Dienstag, 12. Januar 2010

Carlos Di Sarli - (m)ein Versuch der Annäherung an seine Musik

Vielleicht sollte ich es wirklich einmal versuchen, die Musik im Tango meinen Leserinnen und Lesern näher zu bringen. Nachdem ich keinerlei fachliche Ausbildung habe (hier gab es neulich eine unsägliche Diskussion), müssen diese Anmerkungen höchst subjektiv bleiben.

Heute vor 50 Jahren, am 12. Januar 1960, ist Carlos Di Sarli (eigentlich: Cayetano Di Sarli geboren am 07.01.1903 in Bahía Blanca) gestorben. Ich nehme den Jahrestag seines Todes zum Anlass und versuche einmal eine Hilfestellung für den Zugang zu seiner Musik zu formulieren.


Aber vielleicht gibt es ein paar biografische Hinweise vorab. Carlos Di Sarli war das fünfte von sechs gemeinsamen Kindern von Michele Di Sarli (aus Italien) und Serafina Russomano (aus Uruguay). In früher Jugend lernte er bereits Klavier und hatte seine ersten Auftritte 1916 im Alter von 13 Jahren. Aus den wunderbaren Anekdoten von Rodrigo bei tango-de wissen wir, daß das Tragen der Sonnenbrille bei Carlos di Sarli keine frühe Form einer "Künstlermacke" war; er hatte bei einem Unfall im väterlichen Waffengeschäft ein Auge verloren. Doch zurück zur Musik: Carlos Di Sarli erhielt Musikunterricht von seinem Bruder Domingo di Sarli, dieser war Dozent an einem Konservatorium in Buenos Aires. Ziemlich schnell spielte er in verschiedenen Formationen und gründete mit 1919 sein erstes Orchester in Bahía Blanca; er spielte hauptsächlich in Cafés und begleitete Stummfilme - 1925 (andere Quellen datieren dies Ereignis auf den Jahreswechsel 1927/28) gründete er sein erstes eigenes Sextett und spielte nach 1926 im Orchester von Osvaldo Fresedo, dem er freundschaftlich verbunden war (Di Sarli komponierte zu seinen Ehren Milonguero viejo).

Carlos di Sarli wechselte mehrmals seine Orchester. Gründe ließen sich für dieses Verhalten im Netz nicht finden; ich meine mich zu erinnern, daß er als Musiker kompromisslos war und das dies manchmal zu Meinungsverschiedenheiten in den Ensembles geführt hat (ich finde die Quelle nicht mehr). Andere Quellen berichten, ein Veranstalter habe ihn genötigt, seine Sonnenbrille abzusetzen. Vielleicht kann jemand zu dieser Zeit in einer Anmerkung nähere Angaben machen. Es gibt keinerlei Filmaufnahmen von ihm bzw. beim Auftritt (so wie z.B. von Juan D'Arienzo) - angeblich verweigerte er sich.

Aus den Tantiemen für seine Kompositionen und Einspielungen vermachte er übrigens laut einer anderen Anekdote ein Viertel an argentinische Kinderorganisationen.

Carlos Di Sarli verstarb kurz nachdem er 57 geworden war aufgrund eines Krebsleidens.

Carlos di Sarli muß wohl zu den Repertoire-Giganten gerechnet werden. Laut Wikipedia spielte er über 200 27 Alben zwischen 1929 und 1959 ein - aus denen wurden dann 200 verschiedene LPs zusammengestellt. In Tangokreisen hat er den Ehrennamen El Señor del Tango. Ich finde, er trägt ihn zu Recht.

Der Versuch einer Charakterisierung seiner Musik

Die Musik von Di Sarli ist m. E. ein dankbarer Einstieg in den Tango. Er hat einen ausgeprägten Stil und ist fast immer identifizierbar - will man einen Tango von ihm in eine fremde Tanda hineinschmuggeln, so hat man ernsthafte Probleme. Das geht u.U. noch mit frühen Einspielungen - später ist sein Stil einzigartig und unverwechselbar geworden.

Ich versuche, das an einem Beispiel zu verdeutlichen und wähle den Instrumentaltango Don Juan für die Erläuterung.



Folgende Merkmale sind für die Musik von Di Sarli m.E. typisch:

zunächst der rollende - fast stampfende Rhythmus gleich zu Beginn des Stücks (dieser wird durch das charakteristische Klavierspiel von Di Sarli ganz wesentlich gestaltet) - diese sehr akzentuierten Passagen werden häufig kontrastiert durch ein Staccato der Violinen und Bandoneons; dann wird die aufgebaute Spannung ganz plötzlich durch ein (fast lyrisches) Unisono der Streicher aufgelöst; nicht selten gibt es auch ein Violinsolo der ersten Geige (Roberto Guisado). Diese Wechselbad zwischen dem sehr präzisen Staccato und den fast elegischen Passagen kann man auch in anderer Hinsicht beobachten: Die Dynamik im Bezug auf Lautstärke und Tempo wird im Laufe der Jahre immer ausgeprägter. Vielleicht ist es auch lohnenswert einmal genau auf das Klavierspiel vom Meister persönlich zu achten. Es besteht für meine Ohren aus zwei wesentlichen Elementen. Da ist zum Einen das rollende Bassfundament, das Di Sarli mit seiner linken Hand spielt und zum Anderen treten immer wieder die Verzierungen in den höheren Tonlagen hervor. Mir fällt da spontan der Begriff perlend ein - anders kann ich es fast nicht beschreiben. Und noch etwas ist - zumindest für den späten Di Sarli - typisch: Das Bandoneon hat fast keine (oder kaum noch) Solo-Passagen ja nicht einmal mehr melodiöse Funktionen, bei den späten Di Sarlis hat das Bandoneon überwiegend rhythmische Aufgaben (mir fallen jedenfalls spontan zuerst Tangos aus den Jahren 1929 und 1930 ein, bei denen das Bandoneon eine Melodie trägt).

Vielleicht hören wir uns das noch einmal in einem anderen Instrumentaltango an. Möglicherweise wird im direkten Vergleich deutlich, wo die typischen Merkmale liegen.



Natürlich kann ein Blogeintrag keine erschöpfende Beschreibung und Würdigung eines der größten Tangokomponisten und -Interpreten liefern. Ich denke aber, bei Di Sarli ist der Zugang und das Identifizieren vergleichsweise leicht. Sein Stil hat sich zwar im Laufe der Jahre geringfügig verändert, der Grundcharakter schimmert aber für mein Empfinden in allen Stücken durch. Seine Darbietungsweise bleibt einzigartig. Allen Leserinnen und Lesern, die zu Hause Musik von Di Sarli haben empfehle ich vielleicht neben der Lektüre meiner beschreibenden Sätze noch einige Stücke parallel zu hören. So hat sich zumindest bei mir eine Sensibilität für seinen ausgeprägten Stil entwickelt.

An dieser Stelle kann ich auch nicht der Versuchung widerstehen und binde noch ein Video ein. Carlos Gavito tanzt mit Maria Plazaola "El ingeniero" - wie ich finde: Wunderschön!



Nachdem wir uns etwas intensiver die Instrumentaltangos angehört haben, möchte ich zumindest noch einen gesungenen Tango von Carlos Di Sarli vorstellen: Verdemar (hier gibt es den spanischen Text und eine englische Übersetzung) - es singt: Roberto Rufino (es gibt noch eine spätere Einspielung mit Oscar Serpa; die habe ich aber nicht als eingebettete Version gefunden).



Generationen von Tangoschülern haben ihre ersten Schritte zur Musik von Di Sarli gemacht (insofern ist der Film Je ne suis pas là pour être aimé vielleicht sehr typisch); manchmal kann ich verstehen, daß einige die Musik fast als langweilig empfinden. Trotzdem bleibt die Spielweise einzigartig und sollte auf keiner größeren Milonga fehlen. Es ist erstaunlich: Diese Tangos sind gleichermaßen bei Tango-Novizen und bei alten Hasen geschätzt.

Ich möchte diesen Beitrag mit sehr subjektiven CD-Empfehlungen beschließen:
Wer genau eine CD kaufen möchte, der ist vielleicht am besten mit Inolvidables RCA 20 Exitos bedient (es gab aus der Serie 100 años RCA eine CD, die leider vergriffen ist; diese war für mein Empfinden besser, wer sie gebraucht findet kann bedenkenlos kaufen).

Der differenziertere Käufer ist mit den CDs aus der Serie "Tango Argentino 20 Temas" bestens bedient. Hervorzuheben sind folgende Scheiben: Instrumental, Instrumental Vol. 2, Sus primeros Éxitos (Vol. 1, Vol. 2 und Vol. 3).

Wer das sehr lyrische gesungene Spätwerk (Ende der 50er Jahre) bevorzugt ist vielleicht gut beraten, wenn ich eine CD aus der Serie "Archivo RCA" empfehle: Carlos Di Sarli con Duran y Florio.

So. Ich hoffe. es war für jedem etwas Interessantes dabei. Sollte ich groben Unfug geschrieben haben so bitte ich um korrigierende Hinweise. Ich würde mich sehr freuen, wenn in den Anmerkungen bzw. Kommentaren u.a. auch einige persönliche Empfindungen oder Erlebnisse zur Musik von Di Sarli zu lesen sind - weitergehende fundierte Ergänzungen sind natürlich auch höchst willkommen. (M)ein Blog lebt vom Mitmachen.

24 Anmerkung(en):

Jochen Lüders hat gesagt…

Danke für diesen interessanten und hilfreichen Beitrag!

cassiel hat gesagt…

Da nich' füüür... (wie der Norddeutsche sagt)

Ich dachte schon, den Beitrag liest niemand... ;-)

Theresa hat gesagt…

Lieber Cassiel,

natürlich habe ich den Beitrag gelesen! Nur musste ich den heutigen Tag anderen, geldbringenden Aktivitäten widmen, anstatt mich in Tangoblogs rumzutreiben.

Ich finde den Beitrag sehr gelungen, vor allem die Charakterisierung von di Sarlis Spielstil. Das ist sozusagen "Zuhören und Kennenlernen" im Netz.

Ich persönlich würde noch mehr die stilistische Entwicklung betonen, die das Orchester zwischen 1928 und 1958 genommen hat. Wenn di Sarli im Unterricht hergenommen wird, wo es um Musikstile geht, dann eigentlich immer die Musik aus der Zeit zwischen 1942 und den 50er Jahren, wo das Tempo eher langsam war und die Grundstimmung lyrisch und feierlich; meist wird dann di Sarli als Antipode zu d'Arienzo vorgestellt. Die ganz frühen (um 1930) Aufnahmen und die aus der Zeit 1939-1941 sind deutlich dynamischer und teilweise fast hektisch (z.B. "Catamarca" von 1940). Das gerät bei der Typisierung von di Sarli als "ruhig" vs. "rhythmisch" (d'Arienzo) gerne in Vergessenheit.

Dies, wie gesagt, Mäkeln auf hohem Niveau!

Theresa

Lydia hat gesagt…

Auch ich möchte mich für diese Liebeserklärung an di Sarli bedanken. Ich äußere mich hier oft nicht, weil Deine Texte zum Nachdenken in so viele Richtungen anregen und ich mich da manchmal verheddere. Inzwischen haben entweder andere schon geschrieben, was ich hätte sagen können oder Du bist längst beim übernächsten Beitrag.

Mit di Sarli ist es mir tatsächlich so gegangen, wie Du es beschreibst: Als ich anfing, Tango zu lernen, begegnete mir seine Musik ständig, sei es bei Kursen, Practicas oder Milongas. Mein Tangolehrer hat bei seinen Veranstaltungen sehr oft di-Sarli-Stücke gespielt und ich werde für immer diese heimelige Atmosphäre seines Studios, in dem jeder jeden kannte, mit di Sarli verbinden. Seine Musik gibt mir heute noch wie eben das Studio meiner ersten Kurse (das es inzwischen schon längst nicht mehr gibt) ein Gefühl völliger Geborgenheit. Anders als die anderen Milongas, auf denen ich mich anfangs unter diesen ganzen fremden Menschen so verloren fühlte und meist viel länger sitzen musste, bis mich jemand zum Tanzen aufforderte.

Irgendwann, als ich mich nach und nach auch an die dramatischeren Stücke und Tango nuevos, später dann auch Non-Tangos wagte, verschwand di Sarli - ich muss es zugeben - bei mir in der Anfänger-Schublade, wahrscheinlich auch, weil die Assoziationen mit meiner Tango-Anfängerzeit bei dieser Musik so bildhaft und stark waren. Erst vor zwei, drei Jahren habe ich ihn wiederentdeckt, dank eines Tangueros, mit dem ich zu jener Zeit sehr häufig tanzte und der ein großer Verehrer di Sarlis ist. Er hat mir diese wunderbaren Tangos von Neuem nahegebracht und ich entdecke immer wieder Neues darin.

cassiel hat gesagt…

Liebe Theresa,

wenn jemand mäkeln darf, dann Du. ;-) Ich trete hier nicht mit dem Anspruch an, Deinen Vorträgen Konkurrenz zu machen. Ich bin nur immer wieder erstaunt, wenn ich merke, daß erfahrene Tangueras und Tangueros überhaupt keinen Schimmer von der Musik haben.

Ich habe leider noch nicht Deine Detailkenntnis und arbeite mich im Repertoire von Di Sarli quasi rückwärts vor. Meine Präferenzen ändern sich laufend. ;-) Ich höre "neue" Stücke und bin begeistert.

Mit diesem Beitrag über Di Sarli habe ich mir ja auch einen vergleichsweise einfachen Kandidaten herausgefischt. Das Werk von D'Arienzo, Troilo oder gar Pugliese vorzustellen, wäre ungleich schwieriger und im Rahmen eines Blogartikels vielleicht unmöglich.

Ich will zumindest mit diesem Artikel Neugier geweckt haben. Interessierte, die mehr erfahren wollen, schicke ich dann zu Dir und Christian. ;-)

cassiel hat gesagt…

@Lydia

Da haben wir wohl gleichzeitig geschrieben. ;-)

Ich hatte das Glück (oder das Pech - je nachdem wie man es sieht), daß ich in meinen ersten Tangokursen keinen einzigen Di Sarli zu hören bekommen habe. Insofern ist mein Verhältnis zu seiner Musik unbelastet.

Thomas hat gesagt…

Meine Hochachtung vor dieser Seminararbeit! Was mich oft freut, man kann ein paar Tandas Di Sarli hintereinander laufen lassen, und keiner merkt, dass eigentlich gar kein Orchesterwechsel stattfand.

cassiel hat gesagt…

@Thomas

Herzlich Willkommen hier. Ich konnte natürlich nicht widerstehen und habe auf Deinen Namen beim Kommentar geklickt und gesehen, daß Du vermutlich einen Blog vorbereitest. Fein! Das freut mich! Wenn ich irgendwie helfen kann, dann melde Dich doch einfach per eMail.

Mehrere Tandas di Sarli in Folge? Hmmm... da bin ich intuitiv zurückhaltend. Beim Auflegen habe ich zwar immer auch die Qual der Wahl (Welche Stücke wähle ich?). Aber ich begrenze das sehr bewußt; schließlich will ich vermeiden, daß der Stil als langweilig empfunden wird. Ich habe sowieso immer Probleme, alle Musik, die ich spielen möchte, in einen Abend zu packen. Manchmal verzichte ich sogar sehr bewußt auf eine Tango-Tanda von di Sarli und spiele nur eine Vals- oder Milonga-Tanda. Bei 20 bis 30 Tandas für eine vierstündige Milonga hat man sowieso schon das Problem der Auswahl. Vielleicht ist das ja sehr umständlich, aber ich versuche, sparsam und überlegt mit den "TOP 100" Stücken im Tango umzugehen.

;-)

Thomas hat gesagt…

Danke, Cassiel, wir kennen uns schon ein wenig. Die Beiträge der letzten Zeit unter meinem Namen sind von mir, nur der Blog ist eben neu. Das hat sich so ergeben, bin mal gespannt...

Austin hat gesagt…

@ Cassiel

Du sagst, dass es ungleich schwerer wäre, das Werk von d'Arienzo, Troilo oder Pugliese in dieser Weise vorzustellen. Schade, denn genau so was fände ich nämlich ziemlich gut. Gibt's so was schon (z. B. von Theresa), oder könntet Ihr da ein Joint Venture machen? Ich fände es völlig ausreichend, vier bis sechs Musikbeispiele zu haben mit ein paar Erläuterungen. So was reicht mir, um herauszufinden, was von wem ist, woran man einen Komponisten oder ein Orchester vielleicht erkennen kann, was mir daran gefällt, wo ich tiefer einsteigen will etc. Und wenn das alles nicht 120-prozentig musikwissenschaftlich genau ist, dann wäre mir das egal. Ich will ja nicht Musik studieren, sondern neue kennenlernen.

Sophia hat gesagt…

Lieber Cassiel,

ich tanze nun schon ein paar Jahre aber der Beitrag war ein echtes "Augenöffnen". Zunächst war ich ein wenig eingeschüchtert von der Länge des Textes. Dann habe ich mir Zeit genommen und ihn gelesen. Ein paar di Sarlis habe ich auch und so habe ich mich endlich einmal intensiver mit der Musik beschäftigt.

Gestern abend in der Milonga habe ich einen di Sarli erkannt. Es war ein Gefühl von Glück. Der DJ war ganz beeindruckt als ich ihn gefragt habe: "Das war doch ein di Sarli gell?"

Es ist aber schon eigenartig, dass sich mit der Zeit der Musikgeschmack festsetzt. Seit ich hier lese, werde ich immer empfindlicher. Abende an denen keine klassischen Tangos gespielt werden ärgern mich heute. Früher habe ich nur zu tangotauglichen Pop-Stücken getanzt, das kann ich mir heute nicht mehr vorstellen.

Tausend Dank für Deine Mühe!

Sophia

Raxie hat gesagt…

Bei der gestrigen Milonga habe ich viel an Cassiel denken müssen. Es macht wirklich einen unvorstellbaren Unterschied, wie u was aufgelegt wird. Gestern lag der Schwerpunkt auf Nontangos im "Random-System" gemischt mit eher weniger Tangos. Da ich mit meinem favorisierten Tanzpartner gemeinsam gekommen war u wir sehr viel (fast ausschließlich) miteinander getanzt haben, war es (zumindest für mich) nicht so schlimm. Wir haben es zwar beide überdeutlich registriert und sehr bedauert, kein wirkliches Tangogefühl bei dieser Musikauswahl entwickeln zu können, aber es war nicht weiter tragisch.

Was mich aber stutzig gemacht hat, war das Verhalten einer Tanguera. Und ich vermute, dass ein solches Verhalten nur auf einer derartigen Nontango-Milonga möglich ist. Und zwar kam die Dame zwischen zwei Liedern zu meinem Tanzpartner u mir auf die Tanzfläche und grüßte mich sehr nett und liess mich wissen, dass sie mir von weiteren Damen ausrichten solle, dass ich den Herrn doch auch mal teilen sollte. Sprachs und verschwand wieder am Tanzflächenrand.

Das war sicher eine spontane Aktion und wir hätten es auch leicht als großes Kompliment an meinen Tanzpartner sehen können, weil er wirklich ein ausgezeichneter Tänzer ist u mir keine Dame bekannt ist, die nicht überdurchschnittlich gerne mit ihm tanzen würde (mich inbegriffen). Aber ich war u bin irritiert von dieser Vorgehensweise der Tanguera.

Und ich glaube, dass sie sich dazu nicht hätte hinreißen lassen, wenn die Musik uns stimmiger umfangen hätte, eine tiefe Tanzatmosphäre geherrscht hätte, die einzelnen Paare mehr mit sich zu tun gehabt hätten, als nach jedem Lied fragend in die Runde zu schauen, was uns wohl als nächstes erwarten würde. Es war einfach zerrissen. Und dann ruhen wohl auch die Tangueras u Tangueros nicht in sich (meine Vermutung). Ob man überhaupt durchgängig von Tangueras u Tangueros sprechen kann, muss eh offen bleiben. Ein Paar hat zwischendurch ein ganzes Lied Discofox getanzt, bei einem anderen Lied war man start in Versuchung Foxtrott zu tanzen. Mit Tango hatte die Musikauswahl zum großen Teil nichts zu tun.

Aber zurück zum "Teilen" der Tanzpartner. Die Milonga war überraschend ausgewogen besucht, also kein Frauenüberschuss. Aber selbst, wenn dem so gewesen wäre - auch das wäre kein Grund gewesen, nicht vorhandene Rechte derart offensiv einzufordern.

Wer hier schon länger mitliest, weiß ja bereits, wie ich dazu stehe. Es gehören immer zwei Personen zu einer Tanzgemeinschaft. Und diese Gemeinschaft besteht genau so lange, wie diese beiden Personen das für sich als stimmig empfinden. Eine Milonga ist nun mal keine Wohltätigkeitsveranstaltung, wo mathematisch ausgerechnet wird, wieviel Tänzer jedem bei der Anzahl der vorhandenen Tänzer rein rechnerisch zuständen. Es zeichnet eine Tangoszene aus, wenn sie intern alle ein wenig darauf achten, dass jeder mal zum Tanzen kommt - aber einen Anspruch hat darauf niemand und einfordern darf das, meines Erachtens, auch niemand. Da hilft selbst die Entschuldigung der Nonmilonga-Musik nicht weiter...

Anonym hat gesagt…

Liebe Raxie,

vielen Dank für Deinen Bericht. Ich fand Deinen Gedanken interessant, daß gute Musik gute Stimmung schafft und indirekt Aggressionen senkt. Könnte was dran sein.

Den beschriebenen Vorfall finde ich unglaublich. Ich hoffe nur, daß mir so ein Erlebnis erspart bleibt. Ich weiß nicht, ob ich da meine Contenance bewahren könnte.

Es ist eine Unverschämtheit, Euch auf der Tanzfläche zu behelligen. Ich weiß nicht, ob ich zu weit gehe, aber in meiner Auffassung ist die Tanzfläche fast ein sakrosankter Raum. Dort sind Menschen miteinander intim (ja, das klingt jetzt ein wenig lustig, aber ich hoffe, es ist klar, wie ich es meine), will heißen, sie lassen sich fallen, öffnen sich. Und da dringt man nicht ein. Punkt.

Mich würde interessieren, wie das die anderen hier sehen. Vielleicht bin ich da zu radikal.

Ich bin ansonsten nicht sonderlich esoterisch, aber ich weiß, daß mir nach so einem Vorfall der Abend versaut wäre, weil ich dann im Hinterkopf hätte, daß meinem Tanz von Anderen im Raum negative Energie entgegengebracht wird.

Dir, Cassiel und den anderen Lesern noch ein schönes Wochenende!

Raxie hat gesagt…

Hallo Elbnymphe, ich glaube Du hast es auf den Punkt gebracht: Tanzpaare bilden eine intime Einheit, in die man nicht eindringt. Wunderbar formuliert! Und genau das war gestern der springende Punkt. Die Musikauswahl hat diese Intimität nicht zugelassen. Somit waren die Tanzpaare nicht wirkliche intime Einheiten und ich bin überzeugt davon, dass nur dieser Umstand es überhaupt ermöglicht hat, dass die betreffende Tanguera keine Hemmungen hatte, uns auf der Tanzfläche deutlichst darauf hinzuweisen, dass wir ja wohl nicht den ganzen Abend ausschließlich zusammen tanzen wollen! Ich denke, dass sie das sonst nicht gemacht hätte.
Wir haben es übrigens alle gut überlebt u der Abend war nicht ruiniert, allerdings hab ich es auch nicht vergessen, wie ja mein Beitrag deutlich zeigt. Wie gesagt, die Musik hat ja eh für einen gewissen Abstand zum Fallenlassen gesorgt u Intimität auch verhindert.

Aber vom Grundsatz gebe ich Dir absolut Recht. Das war ein absolutes NO NO. Von radikaler Ansicht kann bei Dir keine Rede sein.

Und wie Du siehst, besteht dringender Bedarf für Euer Tango-Lexikon mit integrierter Kniggefunktion... :-)

Lieben Gruß und allen eine wunderbare SamstagSonntagMilonga!

Apfelmus hat gesagt…

Für mich zählt eine Veranstaltung, bei der überwiegend Non-Tangos im Random-System gespielt werden, nicht zur Kategorie Milonga, egal, wie der Titel der Veranstaltung lautet und was die Leute dazu tanzen. Es ist logischerweise auch nicht zu erwarten, dass bei einer solchen Veranstaltung die einer Milonga eigene Stimmung aufkommt. Für mich klingt es nach einer Art Disco-Abend, und daher würde ich die Leute dort als "Tänzer/innen" bezeichnen, aber sicher nicht als Tangueras und Tangueros, dazu gehört aus meiner Sicht ein bißchen mehr als nur die Tango-Schritte aufs Parkett legen. Aber gut, ich bin Traditionalist ;-)

cassiel hat gesagt…

Die von Raxie beschriebene Situation ist ja ein Alptraum. Aber es gibt da neben der Störung eines tanzenden Paares noch einen weiteren Aspekt (zumindest in meinem Denken). Ich finde das Einfordern von Tänzen entwürdigend für die betreffende Dame. Sie hat sich und ihren Freundinnen letztendlich keinen guten Dienst erwiesen. Ich hatte hier schon über meine Sicht der Aufforderungssituation geschrieben. Meine Meinung hat sich nicht geändert.

Vielleicht ergänze ich einen Gedanken: Randomisiertes Abspielen von Neo-Tangos erlaubt für meine Begriffe keinen Zugang zur eigenen Gefühlswelt. Das sehe ich fast so wie Apfelmus. Eine traditionelle Milonga (auch mit ihren ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln) führt (im Glücksfall) zu einem Phänomen bei allen Anwesenden, das ich einmal als Rekonnektierung mit den eigenen Gefühlen bezeichnen möchte. Vielleicht ist das der wesentliche Faktor für einen gelungenen Tangoabend. Und da trägt jede/jeder ihren/seinen Teil dazu bei. Es ist mehr als der Boden, die Musik usw. Dazu gehört m.E. auch der Umgang miteinander, die Art und Weise wie Gästen der Szene begenet wird usw. usw.

Prinzipiell hat es zunächst einmal überhaupt nichts mit der Musik zu tun (also traditionell bzw. neo). Meine empirischen Beobachtungen sind nun aber einmal so, daß bei Neo-Tangos die Gefahr des "Aus-dem-Ruder-laufens" größer ist.

Apfelmus hat gesagt…

Raxie sprach nicht von Neo- sondern von Non-Tangos und einer "Nontango-Milonga" - letzteres übrigens für mich ein Widerspruch in sich...

cassiel hat gesagt…

Stimmt! Ich war abgelenkt (habe die Diskussion auf tango-de um die wunderbaren Glossen von Kevin kurz vorher gelesen).

Lydia hat gesagt…

Wenn ich mal blöd fragen darf: Was heißt "Random-System" bzw. "randomisiertes Abspielen" von (Non-/Neo-)Tangos?

Apfelmus hat gesagt…

Keine Tandas, damit keinerlei Struktur. Random heißt zufällig, planlos.

Raxie hat gesagt…

@Lydia
random = Zufall

Gemeint ist das willkürliche Auflegen von Titeln, die in sich keine Struktur haben. Also keine Tandas und auch sonst keine Harmonie innerhalb des Tanzflusses berücksichtigen.

@Apfelmus
Du hast natürlich völlig Recht, "Nontango-Milongas" sind ein Widerspruch in sich. Genau so hat es sich für mich auch angefühlt.

Aber ich möchte auch ausdrücklich anmerken, dass es an dem Abend auch einigen gefallen hat. Jemand hat sich am Ende des Abends auch ausdrücklich für die Musik bedankt.

Es ist und bleibt also wirklich persönlicher Geschmack und Empfinden, bei welcher Musik man sich wohl fühlt. Je länger ich tanze, desto wichtiger sind mir Tandas, gerne auch mit Cortinas, das muss aber nicht sein, und dann eine tendentiell eher traditionale Milonga, gerne aber auch mit Neotango Tandas.

Eine willkürliche Musikauswahl, die wenig mit Tango zu tun hat, kommt für mich eher nicht mehr in Betracht. Um nicht zu sagen - gar nicht :-)

Gestern hatte ich das genaue Gegenteil, als ich die weit u breit wirklich beste Milonga der Region besuchte. Ausgezeichnete Musikauswahl, wohlstrukturierte Tandas, wenige Neotangos, die aber sehr mitreißend... absolut gut!

Da lagen Welten zwischen den beiden Abenden. Galaxien fast schon... :-)

Apfelmus hat gesagt…

@cassiel: danke für den Kevin-Hinweis! Hab mich hervorragend amüsiert über die Potsdamer Tangotips #2 und #3....

Lydia hat gesagt…

@Apfelmus und Raxie:
Vielen Dank für Eure Ausführungen! Ich hatte es mir schon so ungefähr gedacht, wollte es aber genau wissen ...

Marion VO hat gesagt…

Danke für diesen umfangreichen und spannenden Beitrag! Auch wenn er nun schon ein paar Jahre alt ist, bleibt er aktuell und war das erquicklichste, was ich über Di Sarli im Netz gefunden habe.

Hier sind die Spuren meiner ersten eigenen intensiven Beschäftigung mit Di Sarli: http://icantango.blogspot.de/2013/01/im-morgengrauen.html

Viele Grüße!