Freitag, 15. Juli 2011

Der Tango und die Relativität

Am vorletzten Wochenende sagte die mir liebste Tanguera von allen plötzlich, sie müsse mir etwas vorlesen, es hätte sie sehr berührt und sie las mir den folgenden Absatz aus ihrer aktuellen Lektüre vor:

"Ich habe mir hier die Hände gewaschen", sagte der Vater einmal. "War das erlaubt?" "Ja, das ist dein Haus und dein Waschbecken." Er schaute mich erstaunt an, lächelte verlegen und sagte: "Meine Güte, hoffentlich vergesse ich das nicht wieder!" Das ist Demenz. Oder besser gesagt: Das ist das Leben - der Stoff aus dem das Leben gemacht ist.

Alzheimer ist eine Krankheit, die, wie jeder bedeutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur über sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrößerungsglas. Für uns alle ist die Welt verwirrend, und wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem Gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmaß der Fähigkeit, das Verwirrende an de Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos.
Auch für einen einigermaßen Gesunden ist die Ordnung im Kopf nur eine Fiktion des Verstandes.
Uns Gesunden öffnet die Alzheimerkrankheit die Augen dafür, wie komplex die Fähigkeiten sind, die es braucht, um den Alltag zu meistern. Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden. Durch Zufall ist das Leben des Vaters symptomatisch für diese Entwicklung. Sein Leben begann in einer Zeit, in der es zahlreiche feste Pfeiler gab (Familie, Religion, Machtstrukturen, Ideologien, Geschlechterrollen, Vaterland), und mündete in die Krankheit, als sich die westliche Gesellschaft bereits in einem Trümmerfeld solcher Stützen befand.
[Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil, Hanser - München 2011.]


Mich erinnerten diese Sätze entfernt an eine provokante Frage, die der streitbare Publizist Henryk M. Broder anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises (ich denke, es war 2007 - ich bin mir aber nicht ganz sicher) in seiner Dankesrede formulierte: "Bin ich verrückt, oder sind es die anderen?"
Und irgendwo in dieser Gegend kreisen meine Gedanken - auch im Tango. Ich erlebe in jüngster Zeit häufiger Menschen, die den Anspruch erheben, zu wissen wie genau der Tango zu sein hat. Egal, ob es in Internetforen, in eMails oder im persönlichen Umgang ist. Manchmal beneide ich diese Mitmenschen um ihre Sicherheit.

Wenn ich vom Tango spreche, dann versuche ich darauf zu achten, daß ich von meinem Tango spreche. Den Tango der Anderen kann ich allenfalls erahnen. Ich kann versuchen, ihn im Gespräch auszuloten und langsam zu begreifen, warum diese Mitmenschen sich auf genau eine Art und Weise dem Tango nähern.

Ich versuche leise zu sein (hier in meinem persönlichen Blog schreibe ich, was ich denke und wie ich fühle; eine Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebe ich i.d.R. nicht). Ich finde es übrigens bemerkenswert, wenn mir manche Mitmenschen im realen Leben Fundamentalismus attestieren (sie wissen nicht, daß ich blogge). Und fast unwillkürlich versuche ich zu erahnen, wie sie wohl darauf kommen. Ist es Angst, Eifersucht, Unwissenheit oder ein anderes Motiv?

Ich gebe es ja zu. In den letzten zwei oder drei Jahren ist mein Tango verkopfter geworden. Das mag manche Leserin, manchen Leser erschrecken. Für mich ist das ein Teil der Entwicklung die mein Tango erfährt. Ich weiß noch nicht, ob es ein Phase ist, die vorübergehen wird, oder ob es ein Dauerzustand bleibt. Ich denke, ich kann das in Ruhe und gelassen abwarten.

Der oben erwähnte Publizist Henryk M. Broder folgerte: "Toleranz hilft nur den Rücksichtslosen." Soweit mag ich nicht gehen. Für mich ist weder das Leben, noch der Tango ein Bereich, in dem man sich durchsetzen muss, um nicht unterzugehen. Allerdings beanspruche ich, daß man mir meinen Weg zugesteht. Im umgekehrten Fall bin ich ja auch bereit, Anderen ihren Weg zuzugestehen - ich muss ihn ja nicht unbedingt mitgehen.

Was krank, gesund, verrückt oder normal ist, daß kann man im Regelfall kaum noch unterscheiden. Ich denke, der Tango ist eine Emotion, die man kaum vermitteln kann. Insofern wird es auch schwierig sein, von dem Tango zu sprechen oder zu schreiben.

Mich haben eigentlich immer die Zitate großer Tangueras und Tangueros beeindruckt, die versucht haben, das Gefühl in Worte zu fassen. Wenn mir das vertraut vorkam, dann wußte ich, wo ich meinen Tango weiter suchen sollte.

Bevor jetzt alle irritiert sind: Dieser Text ist der Versuch, einmal abseits der ausgetretenen Pfade mich erneut dem Thema Tango zu nähern. Die Unterschiede in der musikalischen Auffasung oder im Grundverständnis des persönlichen Tangos (umarmungs- vs. bewegungsfokussiert) sind derartig festzementiert, daß es kaum lohnt, da weiter zu schreiben. Gerne lese ich vehemente Kritik oder leise Zustimmung in Kommentaren. ;-)

37 Anmerkung(en):

Edith hat gesagt…

Uff...






Wieder mal schwer verdauliche Kost! Aber ich ahne instinktiv, darüber sollte ich auch einmal nachdenken.

Ich weiss mal wieder, warum ich dieses Blogg so liebe.

Anonym hat gesagt…

Ich verstehe den Text nicht und ich will mir auch nicht so viele Gedanken machen. Ich würde gerne mehr Videos von guten Tänzern hier sehen. Ist das zu viel verlangt?

Die Themenauswahl in diesem Forum finde ich zu engstirnig.

Mikamou hat gesagt…

@Anonym: Das ist kein Forum hier, das ist Cassiels zu Hause und er darf hier sagen, welche Themen ihm am Herz liegen. Niemand muss ihn hier besuchen!

@Cassiel: Ich finde es gut, dass du (wieder) betonst, dass es dir hier um deinen Tango geht.

Anonym hat gesagt…

Aber ich finde, dass Cassiel auch eine Verpflichtung gegenüber seinen Lesern hat. Sein Tango interessiert mich nicht.

Aurora hat gesagt…

auch ich finde es gut, dass Cassiel hier betont dass es ihm um seinen Tango geht. Und entsprechend seiner Intention seine Beiträge schreibt. So ein Blog ist doch nur eine öffentlich zugängliche private Meinungsäußerung mit Möglichkeit zur Diskussion.

Im Stillen spreche ich manch einem schon seine Berechtigung ab, manches noch als Tango zu verkaufen bzw. frage ich mich, weshalb der oder die eigentlich zum Tango geht. Solange es mich persönlich nicht berührt, kann ich dies auch für mich behalten.

Insgesamt bin ich mit den Jahren engstirniger vielleicht, vielleicht auch nur selbstbewusster, geworden, und erlaube es mir für mich und meine Betrachtungen an der Tanzfläche meine eigenen Vorstellungen vom Wesen des Tangos zugrunde zu legen.

Anonym hat gesagt…

So liberal, wie sich der Autor hier gibt, ist er doch nicht. Da liest man immer seine Meinung mit. In einer anderen Diskussion hier schrieb jemand "Anfängergesülze". Warum darf es hier nicht um den richtigen Tango gehen?

Mikel hat gesagt…

@Anonym - Als Blogger ist Cassiel natürlich niemandem verpflichtet. Wenn Dich seine Reflexionen nicht ineressieren bist Du hier einfach am falschen Ort. Tangofilme für wirklich jeden Geschmack gibt es reichlich bei youtube. Von dem Gast eines Blogs, der wie hier eine sehr persönliche Angelegenheit ist, sollte durchaus ein wenig Höflichkeit erwartet werden dürfen. Dazu gehört wohl zumindest, seinen anonymen Einstand nicht gleich mit ruppig und brüskierend proklamiertem Desinteresse an den vorhandenen Inhalten und Forderungen nach Wunschinhalten zu machen. Dieser Blog wird ganz sicher nie zum Wunschkonzert für unhöfliche Banausen verkommen. Und das das trägt sicher dazu bei, die Tangoplauderei zum angeregendsten Ort im deutschsprachigen Netz zu machen, was das Nachdenken über Tango betrifft.

B. G. hat gesagt…

"Toleranz hilft nur den Rücksichtslosen."

Manchmal bin ich in der Versuchung, diesen Satz zu unterschreiben. Cassiel, wie schaffst du es eigentlich, so ruhig zu bleiben?

Zu dem zunehmenden Flegeleien der letzten Tage in den Kommentaren möchte ich anmerken, dass es bislang noch niemand geschafft hat, dauerhaft im deutschen Tango eine Nische wie diese anzubieten. Andererseits erfährt dieses Blog eine stetige Erweiterung seiner Leserschaft, da muss man wohl verbale Auswüchse in Kauf nehmen.

Für mich ist Cassiel ein ganz Großer im Tango und dieses Blog finde ich notwendig und wichtig. Vielleicht würde manchen Hitzköpfen ein wenig Demut gut bekommen. Da muss man nicht lange suchen, schaut euch das einfach von Cassiel ab.

Anonym hat gesagt…

"Aber ich finde, dass Cassiel auch eine Verpflichtung gegenüber seinen Lesern hat. "
Das ist ja interessant. Warum hat er das? Wer sind seine Leser? Ein Blog ist eine Art Zeitung. Wenn sie mir nicht gefällt, lese sich sie nicht mehr. Wenn sie mir am Herzen liegt, äußere ich meine Meinung, in der Hoffnung dass der Autor diese Meinung schätzt und ernst nimmt. Dafür braucht es eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen Autor und Leser. Die ist nicht bei allen Lesern gegeben, kann auch nicht. Ein Blog hat auch keinen Monopolcharakter, woraus eine Verpflichtung zur Ausgewogenheit herleitbar wäre. Es darf jeder einen neuen Blog aufsetzen und versuchen andere Meinungen zu etablieren. Aber von einem Blogger zu erwarten, dass er die Themen behandelt, die mich zufällig interessieren, oder seine Ansichten den Meinen anpasst, ist wirklich sehr abwegig.

Austin hat gesagt…

Besagter Anonym wird vielleicht beim tieferen Endringen in diesen Blog feststellen, dass der Tango hier schon von allerlei Seiten beleuchtet wurde und dass auch seine dabei ist.

Abgesehen davon ist Cassiels Fragestellung schon eine interessante und erinnert an die Diskussion zu "Der Tango und die Bedürftigkeit", die es hier mal vor einiger Zeit gab.

Gehen wir mal davon aus, dass jeder Milonga-Besucher zur Milonga geht, weil er dort ein Bedürfnis befriedigen kann oder das zumindest hofft. Manche sind sich über ihr Bedürfnis im Klaren, andere vielleicht nicht. So geht der eine vielleicht hin, weil er zeigen will, was er kann. Für ihn ist die Milonga eine Bühne. Ein anderer geht hin, weil er Frauen kennenlernen will. Für ihn ist die Milonga Jagdrevier. Viele gehen hin, weil sie dort Freunde treffen (--> Treffpunkt). Die meisten, weil sie gerne tanzen wollen (--> Hobby ausüben, einer Leidenschaft nachgehen). Und so weiter. Wahrscheinlich auch immer eine Mischung. Spannend finde ich nun die Vorstellung, dass die meisten auf der Milonga finden, was sie suchen, obwohl sie vielleicht ziemlich verschiedene Dinge suchen. Und womöglich bekommt man, was man sucht, von jemandem, der mit einer ganz anderen Motivation unterwegs ist.

Das fällt mir zur "Relativität des Tango" ein.

sophia hat gesagt…

Ich habe hier lange nicht mehr kommentiert, manche Diskussionen sind mir einfach zu schnell. Da komme ich nicht mit.

Ich bin aber ein treuer Fan seit langer Zeit. Auch ich finde das Verhalten mancher "Gäste" häßlich.

Mich beschäftigt eine ganz andere Frage: Geht eigentlich zwangsläufig bei jedem irgendwann die ungezwungene Freude verloren? Mir ging es so vor Jahren und ich lese hier im Blog, dass es Cassiel ähnlich ergeht. Manchmal habe ich das Gefühl, ich muss mich mit meinem Verständnis vom Tango verstecken.

Unknown hat gesagt…

Es gab eine Zeit, da war der Blogger-Welt noch im Ordnung: In den persönlichen Blogs teilte man den ganzen Welt den eigene seelische Zustand mit und in den Themenblogs besprach man Fachthemen und äußerte man der eigene Meinung unabhängig davon, ob man kompetent war oder nicht. Nachdem neue Kanäle - Social Networks, Realtime Web – die guten alten Blogs fast verdrängt haben, sind Blogs wie dieser hier fast eine Rarität.

Vor etwa zweieinhalb Jahren begann Cassiel das Bloggen auf „Eine Plauderei über Tango Argentino“ als rein persönlicher Blog – er hat über seine persönliche Erfahrungen mit dem Tango berichtet. Mit der Rubrik „Für die neue Woche…“ wurden die allgemeine Themengebiete TJind und Tango-Musik eingeführt. Weiteren Themengebiete kamen mit den Interviews mit Tomas Herzog , Christian Tobler, Melina Sedo. Die Rubrik „Tacheles mit Tangueros/Tangueras“ verließ endgültig der Pfad der persönlichen Erfahrungen.

Ja, Cassiel, die Entwicklung von persönlichen zu Themen-Blog hast Du in diese 30 Monate sehr elegant und unauffällig vollzogen. Die Mischung zw. der ganz persönlichen Einleitung deinerseits und die unaufgeregte, wertschätzende Fachdiskussion in den Kommentaren ist einmalig und bereichert deinen Blog. Leider gehört die Bereitschaft nachzudenken und ein wenig Intelligenz um deine, aber auch die Gedanken von den Kommentatoren zu verstehen. Es ist nicht jeder bereit Musik auf sich wirken zu lassen und über einen Tanz nachzudenken. Für solche Leute sind die o.g. „neue Kanäle“ leichter verdaulicher, schließlich kann man Videos einfacher als Text konsumieren.

Lass uns weiter über Gefühle nachdenken, mit der Überzeugung, dass wir sie wahrscheinlich nie verstehen werden.

Edith hat gesagt…

Hallo Sweti, ich weiss nicht, ob man die Unterscheidung zwischen Themen- und persönlichen Bloggs machen sollte. Für mich ist dieser Blogg unerreicht und das hat wohl sehr viel mit Cassiels Persönlichkeit zu tun. Was für ein Mensch ist er? Welche Energie bringt er auf? Was treibt ihn an? Was denkt er sich auf so mancher Milonga angesichts des Elends? Das sind Fragen, auf die ich hier eine Antwort suche.

Ich bin nicht besonders bewandert was Bloggs anbetrifft (ich lese nur die Tangoplauderei). Aber für mich ist es großartig zu merken: Ich bin mit meinen Fragen nicht allein.

Hallo Sophia, wahrscheinlich macht jeder im Tango diese Entwicklung durch. Weg vom reinen Gefühl - hin zum Nachdenken, was man da eigentlich tut. Ich denke das ist die natürliche Entwicklung jeder Beziehung oder besser Liebesbeziehung. Das überwältigende Gefühl des Anfangs gerät irgendwann in ruhigeres Fahrwasser. Da kommt dann ein wenig Kopf dazu. Aber das liegt in der natürlichen Entwicklung. Peinlich wird es, wenn sich erwachsene Menschen weigern, ihr tun zu reflektieren.

Austin hat gesagt…

Liebe Freunde der Tangoplauderei,

Eure Gedanken zum Blog im allgemeinen und zu diesem im besonderen in allen Ehren, aber findet Ihr nicht, dass dieser recht anspruchsvolle Beitrag von Cassiel auch ein paar Reaktionen in der Sache verdient hat?

la bruja hat gesagt…

@anonym: was ist denn dr richtige tango überhaupt?
wer bestimmt, was der richtige und was der falsche ist?
cassiell ist niemandem verpflichtet, nie-man-dem!
er ist nicht der tango-aufklärer der nation und der mit filmen-beglücker der richtigen tangueros. er ist einer, der seinen gedanken freien lauf und uns daran teilhaben lässt. ohne krawall, ziemlich leise. das ist angenehm. wenn er so tanzt wie er schreibt, ist das gewiss der "richtige tango".

Mittelalt hat gesagt…

@austin
gute Idee, was ist denn deine Reaktion in der Sache?

Meine ist:
Aha

Mhm.

Die Liebste liest einen Text, der sie berührt.
Ja, .... schön.

Ich könnte ja dann doch noch über diesen einen Satz stolpern:
"... Ich denke, der Tango ist eine Emotion, die man kaum vermitteln kann. ..."
Eine Emotion denken .... mmmmmhm
Ich ganz persönlich bevorzuge eine Emotion zu fühlen und dazugehörige Gedanken zu denken. Eine Emotion denken, für mich nicht vorstellbar. Aber vielleicht habe ich einfach keine Ahnung.
Eine Emotion vermitteln? Gibt es jemanden, der das behauptet, dass er das kann?
Was man tun kann, ist, jemanden an einen Punkt zu führen, dass er Zugang zu seinen Emotionen finden kann. Das ist für beide eine wunderbare Erfahrung.
Du kannst jemanden an die Tür bringen, doch sehen öffnen und durchgehen muss er(sie) schon selbst.
Grüße

chamuyo hat gesagt…

@Austin: Der Einwand hat schon seine Berechtigung... Also zur Sache:
Es ist schwer dazu etwas zu schreiben, wenn man der gleichen Meinung ist. Aber danach hat er auch u.a. gefragt.
Ja, es ist einfach so. Es ist eine Emotion, die individuell ist. Was den einen anspricht, lässt den anderen kalt.
Bin ich verrückt, wenn ich anders empfinde als der Nachbar? Die Frage ist angebracht, wenn es um triviale Dinge ginge, aber nicht unbedingt, wenn der Gegenstand der Betrachtung so vielschichtig ist.
Der Einwurf von Broder meint: Darf ich abweichende Ansichten akzeptieren, obwohl ich von meiner Ansicht überzeugt bin? Kann es zwei konkurrierende Wahrheiten geben? Da kommt es auf den Gegenstand an. Die Dinge die über Broder normal spricht sind gesellschaftlicher und moralischer Natur, aber davon reden wir hier nicht. Unser Thema ist harmloser, es geht um eine bestimmte Musikrichtung, die viele Menschen als Tango bezeichnen ohne es näher definieren zu können, und um den damit zusammenhängenden Tanz. Grob kann man das im Bereich der Kunst und Kultur einordnen. Leider ist es auch dort an der Tagesordnung dass es erbitterte Fehden zwischen den Anhängern verschiedener Richtungen gibt, die soweit gehen, dass dem "Gegner" jeglicher Sachverstand und Geschmack abgesprochen wird.
Was ich damit sagen will ist, dass es eine Einigung über den richtigen Tango nicht geben kann, einfach aufgrund der Natur der Sache. Es kann nur die individuelle Definition geben, das, was mich persönlich anspricht. Darüber kann man sich mit anderen austauschen, man kann seine Auffassung ändern oder erweitern. Man kann scheinbar objektive Argumente ins Spiel bringen, wie musikalische Qualität, aber letztendlich nimmt jeder individuell wahr. Wenn mann das Gespräch nur mit dem Ziel führt, einen anderen von der einzigen richtigen Auffassung zu überzeugen, ist es Zeitverschwendung.

@Mittelalt: ja, jeder muss selber durch die Tür gehen. Manche nehmen aber auch eine andere Tür und andere gehen wieder raus, weil es ihnen hinter der Tür nicht gefällt. Andere finden die Tür zum raus gehen nicht mehr und mosern wie scheußlich es drinnen ist und wie doof die Leute im Raum sind. Und überhaupt müsste der ganze Raum mal neu gestrichen und gelüftet werden. Damit er endlich so aussieht wie alle anderen Räume.

Anonym hat gesagt…

Angesichts all dessen zitiere ich Edith: Uffff.
Da schließt sich der Kreis.
Vielleiht nicht intellektuell, aber emotional.

Chris hat gesagt…

das Elend auf den Milongas, sehr treffende Formulierung. Auch ich neige dazu, vielen Tänzer/innen schlichtweg abzusprechen, Tango zu tanzen. Dann schelte ich mich sofort als arrogant, engstirnig und intolerant. Wie komme ich dazu, wie kann ich mir das anmaßen? Aber bereits meinen Augen tut weh, was ich oft sehen muß, und mein Körper sagt, das kann sich nicht gut anfühlen. Keine Verbindung zwischen den Paaren, keine Logik in der Bewegung, und was hat dieser Krach aus den Lautsprechern eigentlich für einen Sinn? Der Mann übt Gewalt aus, um eine Figur durchzusetzen, die Frau tut sich Gewalt an, um eine Figur zu vollführen. Und beide sind offensichtlich taub. Was, wenn jetzt einer hereinkommt, der neugierig auf den Tango ist, und das sieht?

Sofort sind wir bei der Frage, was ist Tango? Die ist, wie wir trotz aller intelektuellen Versuche ahnen, nur individuell und hochemotional zu beantworten.
Nicht nur das Gegenteil, sondern eine ganz andere ist die Frage, was ist kein Tango (noch nicht/nicht mehr)? Muß diese Frage gestellt werden? Oder sollten wir nicht besser alle umarmen, die Tangokurse und Milongas besuchen oder veranstalten? Macht es einen Sinn, sich abzugrenzen, Grenzen zu setzen, ist es vielleicht sogar erforderlich?

Mit diesen Fragen ringe ich selbst seit Jahren, und schwanke. Wer könnte überhaupt solche Fragen beantworten? Eine Gremium, eine Kommission, die Argentinier, wir alle, niemand? Der Tango, die Tangogemeinde regelt sich selbst, was ich am Tango immer liebte, eine natürlich anarchistische Evolution, stete Bewegung, grausam manchmal, aber nie ungerecht.
Brauchen wir da überhaupt Antworten? Ich denke ja. Kein Tango ist, wenn Gewalt im Spiel ist. Kein Tango ist, wenn Menschen sich an der Musik vorbeibewegen (dann gar kein Tanz),kein Tango ist, wenn die Sinnlichkeit fehlt. Jede Identität braucht Abgrenzung, und Entwicklung braucht Ziele. Wenn auch Bodenturnen, Couchsurfing und Kickboxen irgendwie Tango ist, dann weiß zumindest ich, daß ich dann keinen Tango tanze.

P.S. Manchmal finde ich es auch wenig verkopft hier, bin aber trotzdem richtig gerne dabei ;-)

cassiel hat gesagt…

Allen Beitragenden herzlichen Dank!

@Chris
Die Frage ist berechtigt: Wer könnte entscheiden, was der Tango ist? Deine Zeilen habe ich gerne gelesen.

Viele Grüße...

Di Sarli hat gesagt…

Teil 1

Wie genau hat denn d e r Tango auszusehen?

Meiner Ansicht nach hat Chris hierzu genau die richtigen Fragen gestellt, z.B. „was ist kein Tango (mehr)?“ und ich finde in der Tat, dass diese Frage gestellt werden muss! Irgendwann vor einiger Zeit habe ich in diesem Blog bereits einmal geschrieben, dass es für mich in diesem Zusammenhang auch um Respekt geht – Respekt gegenüber dem Weltkulturerbe Tango!

Mir ist bekannt, dass in diesem Zusammenhang keine ganz bestimmte Art des Tango tanzens zur Aufnahme in die Liste des Weltkulturerbes definiert wurde. Dennoch: Cassiel hat von der `Verkopfung`seines Tangos gesprochen. Ich finde das mehr als legitim, wenn er damit die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Tango meint. An seinem Blog und den zahlreichen lebhaften Diskussionen sieht man auch, dass er dabei nicht allein ist;-)! Cassiel hat bereits einmal etwas zum Thema Bildung und Tango geschrieben und ich fände es schön, wenn bereits in den Tangoschulen damit begonnen würde, Interesse für die Geschichte und die Kultur des Tangos zu wecken. Irgend eine besondere Faszination muss ja vom Tango ausgehen, den wie ließe sich ansonsten die Verbreitung um die ganze Welt erklären lassen – selbst in eigentlich ganz anderen Kulturkreisen wie im asiatischen Raum?


Und zu dieser Auseinandersetzung gehört eben meiner Ansicht nach auch die Musik. Natürlich hat der sog. „Tango Nuevo“ bzw. der „E-Tango“ erfreulicherweise auch jüngere Tänzer zum Tango gebracht. Allerdings bin ich voll bei Chris, wenn sie sagt, dass sie weiß, wann es eben kein Tango mehr ist! Hier möchte ich ein Beispiel namentlich nennen: vielleicht kennen manche der Leserinnen und Leser Pablo und Dana, die die Tanzschule DNI betreiben . Deren Entwicklung finde ich interessant: vor einigen Jahren haben sie mit ihren Showauftritten auch Diskussionen losgetreten: ist das, was die beiden da – in unbestritten beeindruckender Manier – zeigen, noch Tango?

Kurz zur Erläuterung zur Art des damaligen Tanzens: noch extremer als beim Bühnentango hatte Dana die Füße fast mehr über dem Kopf als am Boden!
Inzwischen haben die beiden meiner Meinung nach zwar bezüglich ihrer Art, die Musik zu interpretieren, immer noch ihren eigenen Stil, über den man bestimmt auch diskutieren kann, aber die Beine von Dana sind inzwischen wieder deutlich mehr Richtung Boden hin orientiert.

Di Sarli hat gesagt…

Teil 2:

Auch im Hinblick auf die Musik, die in den Milongas von Buenos Aires aufgelegt wird, scheint sich doch recht deutlich der Trend hin zur traditionellen Musik abzuzeichnen. Also scheint sich trotz aller „Modeerscheinungen“ und bestimmt auch interessanten Innovationen, eine bestimmte Art des Tango tanzens über die Jahre hinweg zu konservieren ohne deshalb „altmodisch“ zu werden.

Trotz der auch m.E. notwendigen Toleranz bezüglich der unterschiedlichen Arten Tango zu tanzen, teile ich wiederum die Auffassung von Chris, dass es erforderlich ist Grenzen zu setzen.

Zur Frage, wer denn nun entscheiden soll, wie genau denn d e r Tango auszusehen habe, biete ich (ein Stück weit wieder an Chris angelehnt) folgende Antwort an: das „natürliche ästhetische Auge“ eines neutralen (noch), nicht tanzenden Zuschauers! Wenn man so eine Person fragen würde, welches Paar ihr/ihm am besten gefalle, bin ich ziemlich überzeugt, dass es nicht unbedingt die „gewalttätigen“, „figurenabturnenden“, „abseits“ der Musik oder ohne Verbindung tanzende Paare wären...

Daher meine ich, lieber Cassiel und alle anderen, die versuchen, diesen Weg des Tangos zu beschreiten, sollten wir uns durch keine Aufgeregtheiten oder selbst ernannten „Spezialisten“ beeindrucken lassen, sondern versuchen, eben diesen Weg in aller Ruhe, Gelassenheit und viel Geduld weiterzugehen. Und wenn ich mich nicht ganz täusche, gehörte auch Bescheidenheit zu den Tugenden...

cassiel hat gesagt…

@Di Sarli

Vielen Dank für Deinen Beitrag. Ich habe ihn gerne gelesen. Zum Thema Bescheidenheit fällt mir spontan ein, daß ich vor Ewigkeiten hier einmal aus einem Interview mit Clint Eastwood zitiert habe. Da ging es um Demut. Natürlich sind Bescheidenheit und Demut sperrige, vielleicht verstaubte Begriffe. Ich denke aber, manchmal kann es lohnend sein, über sie nachzudenken. Das hat m.E. nicht mit Unterwürfigkeit zu tun... viel mehr mit einer gewissen Wertschätzung dem Tango gegenüber.

nebelkrähe hat gesagt…

@di Sarli
Wie hat DER Tango auszusehen? Gute Frage.
Deine Meinung, dass "das natürliche ästhetische Auge eines neutralen (noch), nicht tanzenden Zuschauers" usw. kann ich so nicht gelten lassen, stelle ich doch fest, dass in den Milongas, die ich besuche, fast immer faszinierte Blicke von den noch nicht (oder noch nicht lange) tanzenden Paaren an den Tanzpaaren hängen bleiben, die mehr oder weniger Gymnastikübungen zu oder neben der Musik absolvieren.

Ich muss gestehen, es ging mir am Anfang meiner "Tangokarriere" genau so. Ich konnte nicht beurteilen, ob jemand wirklich gut in der Musik tanzt und fliegende Beine haben mich unglaublich beeindruckt. Nach einigen Jahren und Unterricht bei vielen verschiedenen Lehrern hat sich mein Blick jedoch verschärft. Der Tanz mit meinem Partner wurde immer leiser und inniger und bei Tanzen mit andern Partnern stören mich die Saccadas und Co. total und vor allem dann, wenn sie nicht zur Musik passen. Nicht zu reden von Tanzen allgemein neben der Musik.

Der langen Rede kurzer Sinn: DEN Tango gibt es wahrscheinlich nicht, jeder muss für sich entscheiden, was ihm wichtig ist. Ich erlaube mir deshalb auch ab und zu Körbe zu verteilen.
Herzlich,
Nebelkrähe

Di Sarli hat gesagt…

@cassiel
Vielen Dank für Deine Anmerkungen und ja, Du hast recht, auch Demut gehört in diese Kategorei und es könnte sogar sein, dass ich bei dem von Dir erwhnten Zitat bereits vom Respekt gegenübe dem Tango gesprochen habe.
Allerdings verwende ich den Begriff mit dem Tango eher weniger, da es bei mir einen andeen persönlichen Bereich gibt, in dem ich mich (noch) mehr verpflichtet fühle, diesen Begriff zu verwenden. Aber ich finde es absolut ehrenhaft, wenn Du hier in Deinem Blogthemenbereich uch Demut fpr angebracht hälst!

Und ich stimme völlig mit Dir überein, dass diese Empfindungen nichts mit "Unterwürfigkeit" zu tun haben!

@Nebelkrähe
Vielen Dank für Deinen Einwand! Ja, das mag es durchaus - bstimmt auch häufiger - geben, dass sich "Neulinge" davon beeindrucken lassen. Es war von mir auch lediglich eine Erfahrung, die ich in den letzten Monaten einge Male machen durfte und zwar war das an vershiedenen Orten mit verschiedenen Partnerinnen;-)! Dementsprechend versuche ich wie ihr, mich weiter von dem Motto meines Lieblingstanzlehrers "es kommt nicht darauf an, was ihr macht, sondern w i e ihr es macht!"...

Chris hat gesagt…

wie nah und wie fern man sich sein kann. Pablo und Dana sind mein Lieblingspaar, technisch unerreichte, gefühlvolle Tänzer mit revolutionären Choreographien. Sie haben auch Ballet, New Dance und Yoga betrieben,und sie haben eben auch die Grenzen des Tango ausgetestet und so manches mal wohl auch überschritten, das mag schon sein. Sie haben dabei, wie so viele andere in der Vergangenheit, den Tango vorangetrieben und verändert, nach ihnen war und ist er nicht mehr wie vorher. Es ist todtraurig, daß sie wohl nie mehr miteinander tanzen werden.
Aber ihr persönlicher Stil war leider nicht so recht milongatauglich, sondern bühnenorientiert. Ist das ein Ausschlußkriterium?

Es ist auch völlig richtig, was Nebelkrähe sagt. Nichttänzer und Anfänger verfallen sofort den vielen faszinierenden Figuren, wie sollten sie auch nicht. Es ist eine Phase des Tangolebens eines jeden, ich kenne es von mir auch nicht anders.
Schon die vielen verschiedenen Phasen eines Tangolebens machen es fast unmöglich, den einen Tango zu definieren. Selbst für ein und denselben Tänzer hat der Tango im Laufe der Jahre ganz unterschiedliche Bedeutungen und Eigenschaften.

Toleranz sollte sich da eigentlich von selbst einstellen. Doch das Gegenteil ist bei mir der Fall. Jeder Schritt voran zeigt mir, wie weit ich bisher vom Tango entfernt war, wie es so viele andere sind. Das macht es mitunter sehr schwierig, daß Stolpern, Schieben und Schubsen als Tango zu akzeptieren.

Austin hat gesagt…

Wenn uns die Beobachung dessen, was man oberflächlich bei einem Tangopaar an Bewegungen beobachten kann, nicht hilft für die Frage, was der Tango denn nun wirklich ist, vielleicht muss man mal anders herangehen. Zum Beispiel so, wie man an andere Kulturgüter auch herangeht: was will der Kulturschaffende ausdrücken?

Also bei uns: was will der Tangotänzer durch seinen Tanz ausdrücken?

Unknown hat gesagt…

@Austin

"was will der Tangotänzer durch seinen Tanz ausdrücken?" – das ist eine legitime Frage. Leider kann sie schwer beantwortet werden. Wie kann ich wissen, was ein Maler mit seinem Bild ausdrücken will. Spätestens nach dem Einzug der „nichtdarstellenden“ Malerei ist die Beantwortung diese Frage sehr schwer. Was will ein Komponist mit seiner Musik ausdrücken. Ohne spezielle musikalische Kenntnisse ist auch hier einen Antwort schwer zu finden. Die Frage „wie wirkt ein Kunstwerk auf mich“ ist dagegen relativ leicht zu beantworten. Ob die Antwort objektiv oder subjektiv ist, spielt keine Rolle. Bei der Frage "wie wirkt der Tango auf mich" kann man 3 Perspektiven betrachten – als Tanzende, als Beobachter und in der Gruppe (Milonga).

Austin hat gesagt…

@ sweti

Stimmt, das ist die bessere Frage. Dann also: wenn Du das vor Dir hast oder erlebst, was für Dich der wahre Tango ist, wie wirkt das auf Dich?

Chris hat gesagt…

ich habe mir folgende Anordnung mit zwei Videos überlegt:

Im ersten Video sieht man ein Standartpaar einen langsamen Walzer tanzen. Zuerst läuft das Video ohne Ton. Was würde ein TangotänzerIn antworten auf die Frage, was die tanzen? Dann läuft dasselbe Video mit Ton und man hört einen Vals dazu, der mit dem langsamen Walzer gelungen interpretiert wird. Was würde ein TangotänzerIn nun antworten auf die Frage, was tanzt dieses Paar?
Im zweiten Video sieht man ein Tangopaar einen Vals tanzen. Wieder läuft das Video zuerst ohne Ton, was würde ein TangotänzerIn diesmal antworten auf die Frage, was die tanzen? Zuletzt läuft das zweite Video mit Ton, diesmal ist das Popstück ‚hijo de la luna’ zu hören, auf das man wirklich wunderschön valsen kann. Was tanzt diese Paar?

Die Anordnung krankt natürlich daran, daß ich bei der schriftlichen Schilderung vorab angeben muß, auf welche Art getanzt wird. Nehmt bitte an, es würde den Betrachtern nicht gesagt, sondern sie würden es nur – sachverständig - sehen können.

Ich tippe darauf, daß die meisten TangotänzerInnen anhand der Bewegung entscheiden würden, nicht nach der gespielten Musik. Oder?

Austin hat gesagt…

@ Chris

Hat es eine spezielle Bedeutung, dass Du "Hijo de la Luna" ausgesucht hast, also im weitesten Sinne einen Popsong, oder dürfte es auch ein klassischer Vals sein wie "Flores del Alma"? Ich will nur die Anordnung verstehen.

cassiel hat gesagt…

@Chris

Ein spannendes Gedankenexperiment. Ich wage allerdings zu behaupten, daß ein Vals zu Hijo de la luna sich auch optisch von einem Vals zu einem Titel im 3/4 Takt aus der Edo unterscheiden würde (nehmen wir Paisaje von Pedro Laurenz ruhig als Beispiel).

Insofern bin ich gerade etwas ratlos. Habe ich Dich irgendwie missverstanden?

Chris hat gesagt…

hauptsache ein nicht-vals im 3/4 Takt.

Mir ging es nur um die Frage, ob Tango ein untrennbares Gesamtkonzept aus Bewegung oder Musik ist, oder doch nur, weil als solches darstellbar, in erster Linie ein Bewegungsmuster und Tangomusik ein - nicht notwendiger – Bestandteil.

Wenn dem so wäre, wann begänne dann Bewegung Tango zu werden. Nach zehn Jahren Tanzerei, nach dem Grundkurs, nach der ersten Stunde, nach dem ersten Schritt, wenn sie zu Musik paßt, wenn dein Herz rettungslos entflammt ist?

Gibt es den einzigen, richtigen, echten, schönsten Tango? Brauchen wir Leitbild oder Geschmacksdiktatur, brauchen wir Toleranz gegenüber allen Anfängern, Stümpern, Unverbesserlichen und Besserwissern, oder ist Cassiels schöne Einstellung, der Tango sei ein Bereich, in dem er sich nicht durchsetzen müsse, sondern nur „Sein“ gelassen wolle, die richtige?

Dabei ist eigentlich so einfach: Der einzig richtige, echte und schöne Tango ist, der ein Lächeln auf das Gesicht der Frau zaubert!

cassiel hat gesagt…

Zitat von Chris
[...] Dabei ist eigentlich so einfach: Der einzig richtige, echte und schöne Tango ist, der ein Lächeln auf das Gesicht der Frau zaubert!

Was aber zaubert ein Lächeln auf das Gesicht einer Frau? Die Bewegung? Die non-verbale Kommunikation im Paar? Oder ist es doch etwas ganz anderes?

Ich habe für mich in den letzten Tagen probiert, ob ein Spruch, eine Weisheit zum Tango tragfähig sein kann.

Dabei habe ich an Carlos Gavito und Jaimes Friedgen gedacht. Aber ich weiß nicht, ob das wieder sehr persönliche Sichten sind oder ob diese Weisheiten eine gewisse Allgemeingültigkeit haben können...

Cinderella hat gesagt…

Was ein Lächeln auf das Gesicht der Frau zaubert, ist für mich das Gefühl von Stimmigkeit. Ich möchte jetzt um Himmels willen hier und nirgendwo anders sein! Und ja, es ist ein untrennbares Gesamtkonzept aus Bewegung, Musik und zwei Körpern, die in dieser Bewegung und in dieser Musik vollständig zueinander finden. Das dauert manchmal einen Tanz lang, manchmal nur wenige Sekunden, ganz selten auch länger. Wenn es mir passiert, habe ich immer Angst es gleich wieder zu verlieren. Das ist für mich der einzig richtige, echte und schöne Tango. Ich hoffe, das sieht jemand ähnlich.

Unknown hat gesagt…

@Cinderella

Ja, ich stimme dir zu – es ist ein Gesamtkonzept. Und ja, die Bewegung, die Musik und die Tanzende spielen dort eine zentralle Rolle. Ich versuche, mit Deiner Erlaubnis, diese drei wesentlichen Punkten aus meiner Sicht zu erklären.

Bei dem Tanz ist das verwendete Medium die Bewegung als Interpretation der Musik. Diese Medium transportiert die Emotionen der Tanzende zu dem Partner und zu den Zuschauern. Wie Marshall McLuhan (Gestern ist der Godfather der Medientheorie 100 geworden) 1967 feststellte, ist "das Medium [ist] die Massage", oder wie der Zen-Buddis sagen würde "Es kommt nicht so sehr darauf an, was wir machen, sondern wie wir es machen." Es ist vollkommen egal ob wir figurenreich Tanzen oder nur kleine Bewegungen bevorzugen, es ist wichtig, wie wir es machen. Das ist das, was uns der Große Gavito mit "It is to make the impossible thing possible: to dance silence" sagen will – nicht die Bewegung ist wichtig, sonder die Emotionen, die durch die Bewegung entstehen, machen unsere Tanz wertvoll.

Die Musik dient als eine Art Katalysator der Emotionen. Der DJ kann mit der Musikwahl unsere Stimmung (und dadurch unsere Emotionen) aktiv beeinflussen.

Unsere Emotionen übertragen sich (durch die Bewegung) auf unseren Partner und rufen (ähnliche) Emotionen hervor. Sie übertragen sich aber auch auf den anderen Tanzenden (vorausgesetzt wir tanzen auf eine Milonga). Unser Tanz wird auch von den Zuschauern (bewusst oder unbewusst) wahrgenommen und erzeugt auch bei ihnen Emotionen.

Für mich beinhaltet das Gesamtkonzept einiges mehr als die zwei Körper, die sich in der Musik bewegen. Es sind vor allem die Emotionen (Gefühle) die bei dem Tanz entstehen und die Verbindungen zwischen den einzelnen Akteuren auf der Milonga die bewusst oder unbewusst wahrgenommen werden. Dieses Konzept stellt eine Menge Anforderungen auf. Nur wenn diese in wesentlichen erfühlt sind kann man die, in diese Diskussion erwähnten, Glücksmomente erleben und die berühmte Lächeln auf der Gesicht der Partner (aber auch der Mittanzende und der Zuschauer) zaubern.

Chris hat gesagt…

"Was aber zaubert ein Lächeln auf das Gesicht einer Frau?"

Gäbe es dafür ein Rezept, wäre die Welt eine andere. Aber die uneingeschränkte Zuwendung eines Mannes, das Versprechen für drei Minuten vollkommen geborgen zu sein und die Aussicht, ohne Mißverständnisse kommunizieren zu können, sind schon mal ein guter Anfang.