gewiss niemanden kränken. Ich habe nur häufig den Eindruck, die glühenden Verehrer der stark emotionalen Musik Piazzollas können sich vielleicht nicht vorstellen, dass es manchmal eben nicht das ganz große Kino braucht. Der Dialog im Paar namens Tango kann auch sehr klein und unauffällig passieren.

cassiel hat gesagt…

@Peter Baumgartner

Zunächst eine Vorbemerkung: Mir fällt es schwer, auf Anmerkungen, wie Du sie formuliert hast, adäquat zu reagieren. Ich kann natürlich noch einmal ruhig und sachlich meinen Standpunkt erläutern und mich damit dem Vorwurf aussetzen, weiterhin obergescheites Gequassel zu verbreiten, ich kann aber auch einfach schweigen und stehe dann in der Gefahr, dass mir Arroganz vorgeworfen wird, weil ich nicht auf jeden Beitrag reagiere.

Aufgrund der Tatsache, dass ich Anmerkungen nicht moderiere (d.h. es wird keine Selektion vor der Veröffentlichung durch mich durchgeführt), schaffen es dann auch Anmerkungen von der Güte Deiner Äußerung den Weg an die Öffentlichkeit. Damit kann ich ganz gut leben, manche Leserinnen und Leser stören sich an derartig flachen Kommentaren.

In Deinem Fall habe ich mich trotzdem entschieden, zu antworten.

Zunächst einmal eine offene Frage: Was unterscheidet denn Deiner Meinung nach Deinen Beitrag von dem von Dir wahrgenommenen obergescheiten Gequassel bzw. Gestänkere Deiner Mitkommentatoren? Ich sehe da keinen Unterschied. Auch Du schreibst von einer männlichen Position und Deine Wertungen könnten von Leserinnen und Lesern ebenso als obergescheit eingeordnet werden.

Wenn ich das richtig mitbekommen habe, dann ist Deine Anmerkung in dieser Diskussion Dein Debüt in diesem Blog gewesen. Inhaltlich finde ich leider keinerlei Substanz und so erlaube ich mir die Frage, was bezweckst Du mit einer solchen Äußerung? Erwartest Du eine sachliche Reaktion Deiner Mitmenschen? Oder geht es Dir eigentlich nur um Krawall?

Ganz grundsätzlich kann ich die von Dir unterschwellig vermittelte Analogie: „Diskutieren über Tango = wenig Zeit zum Tanzen“ nicht teilen. Es gibt eben unterschiedliche Herangehensweisen an den Tango, manche nähern sich eher intuitiv oder emotional, andere nähern sich eher intellektuell. Da gibt es nach meinen Beobachtungen kein Besser oder Schlechter.

Es wäre schön, wenn Du Dich inhaltlich einmal äußern könntest, dann könnte auch eine Diskussion entstehen.

Nichts für ungut... :-)