Dienstag, 22. November 2022

Wie sich mein Tango verändert (hat)

[Ich habe gerade drei Stunden Wartezeit bei der Heimreise von einer Tango-Wochenendveranstaltung zu überbrücken … da könnte ich ja vielleicht auch einen neuen Artikel schreiben…]

Ich kann kaum genau festmachen woran es liegt, aber in der Rückschau bemerke ich, wie sich mein Tango langsam, fast unmerklich ändert bzw. geändert hat. Darüber versuche ich, hier einmal zu schreiben.

Natürlich war Corona eine Zäsur. Auch wenn ich durch Reisen kaum Einschränkungen erlebt habe, so ist doch die ursprüngliche Unbekümmertheit verschwunden. Verschiedenste Corona-Regelungen, Tests und der Gedanke im Hinterkopf, wann es wohl mich „erwischen“ wird (bislang hat mich das Virus noch nicht erreicht), haben Spuren hinterlassen – auch wenn ich mich durch die frühzeitigen und vollständigen Impfungen gut geschützt fühle.

Während der Hochphase der Pandemie habe ich verstärkt allein Tangomusik zu Hause gehört. Bei Milongabesuchen habe ich dann natürlich noch genauer hingehört. Darüber habe ich im letzten Artikel geschrieben. Leider hat sich mein Eindruck von der überwiegenden Anzahl der erlebten DJs verfestigt.

 Zusätzlich bemerke ich an mir, wie ich eine ausgeprägte Vorliebe für „kleinere“ Veranstaltungen entwickle. Liegt dies auch an der Pandemie, oder ist es meine eigene Entwicklung? War es mir früher ziemlich egal, wieviele Tänzerinnen und Tänzer in einer Milonga waren, bemerke ich jetzt, wie ich Veranstaltungen mental aussortiere, die für 200 oder mehr Teilnehmende ausgeschrieben werden. Ich finde Veranstaltungsgrößen von 120 bis 150 Teilnehmenden für mich viel idealer. Ich meine zu beobachten, dass die Gefahr, dass einzelne Damen stundenlang sitzen, viel geringer bei kleineren Veranstaltungen ist (vorausgesetzt, dass die Veranstaltung „role-balanced“ ausgeschrieben wurde).

Ich weiß nicht, ob es eine kommerzielle Notwendigkeit ist, oder ob Veranstaltende einfach möglichst viele zahlende Gäste wollen: Ich habe Veranstaltungen erlebt, bei denen keine Balance der Rollen gegeben war und permanent Frauen über Stunden auf ihren Plätzen saßen und nicht zum Tanzen gekommen sind. Dabei sind das häufig sehr erfahrene, gute Tänzerinnen. Im Tango-Soziotop ist leider häufiger zu beobachten, dass die jüngeren Damen (vielleicht noch im auffälligeren Tangokleid) erheblich häufiger aufgefordert werden, als die erfahreneren Tänzerinnen. Entgegen der manchmal vertretenen Meinung, der Männermangel wäre doch für die männlichen Führenden eine komfortable Position, stressen mich solche Ereignisse erheblich.

Ich habe ein wenig im Netz recherchiert und bin über die Dunbar-Zahl gestolpert. Vielleicht ist das ja eine tango-unabhängige Erklärung für den Charme von kleineren Veranstaltungen (120 bis 150 Teilnehmende). Wobei mir, wenn ich es richtig verstanden habe, die Erklärung für die Gruppengröße zu biologistisch motiviert ist - Dunbar erklärt die Zahl mit der Fläche auf dem Neocortex - das halte ich dann doch eher für eine forsche Vermutung.

Eine andere Veränderung meiner Tangogewohnheiten betrifft das soziale Umfeld in einer Milonga. Ich bemerke bei mir selbst, dass ich mit immer weniger Verständnis auf menschlich induzierte Störungen im Sozialgefüge reagiere. Um es klar zu sagen: Mich stören nicht ein paar Jüngere im Tango, die aus Unerfahrenheit oder Ungeübtheit mehr Raum in der Ronda benötigen - erfahrene Tänzerinnen und Tänzer, die deutlich mehr Platz durch raumgreifendes Tanzen in Anspruch nehmen, empfinde ich mittlerweile als extrem unangenehm und störend. Es reichen zwei oder drei „Platzhirschen“ um eine Veranstaltung von 100 Personen ordentlich aufzumischen (und ja, es sind fast immer Männer; gerne auch einmal Tango-Profesionals, die da auffällig werden). Muss das sein? Eigentlich, so dachte ich bislang jedenfalls, sind die Profis in besonderer Weise gefragt, mit gutem Beispiel voranzugehen und sozial zu tanzen. Riesige raumgreifende Schritte („der Rest wird schon Platz machen“) empfinde ich nicht nur als unpassend, ich sehe das als – bisweilen rücksichtslosen – Egotrip. Ebenfalls in den Bereich der sozialen Merkwürdigkeiten fällt übrigens auch ein Phänomen, was mich schon immer abschreckt: Das Reservieren von festen Plätzen am Rande der Tanzfläche einer mehrtägigen Veranstaltung durch Jacken, Schuhbeutel etc. Ich kann es nicht verstehen! Manche Menschen im Tango vergessen vor lauter Panik, nicht den optimalen Platz in der Milonga zu bekommen, komplett jeden Rest von „guter Kinderstube“. (Eine ähnliche Beobachtung kann man übrigens auch beim Anstehen am Buffet nach der Milonga machen.)

Reservierte Plätze in der Milonga? Ernsthaft?

Ein weiterer Punkt sind Teilnehmende, die nur sehr ausgesucht tanzen. Sie fallen natürlich auf und ich frage mich, ob eine Gemeinschaft dauerhaft funktionieren kann, wenn Teilnehmende nicht mehr die ganze Gruppe im Blick haben sondern derartig selektiv unterwegs sind, dass es mit einigen anwesenden Tänzerinnen bzw. Tänzern zu keiner Tanda kommt, andere Partnerinnen bzw. Partner aber gleich mehrere Tandas lang betanzt werden. Es ist natürlich keine Regel, vielleicht eher eine Angewohnheit oder das, was im Englischen mit best practice beschrieben wird: Man kann es sich zur Angewohnheit machen, dass man mit jeder potentiellen Partnerin, jedem potentiellen Partner am Abend genau eine Tanda tanzt (solange noch Menschen in der Milonga sind, mit denen man an dem Abend noch nicht getanzt hat) und außerdm kann es oft lohnend sein, nach den Tanzpartnerinnen und Tanzpartnern Ausschau zu halten, mit denen man noch nie vorab getanzt hat. Da kann es immer wieder zu erfreulichen Überraschungen kommen.

Für längere Veranstaltungen (ein Wochenende oder so) bevorzuge ich mittlerweile die Veranstaltungen, bei denen eine Übernachtung in einem Airbnb möglich ist. Ich bin eigentlich durch mit den Events in irgendwelchen Hotels. Klar, das ist für Veranstaltende verlockend … vielleicht ist es etwas weniger Aufwand, wenn man die Infrastruktur von einem Hotel benutzen kann, aber Hotels sind praktisch immer schlechter und sehr häufig deutlich teurer als die Übernachtung im Airbnb mit der Möglichkeit der Selbstverpflegung. Und die Milonga findet bei Veranstaltungen in einem Hotel gerne einmal in einem fensterlosen Besprechungs- bzw. Konferenzraum statt. Da hat beinahe jeder andere Ort mehr Tangoflair.

Aus Gesprächen kenne ich die Vorlieben anderer Menschen im Tango. Vielleicht erwähne ich die hier auch einmal. Die Beschaffenheit des Bodens ist beispielsweise häufiger Thema von Gesprächen. Ja, das ist für Folgende (die in der Regel viel mehr pivotieren) ein großes Thema. Da bin ich persönlich nicht so empfindlich. Andere Menschen wiederum legen großen Wert auf ein adäquates Catering während der Milonga. In dem Punkt läuft meine Vorliebe vielleicht sogar gegensätzlich. Ich persönlich neige zu der Ansicht, dass ein üppiges Buffet den Charakter einer Milonga komplett drehen kann. Natürlich ist es schön, wenn man ein Stück Brot zwischendurch erwischen kann; Wurst und Käse plattenweise brauche ich nicht. Eine weitere Vorliebe betrifft den Garderobenbereich für den Wechsel der Schuhe. Auch in dem Punkt habe ich keine ausgeprägte Präferenz. Das ist mir eigentlich ziemlich egal. Lediglich bei der Veranstaltungstechnik bin ich etwas spezieller. Mir fehlt jedes Verständnis für Veranstaltende von großen (und möglicherweise teuren) Veranstaltungen, die keine Sorgfalt beispielsweise bei Auswahl und Position der Lautsprecher aufwenden. Das rächt sich für mein Empfinden direkt auf der Tanzfläche und das kann man m.E. sogar deutlich sehen.

Meine Tango-Vorlieben werden also spezieller. Das ist vielleicht eine natürliche Entwicklung und ich werde zukünftig vielleicht noch wählerischer bei den Veranstaltungen. Im Moment habe ich sowieso den Eindruck, dass sich immer mehr Anbietende den Markt aus immer weniger Teilnehmenden teilen müssen. Ich persönlich hoffe natürlich, dass sich die Veranstaltungen langfristig durchsetzen, die nach meinen Vorlieben konzipiert sind. Ich bin einmal gespannt.

Ich habe hier einmal über die Änderungen bei meinen Tango-Präferenzen geschrieben. Habe ich etwas vergessen? Gerne lese ich Ergänzungen und andere Ansichten in den Anmerkungen.

14 Anmerkung(en):

Martin Ziemer hat gesagt…

Moin Cassiel, was Deinen bevorzugten Veranstaltungstyp angeht bin ich 100% d'accord. Von der Teilnehmerselektion und Regeldurchsetzung möchte ich aber nicht abhängig werden, also auch eine regionale Milonga mit all ihren Unzulänglichkeiten noch besuchen können. Auch wenn das bedeutet mit tänzerischen, musikalischen und sozialen Interessenkonflikten umzugehen.

Anonym hat gesagt…

Es ist so schön von Dir zu lesen. Deine Texte sind spannend, so bekomme ich die andere Seite zu lesen. Als nicht mehr ganz junge Frau habe ich große Schwierigkeiten, mich bei Encuentros oder Marathons alleine anzumelden. Deswegen komme ich fast nicht mehr aus meiner Heimat heraus. Mir bleibt eigentlich nur, mich bei neuen Veranstaltungen anzumelden. Da klappt es manchmal. Wenn dann die Veranstaltung erfolgreich und schön war, komme ich im Folgejahr fast immer auf die Warteliste. Das ist frustrierend. Wie zählst Du eigentlich durch? Ich habe häufiger den Eindruck von zu vielen Frauen, kann es aber nie genau überprüfen. Kannst Du erklären, warum bei größeren Veranstaltungen manche Frauen länger sitzenbleiben? Schreib doch bitte ein wenig häufiger.

Ganz liebe Grüße

Sophia

cassiel hat gesagt…

@Martin Ziemer

Danke für Deine Anmerkung. Mein Beitrag war keinesfalls als Plädoyer für eine irgendwie geartete „Abhängigkeit“ gemeint (hoffentlich ist das aus dem Kontext klar geworden). Ich habe über Beobachtungen geschrieben, die ich bei größeren (und teureren) Veranstaltungen gemacht habe.
In der lokalen Milonga kann ich wunderbar mit Unzulänglichkeiten umgehen (tänzerisch, musikalisch, sozial). Allerdings benehme ich mich auf einer lokalen Milonga so, wie ich mich auf größeren überregionalen Veranstaltungen verhalte. Vielleicht ein Beispiel: Auch wenn ich in einer kleinen Milonga bin, fordere ich per Blickkontakt auf. Wenn das nicht üblich ist, tanze ich mit der entsprechenden Dame eben nicht. Ebenso bemühe ich mich beispielsweise, in der lokalen Milonga nicht selektiv aufzufordern.

@Sophia
Du begleitest ja mein Schreiben offensichtlich schon eine längere Zeit (falls Du immer die gleiche „Sophia“ bist). Vielen Dank!
Es tut mir sehr Leid, wenn Du davon schreibst, dass Du häufiger nur zu den Erstveranstaltungen eines neuen Formats eingeladen wirst. Ich kenne da leider auch keine Lösung.
Wie ich durchzähle? Das ist relativ einfach. Wenn ich eine Tanda bei relativ voller Tanzfläche tanze, dann komme ich ja beinahe automatisch „rum“. Beginnend bei „0“ addiere ich für jede sitzende Frau 1 und subtrahiere für jeden sitzenden Mann ebenso eine 1. Am Ende sollte da im Idealfall wieder als Ergebnis eine „0“ stehen. Die Methode lässt sich noch absichern über eine Wiederholung während des Abends (um Zufälle auszuschließen (Toilette, kurz draußen etc.). Zwei bis drei fehlende Männer bei einer dreistelligen Teilnehmendenzahl ist nach meinen Beobachtungen überhaupt kein Problem. Wird das Mißverhältnis dann zweistellig, wird es kompliziert.

Tangopeter hat gesagt…

Hallo Cassiel, was muss wohl eine Tänzerin monatlich ausgeben, wenn sie in etwa so oft und so anspruchsvoll unterwegs ist wie Du? Ich schätze mal 100-300 Euro. Ich frage das deshalb, weil der Tango sich verändert, er wird m.E. exklusiver im Sinne von ausschliessender. Nach meinen Erfahrungen steigt die Zahl derer, die sich Tangoveranstaltungen nicht mehr oder nicht mehr so oft leisten können rasant. Ebenso rasant wie die Zahl der "Djs", deren Portfolio aus youtube-downloads besteht. Ich hoffe natürlich auch, dass sich Qualität langfristig durchsetzt, aber was fehlt sind Konzepte - das Problem wird meist genauso arrogant ignoriert wie das Mauerblümchen im (hier irgendeine Milonga einsetzen). Irgendwann könnte überdeutlich werden, dass die Tangoszene nicht nur aus Lehrern, Anwälten, Ärzten und IT Spezialisten besteht, denn ein Rentner mit 800 Euro plus Wohngeld wird vielleicht einfach nicht mehr da sein.

cassiel hat gesagt…

@Tangopeter 
Vielen Dank für Deine Anmerkung. Ja, Du hast Recht. Tango kann kostspielig sein. Ich bin eigentlich jedes zweite Wochenende unterwegs und das liegt primär nicht daran, dass es in meiner Heimatstadt keinen Tango gäbe - es liegt viel mehr an persönlichen Umständen (ich tanze gerne mit „neuen“, mir bislang unbekannten Tanzpartnerinnen und ich tanze einfach aber musikalisch orientiert; das ist in meiner Heimatstadt m.E. kaum möglich).
Zu den Kosten: Ein Wochenende kostet mich typischerweise zwischen 400 und 800 €. Der November war da ziemlich typisch. Anfang des Monats ein kleines Encuentro mit 4 Milongas (Freitagabend bis Sonntagnachmittag - 90€ => also moderater Beitrag, 2 Nächte im Airbnb, Anreise mit dem PKW, Lebensmittel z.T. vorgekocht und mitgenommen): Insgesamt 450 €. Das letzte Wochenende war es eine größere Veranstaltung in einer europäischen Hauptstadt mit insgesamt 7 Milongas (Donnerstagabend bis Sonntagabend - 120€ Beitrag, 4 Nächte im Hotel, Anreise mit Bahn und Flugzeug, Mahlzeiten in Gastronomie vor Ort gekauft): Insgesamt über 800 €.
Dafür spare ich an anderer Stelle in meinem Leben. Mein Auto ist etwa 20 Jahre alt, meine Computer haben etwa 10 Jahre auf der Uhr, ich lebe in einer kleinen Mietwohnung und ich arbeite sehr viel.
Mir ist durchaus bewusst, dass ich es mir irgendwann einmal nicht mehr leisten werden kann. 10 bis 15 k€ pro Jahr sind ein Haufen Geld. Bliebe als Ausweg, selbst unter die Veranstaltenden zu gehen. Dafür fehlt mir im Moment die Zeit.
Dann gibt es noch diejenigen, die Veranstaltungen zum Geldverdienen organisieren. Da wird eingeladen, was zwei Beine hat und das Wort „Tango“ fehlerfrei aussprechen kann. So entstehen diese Massenaufläufe mit 250 oder mehr Teilnhmenden. Da ist ordentlich Geld verdient.
Ich habe für das Dilemma leider auch keine Lösung.

Martin Ziemer hat gesagt…

Danke für Deine erweiterten Ausführungen, Cassiel, da gehe ich also 100% mit. Aber jeder soll seinen Weg suchen und finden. Rein praktisch war ich vermutlich ebenfalls auf einer der von Dir geschilderten Veranstaltungen. Ich bin dann bei der Abschiedsmilonga früher los und habe noch eine regionale Milonga besucht, nicht weit weg übrigens vom Tangopeter. Generell ist für mich die CPPT-Rate (cost per pleasant tanda ;)) bei regionalen Milongas oft besser. Flugreisen leiste ich mir nur, wenn sich noch weiterer Urlaub dazu gesellt.

Anonym hat gesagt…

Hey, sieh mal der Riedl:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2022/11/hat-sich-mein-tango-verandert.html

Schreibst du dazu?

cassiel hat gesagt…

@Anonym (Kommentar #7): 

Vielleicht stelle ich mich an. Ich finde eine äußerst knapp formulierte Frage, ob ich nun schreiben werde (mit einem Link auf ein anderes Blog) fast schon unhöflich. Wir sind hier keineswegs im Colosseum und ich wehre mich dagegen, hier einen (von mir empfundenen) Voyeurismus zu bedienen. Nein, aus guten Grund lese ich das Blog von Gerhard nicht mehr. Dafür ist mir meine Lebenszeit zu schade. Ich finde es aber prinzipiell gut, wenn andere Menschen zu ihrem Tango persönlich schreiben.

Weil jetzt aber die Frage aufgetaucht ist und ich auch ein wenig neugierig war, habe ich bei Gerhard gelesen … und war etwas enttäuscht. Es ist ein typischer Beitrag in seinem Blog. Ich könnte jetzt höflich sein und einfach schweigen. Ich kann aber auch einmal benennen, was mich stört. Mich stört zunächst dieses permanente Werten. Jede(r) Andersdenkende wird erst einmal mit abwertenden Worten belegt (so „bequeme“ ich mich beispielsweise zu schreiben, Thomas aus Berlin wird eine „blasierte Attitüde“ (in Fettschrift) bescheinigt usw). Das finde ich anstrengend und mir ist normalerweise meine Zeit zu schade, sie mit der Lektüre solcher Ergüsse zu verplempern …
Ein paar Klicks später lese ich u.a. einen Beitrag über einen „Dauer-Kommentierer“. Immerhin wird der nicht – wie sonst üblich bei Gerhard – namentlich genannt. Ich frage mich unvermittelt, was denn der Autor des „noch größeren Milongaführers“ anders macht. Schließlich kommentiert er auch jede Äußerung von mir und wenn es keine aktuellen Texte gibt, geht er eben 6-10 Jahre zurück und gräbt eine olle Kamelle aus.
Und ich bin wieder in die Falle getappt. Ich habe ein paar Artikel gelesen und mich verwundert gefragt, wie man auf solche Texte kommt, aber das geht mich nichts an. Tango Argentino ist nicht genau definiert bzw. kodifiziert und deswegen ist es natürlich Gerhards gutes Recht, darüber zu schreiben, was er für Tango hält (auch wenn es z.B. Musik von Peter Alexander ist, die für mich nun überhaupt nichts mit Tango zu tun hat). Es war wieder einmal Zeitvergeudung. Gerhard und ich haben einfach grundverschiedene Ansätze im Tango. Ich denke, ich werde mit meinem Zugang glücklicher. Ich muss jetzt allerdings weiter arbeiten. Bis dann …

Tangopeter hat gesagt…

@Cassiel [#5]
Deine Antwort hat mich überrascht: Präzise, ausführlich, offen und aufschlussreich - Respekt. Lösungen habe ich auch nicht, einiges wird sich von selbst lösen. Nämlich dann, wenn konkrete Zahlen in Rechnungsform spürbar werden und sich unser Tango drastisch verteuert. Du wirst es schwerer haben, denn für ein akzeptables Musikprogramm, gute Akustik UND reichhaltige Partnerwahl könnten bald weit höhere Preise und weitere Anfahrtswege drohen. Beispiel: Mail eines grossen Veranstalters der soeben mitteilt, dass im kommenden Januar und Februar der Tanzsaal nicht zur Verfügung steht - Verdopplung der ohnehin happigen Heizkosten. So wird es vielen Milogabetreibern gehen, die auf Dritte wie kulturelle Trägervereine angewiesen sind. Wer seinen Lebensunterhalt ausschliesslich mit Tango bestreitet, ist zunehmend von Pleite bedroht. Ich selbst halte die erweiterte Wohnzimmermilonga für eine Lösung, um einerseits die Preise möglichst niedrig und andererseits das musikalische Niveau möglichst hoch zu gestalten. Setzt natürlich Abstriche beim Service voraus, was Selbstbedienung und kleine Getränkeauswahl bedeutet. Wer "adäquates Catering" braucht ist hier verkehrt. Doch nur so sehe ich eine Chance, möglichst wenig Menschen aus finanziellen Gründen von einer guten Tanzgelegenheit auszuschliessen - mein Beispielrentner steigt bei etwa 50,-mtl. aus. Vielleicht findest Du ja doch ein wenig Zeit, um unter die Veranstaltenden zu gehen - kleine, feine Brötchen backen hat auch was. In meinem Biotop (NRW/NDS) gelten Milongas mit 30-50 Leuten als klein, bei 120 fängt schon die Grossveranstaltung an. Nur so zum Vergleich...

cassiel hat gesagt…

@Tangopeter 

Vielen Dank, dass Du erneut geschrieben hast. Ich bin etwas ratlos. Deine geschilderten Probleme sind nicht tango-spezifisch; es sind Probleme, vor denen alle stehen, die größere Veranstaltungen organisieren. Ja, es kann beispielsweise auch einen Strick- oder Kochkurs der VHS betreffen. Insofern werden wir das Problem nicht „im“ Tango lösen können. Einen möglichen Lösungsweg hast Du ja bereits aufgezeigt: Die größere private Veranstaltung (dafür muss man natürlich auch erst einmal den Platz haben). Dieses Konzept setzt allerdings voraus, dass es Menschen gibt, die sich ehrenamtlich engagieren. Das ging meiner Wahrnehmung nach in Corona-Zeiten überproportional zurück und hat noch nicht wieder das ursprüngliche Niveau erreicht. Aber rechnen wir es vielleicht einmal durch. Nehemn wir 30 bis 50 Telnehmende mit einem Eintritt von 10 €. Dann wird es für meine Begriffe schon eng. Selbst mit dem Härtefalltarif der GEMA sind schon einmal 10% weg. Wenn man einen DJ bezahlen möchte, sind noch einmal 1 € bis 1,50 € pro Teilnehmer fällig. Eine Raummiete muss beglichen werden (da wird unter 100 € nichts gehen) und vielleicht gibt es noch etwas Deko zu besorgen. Dann ist das Geld schon verfrühstückt. So schnell geht das. Also müssen zusätzliche Einnamen über den Getränkeverkauf generiert werden (um da zumindest nicht draufzulegen). Das erfordert aber schon wieder eine offizielle Genehmigung und eine Logistik.
Die Alternative? An der GEMA sparen ist eine schlechte Idee. Das rächt sich irgendwann. DJs nicht zu bezahlen verbietet sich meiner Meinung nach. Allerdings nehme ich beispielsweise für das Auflegen kein Geld, wenn die Veranstaltung das offensichtlich nicht abwirft. Beim Raum kann man ja vielleicht noch etwas Geld sparen, wenn sich eine Möglichkeit bietet, einen öffentlichen Raum zum günstigen Preis zu buchen.
Und zu Deinem Vorschlag, ich möge doch unter die Veranstaltenden gehen: Ich habe das gemacht. Es ist sehr viel Arbeit und ich habe eine Menge Geld mitgebracht (so habe ich mir beispielsweise eine geeignete Audioanlage nur für Veranstaltungen gekauft, die steht jetzt ungenutzt herum). Um das wirklich erfolgreich und dauerhaft zu machen, müsste es eine gewisse Regelmäßigkeit geben. Das geht in meinem Leben gerade nicht.

Martin Ziemer hat gesagt…

"Erweiterte Wohnzimmermilonga", das kling doch gut.

"Erweitern" muss man das Wohnzimmer mindestens um eine Küche - einen Ort wo man schwatzen und essen kann. Denn erwartete 10-30 Personen, das reicht eher nicht um einen ganzen Abend "nur" zu tanzen.
Ein Wohnzimmer kann man mit einer HiFi-Anlage qualitativ gut beschallen. Und als Mini-Veranstalter sollte man auch Mini-DJ sein können, Mini-Koch ebenso, sonst wird's unhandlich. Solange man "con amigos" veranstaltet und nicht öffentlich ausschreibt, wird kein GEMA-Beitrag fällig.
So als Richtwert, ich kam während Corona mit 7€ "all inclusive" für (Yoga-)Raum und Einkäufe hin.

Strukturelle Probleme, insbesondere bezüglich Nachwuchs und Unterricht, werden durch solche Aktionen freilich nicht gelöst.

Austin hat gesagt…

Mein Tango hat sich durch Corona, oder eher, veranlasst durch Corona, ganz extrem geändert. Es macht soviel mehr Spaß als vorher.
Mein Prä-Corona-Tango bestand aus regelmäßigen Besuchen meiner Stamm-Milonga, die schon ganz okay war, aber so richtig Energie war nicht mehr drin. Ich war auch mit mir selbst nicht mehr recht zufrieden. Ich konnte meine Moves, vor Jahren mal gelernt, sehr routiniert führen, und ab und zu ergab sich mal eine Tanda mit wirklich schöne Momenten. Aber diese Momente wurden seltener, und ich kam immer mehr zur Überzeugung, dass ich nicht besonders gut tanze, dass ich nicht genug aus dieser Musik mache, für mich und für meine Partnerinnen, dass mein tänzerisches Vokabular viel zu beschränkt ist, dass ich meine Technik total verschlampt habe und die Moves nur deswegen funktionieren, weil meine Partnerinnen sie von mir schon lange kannten. Trotzdem bin ich immer noch regelmäßig hingegangen, um zuzuschauen, wegen der Musik, und natürlich auch, um selber zu tanzen, aber mit nachlassendem Elan und wachsenden Zweifeln.

Und dann kam Corona und alle Milongas haben dicht gemacht. Überall im Internet haben Tangoveranstalter Crowdfunding-Aufrufe gestartet, um irgendwie über die Runden zu kommen und ich beschloss, die Tanzschule meiner Wahl durch das regelmäßige Buchen von Privatstunden unterstützen und dabei mal gründlich meinen Tango durchzuputzen.

18 Monate später kann ich sagen: Das war die beste Idee, die ich seit langem hatte.

Meine früher routiniert abgespulten Muster habe ich weitgehend vergessen, aber dafür habe ich jetzt fast an jedem Punkt zwei oder drei Möglichkeiten, die ich nehmen kann, wenn die Musik es hergibt. Ich habe die Ruhe, auch mal ein paar Schläge nichts zu führen, ohne zu glauben, es fehlt was. Ich habe verstanden, was alles passieren muss, damit meine Führung klar wird, und erlebt, was Frauen/Folgende für großartige Dinge tun, wenn ich das gut mache. Und noch einiges mehr. Bekomme ich das alles hin? Natürlich nicht. Ich bin weit entfernt davon, auch nur das meiste richtig zu machen. Aber das ist egal. Jedes Mal klappt ein bisschen mehr. Und das beste: es macht viel mehr Spaß als vorher und ich finde auch Musikstücke super, mit denen ich vorher nichts anfangen konnte.

Meine Stamm-Milonga gibt es nicht mehr, ich erarbeite mir mein soziales Tango-Terrain neu, ich tanze ungefähr mit jeder Frau das erste Mal, und es ist einfach total interessant. Und die Genieß-Momente werden wieder mehr. So hat sich mein Tango verändert.

cassiel hat gesagt…

@Austin 

Eine wunderschöne, weiterführende Anmerkung, vielen, vielen Dank! Ich finde die Ideen mit weiterem Unterricht während der Coronazeit sehr spannend. In meinem Fall habe ich Blockunterricht genommen (mit kürzeren Einheiten komme ich nicht so gut klar). Ein Wochenende mit einem acht-stündigen Kurs oder eine Woche Unterricht waren bei mir sehr effektiv.

Und einen weiteren Gedanken finde ich spannend: Langeweile im eigenen Tango. Das kenne ich in Ansätzen auch und auch ich habe ein Rezept dagegen gesucht. Mein Weg war „mehr“ Tango (weil ich vielleicht einfach noch mehr „Übung“ bzw. „Erfahrung“ gebraucht habe). Ganz generell sollte ich vielleicht noch einmal gesondert zum Thema „Langeweile im eigenen Tango“ schreiben. Das ist ein spannendes Thema.

Noch einmal vielen Dank für die interessante Anmerkung. :-)

Tangopeter hat gesagt…

Martin Ziemer [#11]

"Erweiterte Wohnzimmermilonga" kann vieles sein. Mein Lieblingsbeispiel ist das El Corte, wer schon mal beim Möbelrücken dabei war, weiss, was ich meine. Erweiterungen kamen in Form von After- und Überlaufmilongas dazu. Das Mercure würde ich auch als Erweiterung bezeichnen ;-)) Entscheidend ist für mich das von Dir erwähnte "con amigos". Das könnte auch ein Verein sein oder eine Drop-In Milonga oder, oder. Möglichkeiten gibt es viele - Phantasie ist gefragt. Meine Intention ist es, solch ein Treffen genau so zu gestalten wie eine Milonga, zu der ich selbst gerne gehen würde. Nur mit dem Unterschied, dass ich auch gleichzeitig Gastgeber bin. Eine Milonga, in der gute Musik im Fokus steht und der Rest Nebensache ist.
Also traditioneller Tango auf programmatisch-akustisch hohem Niveau auf einer einladenden Piste.
Das ganze zu fairen Preisen aber ohne jeglichen Service. Die Amigos holen sich ihr Wasser selbst. Sowas muss man aber mögen - und als Einladende genug Zeit und Liebe zum Tango haben. Geld ist damit nicht zu verdienen, dafür bekomme ich aber _meinen_ Tango, den ich mit möglichst vielen Freunden teilen möchte. Das muss nicht ausschliesslich im Wohnzimmer sein.