Aufmerksame Leserinnen und Leser werden es geahnt haben: Mein Tango dümpelte (höchstwahrscheinlich selbstverschuldet) in letzter Zeit so dahin. Ohne da jetzt irgendwie undankbar zu sein muß ich dennoch betonen, daß meine Heimatszene mich manchmal aus dieser Stagnation nicht befreien kann. Zu festgelegt ist da meine Rolle (es gibt übrigens ein wundervolles Buch von dem amerikanischen Soziologen Erving Goffmann: Wir alle spielen Theater - Die Selbstdarstellung im Alltag; als Taschenbuch aus dem Piper-Verlag... keine 10 Euro) und zu eingefahren sind die Bewegungsabläufe mit den ortsansässigen Tangueras. Und dazu kommt, daß mich die äußerst subtil aber dennoch sehr energisch vorgetragenen Erwartungshaltungen mancher Tangueras in meiner Heimatszene momentan deutlich überfordern (da sperrt sich dann etwas in mir und ich weiß nicht genau, was es ist - derartige Vorkommnisse können mir allerdings einen Tangoabend nachhaltig verderben... dazu bin ich dann doch wohl zu sensibel). Obwohl es derzeit einen riesigen Berg Arbeit gibt, bin ich noch spontan mit einer Tanguera ins benachbarte Ausland zu einem Tangoball gefahren. Eigentlich ein Wahnsinn...
Was gibt es zu berichten? Eine eigenartige Umgebung für einen Tangoball... ein alter Bahnhofswartesaal (Ende des vorletzten Jahrhunderts) mit dem entsprechenden Ambiente, Livemusik (ein Trio - Violine, Kontrabass und Klavier), neue Gesichter beim Tango und eine (formulieren wir es vorsichtig) unorthodoxe Bewegungsweise auf dem Parkett (es gab schon deutlich übervölkertere Bälle von denen ich mit weniger Verletzungen heimgekommen bin). Immerhin kannte man dort den Cabeceo und ich hatte ein paar wundervolle Tandas. Leider tendiere ich zu den Frauen, die erkennbar schon einmal in Buenos Aires waren. Eigentlich bin ich kein Schuhfetischist, aber beim Tango erkenne ich einen Comme Il Faut oder Neo Tango sehr wohl. Dafür ist meine Führung allerdings deutlich zu europäisch zurückhaltend. Es geht aber immer irgendwie. Und trotzdem war ich latent unzufrieden mit meinem Tango. Gegen viertel vor drei wollte meine Tangofahrgemeinschafts-Partnerin aufbrechen und ich wollte gerade meine Schuhe wechseln. Noch einmal schaute ich halbrechts zu der Tanguera, die mir schon den ganzen Abend aufgefallen war. Sie saß dort im Gespräch mit einer Freundin und hatte (so jedenfalls meine Wahrnehmung) an dem Abend noch überhaupt nicht getanzt. Jetzt saß sie allein dort. So ging das nicht! Also musste ich spontan eine meiner eisernen Grundregel brechen. Die letzten drei Tangos mit meiner Mitreisenden hatte ich schon absolviert. Hmmm... es half nichts! Kurz gefragt, ob es wirklich OK ist, wenn ich noch drei Tangos tanze... es gab keine Einwände. Ein Lächeln, ein Kopfnicken und es war die Befreiung aus dem selbsterrichteten Tangoknast. Eine sehr elegante Tänzerin! Optisch eher unspektakulär... aber ein sehr ruhiger harmonischer Tango - eng, aber immer in der eigenen Achse stehend, ernsthaft und achtsam in der Bewegung und leicht bei den Schritten. So mag ich Tango. Nach den drei Tänzen gab es einen kurzen Smalltalk. Wir sehen uns in 3 Wochen bei einem Tangofestival... ;-)
So. Und nun noch eine kleine Randbemerkung zur Tanzdisziplin auf Bällen bzw. sehr vollen Milongas. Normalerweise ertönt meine Posaune nicht, wenn es gilt, den Untergang des Tangos zu signalisieren nur weil ein paar Nuevo Vertreter unangemessen posen. Ich mag das verbale Eindreschen auf die Nuevo Fraktion überhaupt nicht (zugegeben: In der letzten Tango Danza war von den Tango-Talibanen die Rede; da mußte ich dann doch schmunzeln). Gestern war Premiere! Ein Paar war derartig sportlich unterwegs, daß mich der Stöckel der Frau am Gelenk meiner rechten Hand traf (insgesamt habe ich von der Dame drei Treffer am Abend kassiert); glücklicherweise ging ihr Stöckel nicht zwischen die Schulterblätter meiner Tanzpartnerin. Das wird langsam richtig mühsam.
9 Anmerkung(en):
Eine echte Beruhigung und eine Erleichterung!
Auch ich befinde mich mit meinem Tango seit Wochen in der Krise, oder wie du es formulierst: im Tangoknast...
Nach dem Lesen deines Textes werde ich wieder entspannter.
Vielen Dank!
Alfred
Wo war denn dieser Bahnhofswartesaal?
Und wie immer verschlinge ich die Zeilen gierig...
Cassiel - El Señor del Tango
Das hört sich ja wunderbar an! Nun bin ich auf den Wochenstart gespannt - in welchem Lied sich Deine Stimmung wiederfindet.
Ich bin gestern auch aus meiner Heimatszene geflohen, nachdem die Freitagsmilonga wohl den ersten Preis hätte gewinnen können, wenn es einen Wettbewerb gegeben hätte "so aufzulegen, dass keiner mehr tanzen mag". Ein grauenhafter Abend.
Die Nachbarsszene (größere Stadt) hingegen hatte gestern eine phantastische Atmosphäre und absolut durchgehend wunderbare Musik. Das hat wieder etwas ausgesöhnt mit dem Freitagabend. Bin gespannt, wie es dann heute abend zurück in der heimischen Szene wird - manchmal wünschte ich, unsere Szene wäre wechselhafter/größer/vielfältiger und es hätte nicht jeder seine feste Rolle (wie Du oben beschreibst - gibt es bei uns auch). Da ist ein Abend so vorhersehbar... eigentlich das Gegenteil von dem, was ich beim Tango liebe...
Was bitte meinst du genau wenn du von den "...äußerst subtil aber dennoch sehr energisch vorgetragenen Erwartungshaltungen mancher Tangueras" schreibst?
Darf dich eine Dame nicht auffordern?
... und schon wieder erfreulich viele Kommentare. Ich muß doch häufiger auf die Seite schauen.
@Alfred
;-)
Das wird wieder (kann ich Dir aufgrund eigener Erfahrungen versichern).
@Malena
TT (Toller Trick) ;-)
Der Bahnhofswartesaal war natürlich in einem Bahnhof. :-)))
@Anonym
Zu gütig! Aber der Titel gehört wohl eindeutig zum unvergessenen Carlos Di Sarli. Für mich würde vielleicht:
Cassiel - der Milonga-Hausmeister
passen. Trotzdem: Danke für die Ehrerbietung. ;-)
Ach so... Carlos Di Sarli gehört für mein Empfinden zur Grundausstattung eines Tango DJs.
@Raxie
Musiktitel für die neue Woche? Abwarten! ;-)
DJ-Wettbewerb? Da konkurriert Dein Kandidat ganz heftig mit dem DJ der Milonga, auf der ich am Freitag war. Aber... wir sind höflich und schweigen... :-x
@Sophia
Deine Nachfrage kann ich verstehen. Ich habe länger für die Formulierung gebraucht. Sie ist klar genug für die abstrakten Umstände und diskret genug für die konkreten Umstände. Ich habe jetzt noch einmal nachgedacht und möchte die Formulierung unkommentiert so stehen lassen.
@All
Danke für die Kommentare
Jetzt hast du die Frage nicht beantwortet... war das Absicht?
Darf dich eine Dame nicht auffordern?
Sorry fürs Nachfragen...
Hmmmm... hab ich total übersehen. Natürlich darfst Du fragen. Und natürlich darf mich eine Dame auffordern und ich habe noch nie abgelehnt... Halt, das stimmt nicht... ich habe einmal sehr höflich die kleine Flucht angetreten. Die Einzelheiten sind aber hier nicht weiter wichtig.
Wenn mich eine Dame auffordert, so ist das i.d.R. überhaupt kein Thema. Ich wünche mir aber eine ähnliche Sensibilität in der Frae von Nähe und Distanz wie ich sie versuche aufzubringen. Natürlich gibt es da persönlichkeitsbedingte Toleranzen (oder Schwankungen).
Hmmm... ich glaube, ich kann das momentan nicht besser formulieren. Hoffentlich habe ich trotzdem Deine Frage beantwortet...
lg
c.
Wie das Auffordern per Kopfnicken hieß?
El cabeceo
... und im Colon war ich schon mehrmals... sehr schöne Milonga...
;-)
Schönes Wochenende...
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