Freitag, 19. Oktober 2012

Einige grundlegende Gedanken zum Tango-DJing

Mit diesem Beitrag eröffne ich eine neue Rubrik: Das Tango-DJing. Nach längeren Überlegungen möchte ich in meinem Blog meine Gedanken dazu vorstellen. In diesem einführenden Artikel wird es nicht sehr technisch; es geht mir viel mehr um die Aufgaben und das Selbstverständnis der DJane bzw. des DJs.

Mir fiel bei meinen Überlegungen zum Tango-DJing ein vergleichendes Bild ein und hier soll nun die Aufgabe und das Selbstverständnis der wichtigsten Person einer Milonga an diesem Bild erörtert werden. Was macht eigentlich eine DJane bzw. ein DJ beim Tango? Ich vergleiche diese Position häufig mit dem Kurator (oder Ausstellungsmacher) einer künstlerischen Photo-Ausstellung in einem Museum. Er hat vielleicht Negative seiner Exponate und muss nun entscheiden, wie er die Kunstwerke anordnet bzw. auch museal aufbereitet um sie einem größeren Publikum zu präsentieren. Er wird zunächst die Bilder aussuchen und vielleicht anschließend für die Präsentation gruppieren. Er wird die Größe der Exponate festlegen und die Form der Präsentation wählen (Rahmen- und Glasart, u.U. die Beleuchtung usw.). Schließlich wird er in der fertigen Ausstellung kaum mehr wahrgenommen (abgesehen von einer Namensnennung in einer "augenfreundlichen" 4-Punkt-Schrift im Klappentext des Ausstellungskatalogs). Von seiner Arbeit hängt allerdings zu einem wesentlichen Teil der Erfolg bzw. Misserfolg der Ausstellung ab. Eine gedankenlose Auswahl der Bilder, eine lieblose Anordnung an der Wand, eine falsche bzw. ungeeignete Präsentation ... all dies sind Einflüsse, die eine Ausstellung scheitern lassen können oder aber den Besucherinnen und Besuchern einen einzigartigen Zugang zum Werk des Urhebers ermöglichen.

Ich habe vor Jahren einmal die Möglichkeit gehabt, mit einem Photographen ein Buch zu gestalten (er war zu der Zeit noch komplett analog unterwegs und musste dieses Projekt aus Kostengründen digital photographieren - ich hatte lediglich die Aufgabe, den digitalen Prozess zu begleiten). Das war sehr spannend. Es ging zunächst einmal um die Sichtung von ca. 6000 Bildern und die Endauswahl von ca. 50 Bildern. Der Photograph und ich haben uns relativ schnell sehr gut verstanden und die Auswahl erfolgte weitgehend einstimmig. Es wurde zu meinem Erstaunen sehr schnell klar, welche 50 Bilder das gesamte Thema erzählen konnten. Anschließend erfolgte die Bearbeitung der Bilddaten. Diese Bilddaten werden zunächst natürlich so ursprünglich wie möglich archiviert. In der digitalen Photographie heißen sie RAW-Dateien. In ihnen sind die Daten, die der Sensor in der Kamera produziert, digital codiert. Da werden keine Kompressionsalgorithmen angewendet (JPG oder ähnliche Seuchen). In einem weiteren Arbeitsschritt werden diese Daten der Auswahlbilder für einen Zwischenprodukt bearbeitet. In diesem Schritt wird der Kontrast gewählt, die Feinabstimmung der Farben festgelegt und ggf. Störungen im Bild beseitigt (bei digitalen Spiegelreflexkamereas kann sich Staub auf dem Sensor ablegen, dieser macht sich manchmal im fertigen Bild in farblich homogenen Flächen äußerst unangenehm bemerkbar). Von diesem Zwischenprodukt werden dann die Bilder für die konkrete Repräsentation erstellt. Es gibt z.B. - bei gleichen Einstellungen - gravierende Unterschiede bei der Helligkeitswahrnehmung abhängig von der Bildgröße; bei schwierigem Bildmaterial neigt ein kleines Bild (für ein Buch o.ä.) dazu, deutlich dunkler zu wirken als ein großes Bild (Ausstellungsphoto). Auch einige andere Methoden der Aufbereitung sind abhängig vom Zielformat bzw. Medium der Präsentation (so gibt es Photopapiere mit unterschiedlichen Charakteristiken, die sog. Unschärfemaskierung wird auch immer in Abhängigkeit der Ausgabegröße vorgenommen usw.).

Die Analogien zum DJing sind m.E. evident. Eine Tango-DJane, ein Tango-DJ wird feinfühlig die Titel auswählen, mit der sie oder er den Tango beschreiben kann, sie oder er wird sich um bestmögliches Ausgangsmaterial für die Tätigkeit bemühen und schließlich gehört es auch zum Aufgabenbereich beim DJing, die Regräsentation in der konkreten Umgebung zu gestalten. So reagiert jeder Raum akkustisch anders (und wenn er voll Menschen ist, ändert sich noch einmal etwas). Wenn es aber gut läuft, dann wird die Person hinter den repräsentierten 3-Minuten-Kunstwerken unwichtig. Ich habe im Tango schon viel erlebt: Den DJ, der sich nach der Milonga selbstbewußt feiern ließ, den sensiblen DJ, der nach einer grandiosen Milonga fast schüchtern den Schlussapplaus entgegengenommen hat und ich habe ebenfalls (diese Spitze sei mir verziehen) sog. DJ-Battles bzw. Challenges erlebt. Das mag ja im Einzelfall eine spannende Herausforderung sein, mir persönlich ist aber eine einzelne DJane, ein einzelner DJ, die bzw. der eine Milonga einfühlsam musikalisch gestaltet, deutlich lieber. Ich bilde mir ein wahrgenommen zu haben, daß solche Milongas in der Musikauswahl deutlich stringenter waren.

Natürlich hat jede vergleichende Betrachtung auch Grenzen. Der Kurator einer Ausstellung hat nach Beendigung seiner Arbeit kaum eine Möglichkeit nachzubessern. Eine Tango-DJane, ein Tango-DJ kann während der Milonga Änderungen an seiner Playlist vornehmen. Trotz dieser Unterschiede halte ich aber den Vergleich für wichtig.

Vielleicht füge ich noch einen abschließenden Gedanken hinzu. Ähnlich wie der Kunsthistoriker im Museum, verrichtet auch die DJane, der DJ im Tango eine anspruchsvolle Arbeit, die ihren Wert hat und entlohnt werden sollte. Deswegen appelliere ich an Veranstalter, Tango-DJanes und Tango-DJs ordentlich (im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten) zu bezahlen. Und an die DJans und DJs ergeht der Aufruf, (wenn irgendwie möglich) nicht mehr ohne Entlohnung aufzulegen - soweit dies bislang nicht entlohnt wurde. So viel sollte uns allen die Musik Wert sein.

Diese Einführung habe ich bewußt sehr allgemein gehalten. Mir war es zunächst wichtig, nicht zu tief in technische Details zu gehen. Das wird es dann in weiteren Artikeln der Serie geben. Irgendwann...


Im Moment fehlt mir die Zeit und/oder die Inspiration regelmäßiger zu schreiben. Allen Leserinnen und Lesern, die das regelmäßige Vobeischauen im Blog nervt, sei das komfortable eMail-Abonnement (ganz unten links auf der Seite) empfohlen.

47 Anmerkung(en):

Anonym hat gesagt…

Ich finde deine Sichtweisen und Beschreibungen sehr inspirierend. So hatte ich es bislang noch gar nicht gesehen. Ich verstehe aber nicht was du gegen mehrere DJs auf einer Milonga hast. Kannst du dazu noch mer schreiben?

th.

cassiel hat gesagt…

Gerne schreibe ich etwas ausführlicher dazu.

Das Thema ist allerdings umstritten und ich muss meine Meinung deutlich als subjektiv kennzeichnen. Ich bin in dieser Frage bestimmt nicht an Krawall interessiert.

Mein erstes (und gewichtigstes) Argument gegen mehrere DJs an einer Milonga hängt mit dem zusammen, was ich vor langer Zeit einmal als äußere Kohärenz von Tandas bezeichnet habe. Damit meine ich, daß ein DJ (im Optimalfall) Tandas untereinander in Beziehung setzen sollte. Legen mehrere DJs auf, dann muss sich jeder einzelne von ihnen zusätzlich (neben dem Publikum) noch auf seinen Co-DJ einstellen. Das zieht Aufmerksamkeit vom DJ für das Publikum ab und ich meine, das merkt man.

Ein zweites Argument ist die Gefahr, durch möglichst außergewöhliche Musikwahl in einem derartigen Wettbewerb brillieren zu wollen. Diese Gefahr sehe ich durchaus (man kann da aber auch anderer Meinung sein). Auch dieser mögliche Wettstreit zieht Aufmerksamkeit von den Tänzerinnen und Tänzern ab.

Abschließend möchte ich noch einmal betonen, es ist meine höchst subjektive Meinung. Man kann das auch entschieden anders sehen.

Vielleicht wird auch erst in einem Folgebeitrag (wenn ich zur äußeren Kohärenz von Tandas schreibe) deutlich, was ich meine.

Ich hoffe, ich habe Deine Frage beantwortet.

Schönes Wochenende und viele erfüllte Tandas...

Sarah hat gesagt…

Danke für den Artikel. Mir ist jetzt einiges klarer geworden. Du hast eine sehr schöne Art zu schreiben und ich warte ungeduldig auf weitere Beiträge zum djing.

Liebe Grüße

Sarah

chamuyo hat gesagt…

Zur "subjektiven" Meinung von Cassiel, die sich mit meiner deckt, und zu dem Begriff der "Tandakohärenz" würde ich noch ergänzen, oder besser präzisieren, dass so ein Abend eine Dramaturgie haben sollte. Es gibt durchaus "Challenges" die besser gelingen, als die Arbeit eines Einzelnen, dies spricht nicht gerade für denjenigen. Generell haben diese Wechsel einen strukturellen Nachteil, genauso wie geteilte Abende (jeder 2 oder 3 Stunden). Es ist einfach schwerer 2 oder gar 3 Konzepte zu koordinieren als eins, somit per se ineffizient. Manche (leider viele) haben gar kein Konzept, für sie trifft der Nachteil natürlich nicht. Das ist eher so etwas wie "Tanda shuffle". in sich zusammenhängende Tandas, das auch schon mal nicht schlecht ist, aber wahllos hintereinander gehängt. So kann man mit hervorragenden Zutaten einen miserablen Kuchen backen.

PacoDaCapo hat gesagt…

Mir fällt bei der Analogie zu Ausstellungskuratoren ein Gedanke ein, der in diesem Thema off topic ist, aber ich wende mich etwas dagegen, die DJs oder Djanes allzu sehr hochzujubeln. In einer gerade in Bremen laufenden Tangosause werden sie als Helden bezeichnet, das verstehe ich hier etwas augenzwinkernd, Helden sind insofern auch die tapferen Mitarbeiter an der Bar, die die Cocktails mixen, oder der Ehrenamtliche an der Kasse.

Aber wer sind die Helden, die Helden der Silberscheibe? Sie wirken gelegentlich wie autistische Computernerds, die sich hinter ihrem Tresen mit dem ganzen Equipment und unter riesigen Kopfhöreren verstecken. Sie haben sich in Musik vertieft, aber sie haben sie nicht erfunden. Sie haben sie nicht gespielt. Sie haben nur die Konserven ausgewählt, und tun sie das mit Erfolg, dann haben sie einen Applaus und eine ordentliche Bezahlung natürlich verdient.

Bei recht exzessiven DJ-Summits geriet dieser Aspekt, dass wir es nicht mit den Urhebern der Musik zu tun haben, völlig außerhalb jeglicher Betrachtung. Das Lob schütteten diese Teilnehmer höchstselbst aus ganzen Kübeln über sich aus. Die meisten Komponisten oder Textautoren können keine Anerkennung mehr persönlich einheimsen, aber es gibt ja auch noch heute – für mich eine wirklich besondere Situation – handgemachte Musik von echten Musikern.

Wenn bei Tango Milonguero (bei diesen sogenannten Milonguero-Festivalitos) ganz auf handgemachte Musik verzichtet wird, obwohl man einen festlichen, geordneten und gepflegten Rahmen zum Tanzen herstellen will und es kein billiges Vergnügen ist insgesamt, habe ich den Eindruck, dass man mit der Tango-Musik etwas verächtlich umgeht. Wir haben ja heute diese inzwischen immer besser restaurierten Konserven aus einer „goldenen“ Zeit, da braucht es keinen heutigen, lebendigen Tango mehr. Da liegt man plötzlich auf der Linie des Christian Tobler (und vieler anderer), für den die Musik der EdO unerreicht ist (womit er Recht hat) und da braucht kein heutiges Orchester zu kommen (wie z. B. das Sexteto Milonguero, das andere leichtfertig als SexMüll titulieren). Leichtfertig deswegen, weil es heute und damals nicht leicht war, so etwas wie ein Bandoneon zu lernen. Beim Auflegen probiert sich jeder aus, da braucht man kein Musikstudium.

Also nimm bitte, um das Bild der Ausstellung beizubehalten, alte Meister, deren Gemälde präsentiert werden, und dann wird es zuletzt völlig klar, wo die Anerkennung zu spielen hat: Man geht in eine Ausstellung, um die Werke der alten Meister zu betrachten und kennt nicht einmal den Namen des Kurators oder der Kuratorin. Der DJ ist Mittler und stellt eine Atmosphäre her, die abgerundet und „stringent“ sein soll, aber ich würde ihn nicht zum großen Helden stilisieren, wo blieben da die „alten Meister“?

KlausPP hat gesagt…

Verdammt guter Kommentar @PacoDaCapo.

Was mir bei Christian Tobler mißfiel war (Hallo Christian, ich hoffe ich gebe Deine Meinung korrekt wieder) die Geringschätzung der Fertigkeiten heutiger Musiker.
Den Wortlaut habe ich mir leider nicht notiert, nur dass Christian der Meinung war, das die heutigen Musiker einfach nicht mehr so spielen könnten, wie die damals.

Da habe ich eine andere Meinung. Ich bin sicher, die heutigen Musiker könnten mit dem richtigen Arrangeur und einem exzellentn Orchesterleiter genau so spielen. Technisch ist das für die kein Problem.

Es gibt nur leider ein Problem, es gibt keine Nachfrage.

Es wäre heutzutage niemand bereit den ensprechenden Eintritt für solch ein Orchester zu zahlen. Die müßten ja mindestens jedes Wochenende (2-3mal) spielen und bei den heutigen Preisen würde der Eintritt dann regelmäßig zwischen 20-30 EURO liegen.

Monika hat gesagt…

@PacodaCapo: niemand streitet ab das ein Musikinstrument zu erlernen harte Arbeit und viel Fleiss erfordert. Wenn ich allerdings (aus glaubwürdiger Quelle) höre dass in einem Tango-Orchester (einem durchaus angesehenen, nebenbei) ein Violinist mal eben seit 6 Monaten sein Instrument spielt fange ich - und ich finde berechtigt - an mich zu fragen.

Dass heutige Musiker mit einem grossartigen Arrangeur und einem guten Orchesterleiter gleich gut wie damals spielen könnten - nein, können sie nicht. Varchausky hat es versucht und es ist viel Gutes dabei rausgekommen. Er hat viel Spielwissen von damals in die heutige Zeit gerettet. Aber halt nicht alles, und ganz viel nicht. Oder kennst Du einen heutigen Musiker der die Vögel zum singen bringen kann (gemeint ist dass in manchen damaligen Aufnahmen vermeintlich ein Vogel singt. - Das war kein Vogel. Das war der Violinist...)

Monika hat gesagt…

und zu den Milonguero-Festivals, bei denen sehr bewusst keine Live-Musik gespielt wird möchte ich eines anmerken: die meisten Orchester bieten eine Stunde, höchstens anderthalb, an Abwechslung. So weit so gut, kann man ja problemlos durch DJing ergänzen. Wenn das Orchester sich dann aber auf Piazolla - den ich durchaus schätze, allerdings nicht zum tanzen - bezieht, oder auf Gobbi - sehr geschätztes, aber durchaus grenzwertiges Tanzorchester - dann verstehe ich warum diese Festivals keine Orchester buchen. Hier geht es darum an meist vier Milongas durchweg und ohne Unterbrechung gute Tanzmusik erleben zu dürfen. Wobei die Meinungen was gut tanzbar ist dann durchaus noch auseinander gehen ;-)

Über diese Festivals zu urteilen ohne je an einem oder mehreren dabei gewesen zu sein finde ich schwierig.

Für mich sind das die Orte wo ich meine Tango-Batterien wieder auflade um viele unsägliche Milongas in meiner Heimatstadt oder nahebei zu überstehen...

Anonym hat gesagt…

an PacoDaCapo und allen anderen;

Der Tangoverein Schwerin hat für den 28.10 Ciudad Baigon engeladen :
Ciudad Baigón ist eines der führenden Tango-Orchester weltweit. Neben
Auftritten in den angesagtesten Milongas vom Buenos Aires ist das Orchester
die Touristen-Attraktion von San Telmo. Die zwölf Musiker junge begeistern
mit einer unverstellten Energie und Authentizität, die den Hörer in das
„Goldene Zeitalter“ des Tangos zurückversetzt: in die Jahre zwischen
1935-1955, wo solch große Besetzungen noch üblich waren. Heute gibt es so
gut wie keine Tango-Orchester mehr dieser Größe und Qualität, was die
Konzerte von Ciudad Baigón zu einem unvergesslichen Erlebnis werden läßt.

Als klassisches “grán orquesta típica” (4 Bandoneon, 3 Violinen, Viola,
Cello, Kontrabaß, Klavier und Sänger) wurde Ciudad BAIGÓN unter Hernán
Cabrera (Pianist) gegründet. In ihrer Musik-Arbeit begnügen sie sich nicht
mit perfektem Kopieren der alten Tango-Meister, sondern sie suchen die
Sprache des Tango von heute zu spiegeln – fordernder Groove, der den Kopf
umgeht, kraftvoller Rhythmus, der den Tänzer trifft, aber auch der Mut zum
ausdruckstarken Gefühl im weich-melodiösen Canto, der durch die
eindringliche Stimme von Alejo Raimondi direkt in unserer Innerstes fließt.
Das ist Tango!

Ciudad Baigón wird nicht nur die Tänzer begeistern, sondern alle, die den
“echten” Tango genießen wollen.
Bin gespannt....
Gruss Kerstin

Monika hat gesagt…

@Kerstin: wir haben Ciudad Baigon 2007 zufällig in Buenos Aires auf der Strasse erlebt und waren nicht begeistert. Eine kurze YouTube-Recherche jetzt gerade bestätigt den Eindruck: sie mögen spannenden Tango spielen. Aber keinen Tango für Tänzer. Und dies ist mein (und inzwischen doch vieler anderer auch) einziges Kriterium. Wenn ich Tango will dann will ich kompromisslos für Tänzer - und zwar Durchschnittstänzer wie mich und die meisten anderen - arrangierten und gespielten Tango. Piazolla ist KEINE Tanzmusik!

KlausPP hat gesagt…


Liebe Monika, ich bestreite nicht, dass es Orchester -die heutzutage auftreten- gibt, die wirklich an manchen Instrumenten furchtbare Katzenmusik erzeugen, weil sie einfach schlecht sind.
Oder auch wenn das Orchester gut ausgebildet ist und sauber vom Blatt spielen kann, dann wird es nicht automatisch Tango, weil Tango über den Noten drüber steht.
Die Seele, die man einem Tango einhauchen muß, die steht nicht in den Noten.

Das mit den 6 Monaten Violine und dann ein Auftritt mit einem Orchester halte ich allerdings für einen üblen Bären oder es fehlen einfach ein paar weitergehende Informationen (Cellist, der auf Violine umgestiegen ist oder die Person hatte schon in der Jugend lange unterricht uns ist wieder eingestiegen).

Ich rede vielmehr von diesem hypothetischen Fall, dass wenn es gutes Geld zu verdienen gäbe, es sich ausreichend Instrumentalisten und Sänger fänden, die so spielen würden, wie wir Tänzer es gerne hätten. Das dann immer noch mindestens die Hälfte meckern würde ist mir allerdings auch klar.

Bei allem Respekt, empfinde ich Tangos als kein Hexenwerk. Sie sind weder harmonisch, rhythmisch, noch solistisch eine Herausforderung für einen guten (an einer Hochschule ausgebildeten) Musiker. Das eigentliche Problem ist eher, dass unsere frisch ausgebildeten Violinisten oder Pianisten eine strenge klassische Ausbildung erhalten haben, die sich mit dem was man von einem Tangomusiker erwartet doch eher beißt. Besser passen da Musiker, die einen Pop- oder Jazzmusikstudiengang absolviert haben.

Aber es fehlen gute Arrangeure und Leiter von Orchestern. Es kann nicht funktionieren, wenn einer der Musiker das Stück anzählt und danach alle in Ihre Noten starren, die sie irgendwo gekauft haben und die Einsätze und Breaks mehr schlecht als recht funktionieren.

Ich habe bislang noch kein Tangoorchester gesehen, dass einen eindeutigen Leiter oder Dirigenten hat. Ich finde, daran hapert es am meisten.

Aber es gibt kein Geld, ergo unterrichten die Musiker in Jugendmusikschulen und spielen Piazzolla in kleinen Combos, in kleinen Städten, in kleinen Gemeindesälen für kleine Kulturvereine, für kleines Geld. Weil Piazzolla zwar scheisse für's tanzen ist, aber aber für Musiker dann doch eine interessante Herausforderung und die Möglichkeit vor Publikum zu spielen.

Und geben wir es doch einfach mal zu.

Wir erfahrenen Tänzer wollen doch gar keine Livemusik, weil wir unsere Lieblingsstücke EXAKT so gespielt haben wollen wie beim letzen Mal und dem Mal davor. Weil wir uns total auf die Stücke und die Orchester eingeschossen haben, weil wir sie vorwärts und rückwärts kennen, weil unser Rückenmark automatisch in der letzten Phrase die Takte bis zum Schlußschritt runterzählt.

Und viel zahlen wollen und/oder können wir auch nicht, jedenfalls nicht oft.

In den großen Städten, in denen ich tanze gehe, kostet der Eintritt schon mal 7-8 Euro, das Glas Rotwein meist 4,50 (manchmal auch 6,80). Das Mineralwasser oder Hefeweizen alkfrei auch schon 4-5 Euro. Da kommen schnell mal an einem Abend beim Ehepaar 40 Euro zzgl. Parkhaus (4-8 Euro) zusammen.
Und wenn es gute Livemusik gäbe, dann kämen da nochmal 40 Euro dazu.

Das kann auch in reichen Städten wie Zürich, Frankfurt oder Hamburg nicht funktionieren.

Klaus

PS
Ich tanze seit 10 Jahren Tango (Hobby) und spiele seit 37 Jahren Gitarre (auch Hobby), neuerdings auch Tangos oder Milongas (aber nur zur Erbauung, nicht zum tanzen).

PPS
> Monika: "Über diese Festivals zu urteilen ohne je an einem
> oder mehreren dabei gewesen zu sein finde ich schwierig."
Verstehe ich nicht, Du warst doch gerade bei einem Festival, da sind wir uns auch über den Weg gelaufen?

PacoDaCapo hat gesagt…

Ich habe ein paar Kommentare, die Kerstin aus Schwerin oder Klaus (früher Hamburg) vielleicht interessieren. Tango ist, ob getanzt oder gespielt, eine äußerst lebendige Kommunikation. Wenn ich „live“-haftigen Menschen als Musiker und möglicherweise Argentinier oder Uruguayos gegenüber bin, nehme ich dies – mit allen Abstrichen, das heisst dankbar und etwas großzügig – entgegen. dafür bezahle ich auch gern; andere machen für ihr Geld Reisen mit Opernbesuch, pilgern nach Mailand oder Bayreuth, oder besuchen Megaevents von Rock- oder Popstars.

Ciudad Baigón, OT Fernández Fierro wie andere „Straßenohrkäster“ zählen zu den jungen Wilden, se haben es schwer im Kulturbetrieb, aber sie „rocken“ auf ihre Weise ganz gut. Ein toller Sound schon „uplugged“. Gegenüber einem seidigen eingespielten Orquesta Típica von früher sehr grob, dasselbe gilt für Sexteto Milonguero. „Junge Orchester“ wie El Arranque, Misterioso Buenos Aires, das vermutlich auseinandergefallene Orchester „OT Imperial“ haben einen Anspruch, der sich an den großen Namen orientiert; Di Sarli und andere Vorbilder, aber auch Maestro Pugliese werden - nicht allein von Color Tango – gewürdigt. Die „junge Szene“ in Baires gründete einen Ort als Theater und Spielstätte, das sie nach einem mythischen Pianisten, Orlando Goñi, benannt haben.

Mir würde für Live-Musik schon eine kleine Gruppe, kammermusikalisch, reichen. In Schwerin zum Beispiel zu Gast: Das Quartett Bien Frappé aus vier sypathischen Musikerinnen, p, g, fl und bn. So eine Größe sollte bezahlbar sein wie die Anreise, der Eintritt oder das über eine Flasche Mineralwasser hinausreichende Gläschen Rotwein.

In Hamburg oder Oldenburg etwa das Cuarteto Sol Tango, die alle hervorragende Musiker sind. In Berlin La Bicicleta, auch wenn es „nur“ ein Trio ist. Im Ruhrgebiet gab es ein Trio, das über Jahre immer weniger Beschäftigung als Live-Musker fand, obwohl gerade diese Region voller Tangoadressen ist (keine Argentinier). Es ist schade, wenn Musik zur brotlosen Kunst wird. Das ist einfach eine Entwicklung, die ich bedaure, aber ich hatte ganz oben ja schon erwähnt, dass es eigentlich vom ursprünglich gedachten Thema, das Cassiel hier zur Diskussion stellen wollte, wegführt.

bird hat gesagt…

Hi @,

habe gerade Ende September in Wuppertal das Grand Orquesta Tiptica Otra aus Rotterdam gehört.
4 Bandoneons, 6 Geigen, 1 Kontrabass und 1 Flügel. Alles ohne Gesang. Es war für mich ein Erlebnis der besonderen Art. All diese jungen Musiker sind auf ihrem Instrument fertig ausgebildet, wenn sie die Ausbildung zum Tangomusiker in Rotterdam beginnen, soweit ich das verstanden habe und das hört man. Desweiteren waren dies endlich Musiker die gespielt haben, um ein Ganzes entstehen zu lassen, nicht vorrangig ihre Persönlichkeit zeigen wollten/mussten. Was sie gespielt haben weiss ich nicht mehr aber Astor Piazolla war´s meine ich nicht. Ich habe es genossen vom ersten bis zum letzten Moment. Vier sitzende Bandoneons, positioniert vor den sechs stehenden Geigen, daneben das Kontrabass und daneben der Flügel. Es war eine Wucht. Endlich sehen und hören zu dürfen, wie das klingt, wenn vier Bandoneons zusammen ein Staccato spielen, den Rhythmus angeben, gemeinsam "Luftholen" etc. Bin totaler Laie, was reale Tango-Orquester angeht aber dies war sicher das Beste, was ich bis jetzt gehört habe. Ein Klangkörper für den Tango Argentino, keine Spielwiese für Eitelkeiten, so kam es jedenfalls mir vor.
Cassiel, hoffe es ist in Ordnung nochmals soweit von deinem interessanten Thema abschweifen zu dürfen.

Wechselnde DJs auf einer Milonga, dass erfordert sicherlich eine vorherige Absprache, ein sich aufeinander beziehen oder wird das in der Regel einfach irgendwie gemacht ? Und wieso macht man das überhaupt ? Ist das eine Art vermeintliches Aufpeppen einer Milonga ?
Ich habe das bis jetzt nur einmal erlebt und das war fürchterlich. Zu Beginn des dritten DJs bin ich geflüchtet, weil nach wenig Klassik, viel und langsamer Non-Tango kam und sich dann bei DJ Nummer drei Rock-Tango anbahnte und bei mir der Eindruck entstand, hier macht jeder DJ was er will und ihm in den Kram passt aber nichts wonach man wirklich schön tanzen kann.

Anonym hat gesagt…

An PacoDaCapo,
vielen dank für die tips!
Wir hatten in Schwerin schon Orquestra tipica Imperial ( 2005 ),
Fernandez Fierro, Sexteto Milonguero, Tangetto, Stazomayor, Vale Tango, Silencio, Astillero Tango, Otros Aires, cuarteto Rotterdam.... und viele andere, auch kleine wie Duo Ranas.
Unsere Vorlieben sind unterschiedlich, aber live-musik ist etwas wofür wir durchaus bereit sind geld auszugeben. Weil auch LEBENDIGE musik den tango am leben hält.....

auch an Cassiel, und zum thema:
Viel Geld haben wir für den legendären DJ Felix Picerna ausgegeben. Seine Musik brachte er auf kassetten mit, die er mittels eines bleistifts vor- und rückspulte. Aber WAS für ein gespür für die stimmung auf der tanzfläche, und WIE er darauf reagierte, und WELCHE stimmung er selbst erzeugen konnte mit musikauswahl und kommentaren!
Konzept und tonqualität ist nicht alles.. .... meine ich.
Gruss Kerstin

cassiel hat gesagt…

Vermutlich habe ich meinen ursprünglichen Beitrag missverständlich formuliert. Mir ging es nicht primär um die die Frage Live-Musik vs. Musik aus der Konserve. Das ist noch einmal eine komplett neue Frage.

Mir ging es vorrangig um die Aufgaben und das Selbstverständnis einer DJane, eines DJs. Ich gestehe, ich bin (inzwischen) auch eher an der alten Musik interessiert. Live-Darbietungen zum Tango sind nicht (mehr) mein Ding. Ich weiß allerdings, daß Konzerte ihre eigene Dynamik, ihren eigenen Reiz haben. Im Optimalfall (wenn sich Tänzer und Musiker gegenseitig inspirieren) kann großartiges entstehen. ABER: Der Detailreichtum, die Raffinesse und das Können der Musiker der goldenen Ära war so unerreicht, daß ich inzwischen gute Reproduktionen ihrer Kunst der live gespielten Musik vorziehe. Und ich schätze sehr wohl gute Wiedergabe-Qualität auch wenn Félix Picherna mit simplen Audio-Cassetten seine Musik macht - es gab ca. 2004 ein Interview mit ihm in der Tangodanza.

In den bisherigen Anmerkungen - für die ich mich herzlich bedanke - lief zu meinem Bedauern die Diskussion in eine Richtung, die ich mit meinem ursprünglichen Beitrag nicht gewollt habe (trotzdem freue ich mich natürlich, wenn sich Menschen durch meine Texte inspiriert fühlen, ihre Empfindungen zu verschriftlichen).

Was die zeitgenössischen orquestas betrifft, so möchte ich aus einer eMail eines Lesers und Tango-DJs berichten. Er schrieb mir, daß er folgende Beobachtung gemacht hat (und ich halte seine Zeilen für symptomatisch): Bei einem Workshop für angehende Tango-DJs ging es um die Frage, warum er nur Stücke aus der Èpocha de oro auflegt. Er spielte also mehrmals Ensueños in der Version von Carlos di Sarli und erläuterte die Struktur und die Details dieses Stückes anschließend ließ er die Teilehmer zu dem Stück einfach nur gehen. Waren sie anfänglich noch unsicher, fingen sie bald an, das Stück zu unterpretieren und befreiten sich immer stärker von Grundrhythmus. Eine Verdopplung hier, eine Pause dort... Nach dieser Vorbereitung ließ er die Teilnehmer zu der zeitgenössischen Version vom Quinteto Angel ebenfalls einfach nur gehen. Alle Teilnehmer waren gefangen vom Rhythmus und liefen natürlich genau auf den Takt. Damit hatte sich also die ursprüngliche Frage, warum er nur Stücke der Edo auflegt, von selbst beantwortet.

Das ist jetzt sicherlich nur eine Einzelfallschilderung, aber ich denke, das Resultat lässt sich verallgemeinern. Genau das passiert sehr häufig mit zeitgenössischer Musik (und daran ist ja eigentlich auch nichts verkehrt). Man sollte sich nur vielleicht deutlich vor Augen führen, daß es Menschen im Tango gibt, die genau nach diesen kleinen Details in der Musik suchen.

[So... muss arbeiten - vielleicht später mehr]

Thomas hat gesagt…

Dieses Gefangensein im Rhythmus, aber auch in der aggressiven, so gar nicht liebevollen Stimmung, erlebe ich auch (allerdings immer weniger, da ich mich weigere, da mitzutun). Und leider gilt das nicht nur für moderne Auffassungen von Tango, sondern auch für gewisse abgelutschte Mailongas. Ich möchte kein blosser Hampelmann sein.

In dieses Kapitel gehört auch die Frage der Taktnotation: Tango wird mit gutem Grund in 2/4 geschrieben. Wer in 4 Zählzeiten pro Takt prodziert genau diese rhytmische Fesselung. Im Notenbild wird eben mehr transportiert als nur Mathematik.

Auch diese Zeilen beziehen sich nicht auf das DJing: ich scheue mich das Thema aktiv anzugehen; viele Milongabesuche würden (noch) unerträglicher werden.

Aber halt, da gibt es doch noch etwas: Was ich mich frage angesichts der begrenzten Auswahl an EdO-Stücken: Wieviele brauchbare und voneinander verschiedene Kombinationen (Tandas) gibt es denn so?

PacoDaCapo hat gesagt…

Live-Musik und Milonguerofestivals

Der Tango ist bei weitem nicht nur der Tanz. Das wird leider in Europa leicht vergessen. Ich habe den Eindruck, dass man sich auf solchen Festivalitos bei dieser in mehrfacher Hinsicht elitären Auswahl oder Einschränkung zu sehr in eine Nische zurückzieht, die bedenklich ist. Warum? Zunächst, man trifft sich in „Zirkeln“ oder „Grüppchen“, um das Wort „Clique“ mal anders zu umschreiben, zu Milonguero-Stil-Salontanz. Tango als Kultur wird schonmal reduziert auf Tanz; Tanz wird auf Salontango und die Musik auf Konserven aus der Zeit der, sagen wir, Hohepriester der Musik eingeschränkt, verengt. Es soll gepflegt zugehen, am besten, man bleibt unter sich. Nicht nur keine Live-Musik auf der Bühne von einer echten Band und einem echten Sänger oder einer Sängerin. Auch keine Neotänzer bitte, keine „Poser“, keine Standardtänzer, keine Gerhard Riedl-Typen, keine Hüpfer oder stolpernde Anfänger, so schafft man sich eine Art von Zauberberg-Abgeschiedenheit und fühlt sich total wohl dabei! So wie Monika. Endlich mal die Tangobatterien kultiviert wieder aufladen. Was für eine Abgehobenheit, ja Arroganz ist da spürbar, oder besser erscheint denkbar, ohne dass ich dies Monika hier unterstellen möchte. Es könnte aber bei „normalen“ Tangotänzern, mehr noch aber bei „Normalo“- Zeitgenossen, die noch keine routinierten Tänzer sind, so ankommen. Diese wären jetzt evtl. schon leicht angewidert und würden die Szene so sehen: Als vom Gegenteil dessen gekennzeichnet, was man da eigentlich erklärtermassen zelebrieren und ausleben möchte: Sozialer und achtsamer Umgang miteinander. Nämlich ein elitärer Zirkel von Eingeweihten (adeptos eben, das passt schon, ist gar nicht mal allzu stark, dieser Ausdruck), der unter sich bleiben möchte. Tendenziell un-sozial und abgehoben.

PacoDaCapo hat gesagt…

Meine „Welt“ sieht manchmal so aus: Da lese ich, dass in Paris das Cuarteto Cedrón auftritt. Dieser Tata Cedrón, der jahrzehntelang im Exil gelebt hat und jetzt längst wieder in seiner Heimat Bs As lebt. Aber er kehrt noch einmal zurück. Wie gern würde ich mich vom TGV oder mit dem Flieger nach Paris katapultieren lassen, um an einem solchen Ereigis teilnehmen zu können. Wenn es denn immer so einfach ginge…

Soll einfach nur heißen, Tango ist nicht nur Tanz. Tango ist auch Poesie, Vortrag, es sind Typen, die man damit verbindet, die sind unverwechselbar. Rubén Juárez, was war er für eine Art von Kerl, wie er zum Bandoneón sang. Andere habe ich nicht mehr erlebt, Goyeneche, Grela, Rivero… ich kann aber mit etwas Einsatz und Interesse heute noch diejenigen erleben, die morgen schon nicht mehr da sind. Ubaldo de Lío, auch weg, den sieht man nicht mehr, im Tangohimmel sicher…

Ich erinnere mich an die Zeiten, als der Tango noch so subversiv war, dass man froh darüber war, wenn man ihn irgendwo in einem kahlen Raum (Kolpinghaus) zur Musik von Ghettoblaster und Cassetten tanzen konnte. Wenige Cassetten, die wurden herumgereicht und weiter kopiert, Audio-Cassetten-Sampler kursierten, bis die Tango DJs begannen, eigene CD Sampler „unter der Hand“ zu verkaufen.

Von diesen Zeiten hat sich Monika durch die Entwicklung, dass sie den Tango heute in einer Reinform hören und erleben kann, wenn auch zu Hause im Studio vor den Monitorboxen, schon sehr entfernt. Die Ansprüche wachsen so und das erscheint mir sicher erlebenswert, auch erstrebenswert! hat aber leider auch seine Kehrseite: Man wird von einer „normalen“ Milonga nicht mehr unbedingt zufriedengestellt, weil seitens des DJ, seiner Playlist, der Technik, der Gäste, sprich der anderen Tänzer, der Raumakustik usw. usw. (siehe oben) so manches nervt!

Der DJ soll es „mir recht machen“. Ist zwar – laut Cassiel - ein Mensch mit einem überhöhtem künstlerischen und psychologischen Auftrag, aber doch eigentlich ein „salarié“: wir bezahlen für ordentliche Musik. Meine Haltung ist eher: Ich lasse mich überraschen und freue mich, dass jemand ein „bouquet de fleurs“, einen Strauß aus Musik, zusammenstellt und mir damit den Tanzabend gestaltet. da werde ich nicht gleich meckern, wenn es mal eine Tanda mißlingt – für meinen Geschmack. Ich würde mir ja die eigene Laune verderben…

Mit dieser letzten Bemerkung habe ich hoffentlich wieder die Kurve gekriegt zu dem eigentlichen „DJ“- Thema!

PacoDaCapo hat gesagt…

An Thomas nur noch eine Bemerkung: Die Orchester der Epoca de Oro haben so viel hinterlassen, dass davon unzählige Tandas in immer wieder neuen Kombinationen möglich sind. Wir haben uns schon jetzt einen Kanon an Top-Interpretationen herausgepickt, die im Ohr sind. Kann sein, dass solche Top-Aufnahmen heute niemand mehr entdecken kann. Aber viele viele Aufnahmen werden nicht gespielt, können noch entdeckt werden, können noch neu kombiniert werden usw.

Zahlen lasse ich hier weg, aber sie sind beeindruckend. Viele Tangobegeisterte vertiefen sich in die Diskografien der Orchester, und diese sind im Internet zu finden. Die großen Orchester waren nicht nur ständig auf der Bühne im Einsatz, sondern auch, so scheint es, in jeder freien Minute darüber hinaus im Studio. Manchmal muss es Weihnachten oder zu Silvester gewesen sein, wenn die Aufnahmedaten stimmen.

Monika hat gesagt…

Lieber Paco DaCapo,

zu Deinem Kommentar bezüglich der "Milonguero-Festivals...

wir sind uns sehr einig: Tango ist bei weitem mehr als nur Tanz, dazu gehört die Kultur (was immer das ist), ein Glas (oder zwei) Wein ("weia, meine Achse" höre ich manche ausrufen - ein oder zwei Glas Wein gehören zu einem schönen, sozialen Abend für mich einfach dazu), ein gutes Essen (das allerdings habe ich in Europa nur in Saarbrücken in der Ruderclub-Milonga des Tangokombinats erleben dürfen) und noch viel mehr.

Zum Beispiel eine Pistenkultur die eine solche ist. Wo sich alle an die Regeln halten (ich wiederhole sie hier nicht, zu oft werden sie propagiert - warum nur hält sich kaum jemand daran?)

Zum Beispiel das strikte Auffordern per Cabeceo - auch wenn die hier in Europa praktizierte Form bei weitem nicht so subtil ist wie in BsAs.

Zum Beispiel Musik auf die ich mich verlassen kann, in Tandas und Cortinas gegliedert. Wozu zumindest mal gehört dass eine Tanda Stücke desselben Orchesters beinhaltet, aus der gleichen Zeit. Und für mich (ja, ich weiss, andere sehen das anders (hallo Theresa, Andreas, Melina) gehört da auch dazu dass keine vokalen und instrumentalen Tangos gemischt werden in derselben Tanda. Und ebenso dass kein d'Arienzo mit Echagüe aus seinem ersten Stint (1938 - 1939) mit dem zweiten (1944 -1957) gemischt wird. - Die Stücke aus dem zweiten Stint, der so lang war, sind auch nicht alle unbedingt mischbar, nebenbei.

Zum Beispiel keine Tänzer die mehr Raum einnehmen als ihnen - im Verhältnis Tänzer insgesamt zu Raumgrösse - zusteht. Und ja, die die sich da mehr Raum nehmen sind halt oft die "Neo-Tänzer". Oh ja, es wird eng an solchen Festivals. Eng und kuschelig, und so zu tanzen - und Spass zu haben - ist wirklich nichts das einem in den meisten Tanzschulen beigebracht wird. Leider. Anfänger verirren sich kaum an solche Festivals - wie auch, woher sollten sie wissen? - aber es gibt durchaus auch einige "noch-nicht-so-gute Tänzer" die mehr oder minder regelmässig an die Festivals kommen. Und die Tänze kriegen, von guten bis sehr guten Tänzerinnen! Weil sie nämlich eine Qualität haben die viele sehr "fortgeschrittene" Tänzer nicht haben: sie "laufen" vielleicht nur - aber das zur Musik!

Ich bin mit dem elitären "G'schmäckle" das diese Festivals haben oder kriegen auch überhaupt nicht einverstanden - andererseits: es macht ungeheuer Spass mal wo zu tanzen wo die Voraussetzungen für mich stimmen. Und es ist für die Veranstalter sehr schwierig die Balance zwischen "elitär" und "du kriegst das was du gekauft hast" zu behalten. Letzteres beinhaltet bei fast allen Festivals eine gewisse Intimität, also ein Nicht-Überschreiten der 200er-Grenze (ungefähr).

Und da kommen wir zu den Live-Acts: ganz abgesehen davon dass - sorry - ich kein einziges Live-Orchester kenne die mich punkto tanzbar-spielen (ich rede nicht von ihren musikalischen oder interpretatorischen Fähigkeiten! Es geht mir nur um das Spielen für Tänzer.) überzeugt hätte: die Milonguero-Festivals haben ein enges Budget. Weil die meisten Teilnehmer von weltweit weg kommen und Fahrt-, Flug- und Unterkunftskosten einrechnen müssen können die Festivals kaum - bei einer Teilnehmerzahl von um 200 - Live-Acts finanzieren. Weil Rockefeller heissen wir ja alle leider nicht.

Christian Tobler hat gesagt…

@ PacoDaCapo,

stimmt, Tango Argentino ist nicht nur Tanz. Aber erfolgreich, Mainstream war Tango Argentino genau so lange, wie er tanzbar war. Das war übrigens beim Jazz nicht anders. So betrachtet ist es nicht so abwegig, sich ganz auf tanzbaren Tango Argentino zu konzentrieren.

Hinter dieser Einschränkung steckt in meinem Fall aber auch eine ganz persönliche Präferenz. Das will ich nicht verschweigen. Da Tango Argentino für mich Freizeitvergnügen ist, kann ich nicht unbegrenzt Zeit in diese Liebhaberei stecken. Und weil ich nicht gerne halbe Sachen mache, mache ich um alles einen weiten Bogen, was im Tango Argentino nicht tanzbar ist.

Ich kenne die Argumente die gegen Tänzer und Macher mit einer solchen Einstellung von wegen elitär und abgehoben erhoben werden. Sie sind nicht neu, fussen aber auf Vorurteilen. Für problematisch halte ich dagegen Veranstaltungen, die nicht öffentlich ausgeschrieben werden. Da besteht tatsächlich die Gefahr einer allmählichen und vor allem unbemerkten Gettoisierung.

In einem Dialog zum Thema ist der Begriff Milonguero-Stil fehl am Platz. Dieser nicht existierende Stil ist eine Erfindung der Sekten-Führerin Susanna Miller. In der realen Welt des Tango Argentino gibt es diesen Stil nicht. Die meisten Tänzer unten den Portenos schütteln zurecht irritiert den Kopf, wenn man sie auf diese tangeske Verballhornung anspricht. An diesen Festivalitos wird Tango de Salon praktiziert.

Diese Festivalitos ohne jegliche Live-Musik reduzieren Tango Argentino keineswegs auf den Tanz. Nicht mal in Bs As finde ich unter den Tänzern überall so viel Interesse und Verständnis für die Musik der EdO. Diese Festivalitos sind entstanden, weil in vielen lokalen Tango-Szenen eine Minderheit von Tänzern nicht länger bereit war, auf dem Parkett von Tänzern drangsaliert zu werden, die sich gar nicht für Tango Argentino interessieren, sondern damit ihr eigenes Ding drehen: Oktoberfest-Gaudi, Tanzsportgeräte-Maraton, Ego-Booster-Vehikel und öffentliche Ganzkörpertherapie sind nur einige der dazu passenden Stichworte.

An solchen Festivalitos sind Neulinge immer willkommen, solange sie bereit sind, sich an jenen Konsens zu halten, der dazu geführt hat, dass es solche Festivalitos gibt. Wenn es an regelmässigen Milongas lokaler Tango-Szenen nur halb so viel Qualitätsbewusstsein und Achtsamkeit im Umgang miteinander geben würde wie an diesen EdO-Festivals ohne Live-Musik, würde ich ganz sicher nie auf die Idee kommen für einigen wenige Stunden Tangotanzen so hunderte oder tausende von Kilometern zu reisen und Hotelzimmer zu buchen. Diese Festivalitos sind nicht das Resultat elitären Gehabes, sie sind aus der Not lokaler Minderheiten heraus entstanden und decken damit sehr reale Bedürfnisse ab. Warum der beispiellose Erfolg dieser Veranstaltungen in den vergangenen zweidrei Jahren in manchen Tänzer so viel Widerspurch und Angst kreiert, kann ich nicht verstehen.

herzlich - Christian

PacoDaCapo hat gesagt…

An Monika und Christian und alle anderen

Das Grundthema dieser Diskussion ist wohl wirklich kein „sinnloses Zeug“, und auch ich bin einer, der den Tango nur als Freizeitvergnügen betreibt. Du schreibst „Ghettoisierung“, ich habe von einer gewissen Abgehobenheit, einem Zauberberg-Gefühl, geschrieben. Da sehen wir die äußersten möglichen Entwicklungen also recht ähnlich.

Ich habe auch zugespitzt, denn mir stand diese Situation vor Augen: Da wird ein dem traditionellen Tango verpflichteter, erfahrener DJ und Tänzer in die Provinz eingeladen. Positiv für ihn, dass er damit ein „Zubrot“ bekommt, eine kleine Beschäftigung. Positiv auch, dass er in der Provinz eine Vorstellung davon vermitteln kann, wie eine gelungene Playlist für - zunächst akustisches – Wohlbefinden sorgen kann. Näher werden es die Anfängerpaare dort kaum hinterfragen können mangels Hör-Erfahrung. Für den DJ kann es aber durchaus eine gewisse Zumutung sein, denn die Tanzfähigkeiten entsprechen diesem Anspruch dort noch bei weitem nicht. Aber da sollte man eben nicht verächtlich reagieren, sondern mit Milde urteilen und über kuriose Situationen gnädig hinwegsehen. Auch dieser DJ wird woanders „seine Tangobatterien“ wieder aufladen. Sich wieder in der Großstadt bewegen und in erfahrenen Szenen, wo er sich ganz anderer geballter Tango-Erfahrung gegenüber sieht, sei es als Teilnehmer, Tänzer, oder als eingeladener DJ.

Eure Schilderungen zu den Klangmöglichkeiten der „Konserven“ aus den 40ern fand ich unglaublich spannend, technisch wie auch „menschlich“ war ich fasziniert, und ich empfinde es auch als sehr produktiv, dass dies darin endete, dass eine konkrete Installation am Ende dabei herauskam (Biel). Zwischenrufe wie in der tango-de-Liste mit Begriffen wie „Heuler“ zeigen, wie viel festsitzende [Vor-]Urteile in den Köpfen stecken, die möglicherweise auf nervige Übertragungstechnik, falsche Lautstärke und schlampige Restauration zurückgehen. Es gibt sicher noch vieles aufzuklären, zu diskutieren, zu vermitteln; dies am Rande durch „Fachgespräche“ wie in diesem Blog zu begleiten, ist hoffentlich für alle mit einem „Plus“ verbunden, was jeder für sich begrüßen kann. Ich kann dadurch etwas aus dem Süden mitbekommen, wohin ich es allzu selten schaffe, und die Aktivitäten der Melina-Detlev-Schule und ihrer sehe ich nicht so negativ, wie es vielleicht in dieser zugespitzen Form geklungen hat.

Vielen Dank ausdrücklich für Eure Rückmeldungen.

cassiel hat gesagt…

@PacoDaCapo

Vielleicht besuchtst Du selbst einmal ein Festivalito. Ich empfehle Dir das Viento Norte in Eckernförde im März 2013 vom Tangokombinat. Allerdings müsstest Du Dich in der nächsten Zeit registrieren.

Vielleicht wird durch einen Besuch eines solchen Festivalitos deutlich, was ich hier mit meinem Schreiben nicht vermitteln kann.

Wir sehen uns in Eckernförde (vielleicht).

PacoDaCapo hat gesagt…

Ich muss noch einmal ergänzend kommentieren, weil im letzten Kommentar etwas unvollständig war. Melina und Detlef nannte ich als Vorreiter dieses Tango de salón, damit waren eben auch alle diejenigen regionalen Szenen und Schulen gemeint, ob in D, F, NL oder GB, die einen ähnlichen Weg verfolgen. Ob sie selbst diesen Anspruch erheben, Vorreiter zu sein, weiß ich auch nicht sicher, aber ich stelle das einmal so hin.

Etwas irritiert hatte mich der Kommentar von Thomas der schrieb: „viele Milongabesuche würden (noch) unerträglicher werden“. Als Amateur im Wortsinn mute ich mir nicht zu, eine Veranstaltung zu besuchen, die in mir Widerwillen oder Brechreiz auslöst. Wenn eine Milonga unerträglich ist (warum?), ist es ja sehr masochistisch, dies noch in gesteigerter Form („noch unerträglicher“) zu erleben. Grundsätzlich ist mir Tango willkommen und erzeugt ein Wohlgefühl, beim Hören, beim Tanzen, beim Erleben, beim Dabeisein. Die Alternative ist, zu Hause zu hocken oder eine andere Aktivität…

Keine Alternative! Ich bin schon mal kritsich, schon mal genervt, ich meide auch in meiner nicht provinziellen Umgebung bestimmte Milongas, weil mich zuviel nervt! Aber meine Grundhaltung ist: Wie schön, dass es das gibt, und wie wäre das Leben ohne diese Möglichkeiten! Mir ist bewußt, dass ich zu einer Minderheit gehöre, und ich missioniere auch niemanden, weil die Menschen mit dieser „Ader“ werden schon dahin finden. Und lange dabei bleiben…

PS Eckernförde: Völlig richtig, ich habe dieses Festivalito schon anderen empfohlen und mir den Termin vorgemerkt; ich weiß es zu schätzen, dass so etwas "um die Ecke im Norden" stattfindet!

bird hat gesagt…

Hi @,

habe eine Frage, die mir beim Lesen von Monikas post kam.
Was glaubt ihr hier, wie gut sich die meisten Milongabesucher in und mit der Musik auskennen ?
Wieviele hören das eine Tanda von einem Orquester ist und welches dieses ist, dass sie Instrumental ist bzw. mit Gesang, dass es wirklich nur ein Sänger ist und nicht Verschiedene und wer ist in der Lage zu hören oder zu erkennen das alle Lieder aus ein und der selben Zeit sind oder aber zu einem "Entwicklungsblock" gehören ?

Christian Tobler hat gesagt…

@ Kerstin,

Ciudad Baigon mag alles mögliche sein, dem einen ge- und dem anderen missfallen. Aber eins ist diese Orchester nicht und wird es auch nie werden: Dieser Punk-Tango hat nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun, was die Gran Orquestas der EdO auszeichnete. Punk ist ein Kind der 70er-Jahre, ein gewollter Bruch mit der Tradition, damals kulturgeschichtlich durchaus verständlich, ja sogar eine logische Konsequenz der Entwicklung. Inzwischen aber längst Geschichte hat Punk heute live aufgeführt was schrecklich Altbackenes. Daraus die Sprache eines Tangos von heute heraus zu lesen – verzeih wenn ich wenn ich das so offen sage, das ist nicht persönlich gemeint – ist an den Haaren herbei gezogen. Ciudad Baigon spielt mit Versatzstücken von anno dazumal, mehr ist da nicht. Natürlich ist Ciudad Baigon ist eine Touristenatttraktion in San Telmo. Ich halte das allerdings nicht für ein Qualitätsmerkmal, im Gegenteil. Und ob Ciudad Baigon noch Tango oder lediglich Pungo ist, darüber liesse sich trefflich streiten.

herzlich - Christian

Christian Tobler hat gesagt…

@ Bird,

Teil 1: ich habe mir auf Youtube sorgältig angehört und angeschaut, was das Gran Orquesta Tipica otra zu bieten hat. Natürlich ist es nie dasselbe, ein Orchester als Konserve zu erleben anstatt live. Aber diesen Vorteil hat auch keine Formation der EdO.

4 Bandoneon, 6 Geigen, 1 Viola, 1 Kontrabass und ein 280er-Konzertflügel sind natürlich eine feine Sache. Gar keine Frage, damit ist ein ganz anderer Sound möglich, als mit einem Trio oder Quartet. Wenn man sich andererseits anhört, was Firpo mit einem Quartett, Canaro mit einem Quintett, Troilo 1938 und di Sarli 1939 mit Oktetten für einen Sound kreiert haben, relativiert das einiges. Masse allein bringt es offensichtlich nicht.

Egal ob einem die Spielweise von GOTO gefällt oder auch nicht. Eins bietet dieses Orchester auf den meisten Aufnahmen nicht: Tanzmusik. Diese Musiker spielen konzertanten, kammermusikartigen Tango, was ganz besonders dann ins Ohr sticht, wenn ein Sänger das Orchester begleitet.

Im ersten Moment klingt das Orchester ganz ordentlich. Wie mittelmässig das Orchester tatsächlich musiziert, wird aber offensichtlich, wenn man zB deren Interpretation der seminalen Pugliese-Komposition Negracha mit der Aufnahme des Komponisten vergleicht. Da GOTO das Arrangement von Pugliese verwendet, ist dieser Vergleich in jeder Hinsicht statthaft. Denn GOTO steuert hier keine eigene künstlerische Leistung bei, kopiert Puglieses Aufnahme lediglich, was eine Herausforderung ist, an der man zwangsläufig scheitern muss. Warum das Orchester es trotzdem wagt, ist mir ein Rätsel.

Im direkten Vergleich wird sofort deutlich, dass GOTO nicht in derselben Liga spielt. Das Timbre der Geigen ist viel zu hell für Negracha. Das Zusammenspiel im Ensemble ist nicht aus einem Guss. Die metrische Präzision lässt zu wünschen übrig. Das Verständnis für die inneren Zusammenhänge des Arrangement ist entweder nicht vorhanden oder kann von den Musikern spieltechnisch nicht umgesetzt werden. Vielleicht begeistern diese Musiker in fünf Jahren, falls sie an sich arbeiten. Aber 2012 ist das Gebotene zweitklassig. Damit will ich nicht sagen, diese Leistung sei nichts wert. Dahinter steckt bestimmt viel Arbeit. Allerdings bin ich der Ansicht, dass es für die Entwicklung jedes Musikers essentiell ist, dass ihm das Publikum eine ehrliche Einschätzung spiegelt anstatt ihn zu unrecht über den grünen Klee zu loben.

Christian Tobler hat gesagt…

Teil 2: Leider ist die Klangbalance des Orchesters bei dieses Arrangement vollkommen aus dem Lot. Kaum eine andere Komposition des Tango ist dermassen auf eine angemessene Präsenz des Kontrabassisten angewiesen wie Negaracha. Das hängt auch mit dem Thema, der Entstehung der Komposition zusammen. Bei GOTO ist der Kontrabassist kaum zu hören, er kann seine bei diesem Arrangement zentrale Rolle überhaupt nicht ausfüllen: Das Verbinden und Versöhnen der verschiedenen Klangebenen durch einen dominanten, rollenden Bass zu einem kugelrunden Ganzen welches Tänzerherzen jubilieren lässt, Aniceto Rossis Paradedisziplin.

Die meisten Bandoneonisten der EdO haben im Gegensatz zu kontemporären Musikern nie "Luft geholt", sondern abwechselnd auf Zug und auf Stoss gespielt. Das hat enorme Vorteile, weil Pause nicht dann gemacht werden muss, wenn der Balg sich nicht weiter auseinander ziehen lässt, sondern dort, wo es musikalisch passt. Bei Laurenz zB ist das besonders gut zu hören. Nicht nur dessen phänomenale Spielweise wäre ohne natlosen Übergang von Zug auf Stoss undenkbar. Nicht mal die Bandoneonisten von d'Arienzo oder Biagi, welche ausgeprägtes Staccato praktizierten, wären während der EdO je auf die Idee gekommen, lediglich auf Zug zu musizieren und damit ein zerrissenes Klangbild in Kauf nehmen zu müssen.

Zudem stellt sich die Frage, ob diese Orchesterzusammensetzung sich für eine Komposition wie Negracha eignet. Ich bezweifle es. Ein derartige Übermacht von Streichern war während der EdO atypisch, findet sich einzig im Alterswerk von di Sarli, den Aufnahmen der Jahre 1954/58. Di Sarli war in erster Linie an Melodik interessiert. Da macht eine Dominanz der Streicher Sinn. Pugiese hatte ganz andere Präferenzen. Er war rhythmisch komplexer aufgestellt und damit auf Ausgewogenheit zwischen Streichern und Bandoneonisten angewiesen. Zwei Geigen weniger, keine Viola und dafür ein sehr viel potenterer Kontrabassist, der mit dem Stilmittel des Golpe canyengue bestens vertraut ist, wären bei einer ganzen Reihe von Kompositionen angemessen, welche GOTO im Repertoire hat. Ausserdem scheint der Kontrabassist nicht mal in den Staccatopassagen das Stilmittel es Abkanten des Bogens zu praktizieren. Womöglich ist das gar kein Tangomusiker. Zudem wird der Flügel wie bei Color Tangos Negracha-Interpretation mit etwa gar viel Pedal gespielt. Auch hier zeigt die Pugliese-Interpretation, dass weniger und das dafür bestechend präzis meist mehr ist.

Ausserdem spielen bei GOTO zwei weitere typische Probleme kontemporärer Orchester hinein. Sie schaffen kaum Neues, Kontemporäres, kopieren meist lediglich die Vergangenheit. Den Anspruch kontemporärer Orchester, die Spielweise einer ganzen handvoll unterschiedlichster Orchester der EdO aufzuführen, halte ich angesichts der heute mengenmässig und qualitativ üblichen, respektive möglichen Spielpraxis für vermessen. Dieser Stolperstein ist beinahe ein Garant für Mediokres.

herzlich - Christian

Christian Tobler hat gesagt…

@ Bird,

Teil 1: wenn alle Macher die was Konstruktives zum Tango Argentino beitragen können, sich immer am unmittelbar erzielbaren Fortschritt orientiert hätten, hätte niemals irgendwo irgend eine positive Entwicklung stattgefunden. Damit sich was verändern kann, muss immer eine kleine Gruppe voraus gehen und sich nicht beirren lassen von Verzagten und Ewiggestrigen. Das ist aber nicht auf Dich gemünzt, Bird.

Als ich mit dem TJen begonnen habe und Milonga-Veranstalter auf den desolaten Zustand Ihrer meist qualitativ saumässigen PA-Technik angesprochen habe, hat man mir kopfschüttelnd den Vogel gezeigt. Fünf lange Jahre waren MP3- und Behringer-Schrott das Mass aller Dinge. Erst dann hat da oder dort ganz langsam eine zaghafte Veränderung der Wahrnehmung begonnen. Inwischen gelingt es mir immer wieder, Macher zum Nachdenken zu bringen, obwohl viele es noch nicht schaffen, über ihren eigene Schatten zu springen. Und eine Handvoll Veranstalter haben bereits Nägel mit Köpfen gemacht. Zum Glück stehe ich nicht mutterseelenallein auf weiter Flur. In Südfrankreich zB geht jemand in dieser Sache einen ganz anderen ebenso vielversprechenden Weg.

Als TJ reichen mir eine Handvoll Tänzer, welche meine Musik-Programmation nicht als Metronom ohne Monotonie verstehen. Und an so einem Festivalito ist der Anteil der Tänzer, die solche Unterschiede nicht nur goutieren sondern auch erkennen was abgeht erfreulich hoch. Zudem gibt es dazu nicht nur diesen akademisch-verkopften Ansatz. Viele Tänzer können zwar nicht benennen, woran es liegt, wenn an einer Milonga musikalisch alles ins Lot fällt. Aber sie reagieren natürlich sehr schnell sehr intensiv auf eine rundum stimmige Musik-Programmation.

Deshalb projeziere ich an Milongas so oft wie möglich, was momentan für eine Tanda spielt. Damit können rundum glückliche Tänzer jederzeit memorisieren was für Musik ihnen gefällt. Jeder Tänzer, der die Orchester und Sänger und irgendwann auch deren Epochen erkennt, hat mal klein angefangen: mit einem ganz bestimmten Lieblingsstück, dessen Melodie er sofort erkennt. Nach fünf Jahren erkennt der selbe Tänzer die wichtigsten Orchester und Sänger meist schnell und zuverlässig – falls es ihm mit dem Tango Argentino ernst ist.

Christian Tobler hat gesagt…

Teil 2: Denn eigentlich gibt es im Tango Argentino nur einen einzigen Führenden. Und das ist ganz sicher nicht der führende Tänzer. Tänzer folgen der Musik. Etwas anderes ist undenkbar. Das wird aber erst gekonnt möglich, wenn ein Tänzer diese, seine Musik aus dem Effeff kennt und liebt. Natürlich gilt das für Folgende genauso wie für die vermeintlich Führenden.

Ein TJ ist kein DJ. Ein DJ mag sich darauf beschränken, auf grosser Zampano zu machen. Ein DJ ist ein Entertainer – ein TJ nicht. Ein TJ darf allenfalls eine graue Eminenz sein. Dabei nach Popularität zu schielen wäre fatal.

Da Tango-Tänzer in Europa kaum mit dem kulturellen Erbe der Musik der EdO aufwachsen und den Repertoirekern bereits 15 Jahre jung verinnerlicht haben, hat der TJ in Europa ein sehr viel komplexere Aufgabe als am Rio de la Plata. Es reicht nicht, das Publikum zu begeistern, ihm nach dem Mund zu reden.

In Europa muss ein TJ sein Publikum Abend für Abend auch in einem angemessenen Mass herausfordern, mit Neuem konfrontieren und gelegentlich sogar ein ganz klein wenig überfordern. Das klappt aber nur, falls es dem TJ vorher gelungen ist, genügend Stimmung aufzubauen, damit der Abend so ein Intermezzo ohne Absturz überlebt. Und wenn ein TJ dabei alles richtig macht, werden die Tänzer in solchen Augenblicken tänzerisch über sich selbst hinauswachsen, eine Klasse besser tanzen, als sie es bei Licht betrachtet eigentlich vermögen.

Nur so kann das tänzerische Niveau einer lokalen Szene allmählich wachsen. Guter Unterricht allein führt nicht ans Ziel. Denn wenn an Milongas immer alles beim Alten beibt ist das totlangweilig. Zudem stagniert das tänzersische Niveau einer lokalen Szene dann nicht nur, es verschlechtert sich allmählich. Daher ist es essentiell, dass ein TJ sich niemals mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner einer lokalen Tango-Szene abfindet. Allerdings ist das das ein extrem delikater Prozess, bei dem zuviel des Guten ganz schnell das Gegenteil bewirkt. Gute TJ stricken daher mit 10, allenfalls 15 den und nicht mit 40 oder 80 den.

herzlich - Christian

Elisabeth hat gesagt…

ch möchte nur kurz meine pers. Meinung zum DJing abgeben. Aufgelegt ist manchmal schnell,was viele Milongabesucher vielleicht nicht wirklich nachvollziehen können: die Arbeit die einen guten DJ ausmacht.
Er soll tanzen können, nicht tanzbare Tangos machen die Tanzfläche leer.
Er soll Gefühl für die Musik haben, den Fluß in einer Milonga spüren.
Gute Anfangs und End-Tandas liefern
Er muss privat sehr viel Zeit aufwenden, wenn er gut sein will. (Dazu gehört ein sehr verständnisvoller Partner!)Musik suchen, Hörproben oft stundenlang (wobei dann doch unbrauchbare Stücke dabei sind).
Der PC und sämtl. techn. Zubehör darf nicht fremd sein und kostet manchmal eine Stange Geld!
Manchmal ist eine gute !!! Musikbearbeitung nötig, ohne dass sich das Stück jedoch verändert.
Die Liste könnte ich noch erweitern, will jedoch niemanden langweilen.
Auf eine Homepage stand einmal: wenn du einen guten DJ hast, hege und pflege ihn.So sehe ich das auch und einige unserer Milongabesucher fühlen das auch.
Die enorme Mühe , die Freizeit freiwillig zu opfern und mit der Zeit viel Geld zu investieren dankt das Publikum, indem sie nicht aufhören wollen zu tanzen.
Zu den heutigen Orchestern kann ich nicht Stellung nehmen, ich sehe mir viele im Netz an und kann keine Verbindung zu meinem "Tangoempfinden" herstellen.
Mir persönlich ist es zu modern, so geschah es ja auch im Pop nach den 80igern,90igern; es ist nicht zu schaffen, die Stars von damals zu ersetzten, die man heute noch gerne hört. Die heutigen Stars sind viele Sternchen (NICHT ALLE), die wie eine Sternschnuppe aufsteigen und verglühen.

bird hat gesagt…

Hallo Christian,

ersteinmal herzlichen Dank das du dir so viel Mühe gemacht hast. Ich weiss das zu schätzen und habe mich über deine ausführliche Antwort gefreut, auch weil sie mir nochmals intensiver vermittelt hat auf was alles ich bei der Musik achten kann, sollte, um genauer vergleichen zu können.
Ja, du hast Recht auch in Wuppertal war der erste Block ihrer Vorstellung konzertant. Danach folgten zwei Sets zum Tanzen und beim nochmal drüber nachdenken fand ich diese Musik schwer zum Tanzen, nehme mich aber nicht zum Maßstab der Dinge. Allen anderen hat es sehr gefallen, die Piste war voll. Ich war zugegebener Maßen auf´s "Hören" fixiert, dass hat mich begeistert, so wie ich schrieb. Und Negracha eingespielt von Pugliese und vom Orquester Otra kann ich nicht so gut vergleichen wie du, da fehlt mir eine Ecke Hörerfahrung. Ich glaube dir, was du darüber schreibst, konnte diese Erfahrung an einem schlichteren Beispiel in deinem Seminar selber machen und dort war auch für mich hörbar ein großer Unterschied zu erkennen.
Ja, es scheint leider wirklich sehr schwer zu sein ähnlich gutes, wie in der EdO Zeit, heute live zu bekommen. Und ich sehe das wie du, letztendlich entscheidet die Tanzbarkeit über den Gehalt der Musik bzw. des Orquesters.
Vielleicht sollte man ein Orquester wie dieses öfter einladen, stärker mit ihm real im Austausch stehen und konkret über die Tanzbarkeit und deren Wichtigkeit für die Tänzer diskutieren ? Auf so einem Festival ist das schwierig mit einem Feedback, da das Orquester nach seinem Auftritt wieder abreist, kein Raum für ein gemeinsames Gespräch vorhanden ist.

bird hat gesagt…

Hi Christian,

danke auch für die ausführliche Beantwortung meiner Frage.

Könntest du mir bitte folgenden Satz von dir:
- Gute TJ stricken daher mit 10, allenfalls 15 den und nicht mit 40 oder 80 den. -
nochmal erklären. Aus dem bin ich nicht schlau geworden, ich verstehe nicht was du sagen wolltest.

Christian Tobler hat gesagt…

@ PacoDaCapo,

ich bin mir dir natürlich einig darüber, dass man als TJ einer lokalen Szene IMMER ein Chance geben soll. Jedes andere Verhalten wäre arrogant und destruktiv. Ein Abend ist nur ein Abend, mehr nicht. Potential für Verbesserungen gibt es in jeder lokalen Szene. Und wer, wenn nicht der TJ sollte die einleiten, anleiten. Etwas verallgemeinert formuliert ist meine Erfahrung in solchen Situation die, dass überall dort, wo die Milonga-Veranstalter es schaffen, ein gastliches, einladendes, konstruktives Umfeld zu schaffen und die regelmässigen Besucher sich in diesem Cocon bestens aufgehoben fühlen, es für einen ortsfremden TJ meist möglich ist, die Tänzer auf seine Reise durch die EdO mitzunehmen.

Obwohl vielen Tänzern eine profunde Kenntnis der EdO immer noch abgeht, reagieren erfreulich viele Tänzer intuitiv positiv auf Qualität bei der Musik-Programmation. Daher erlebe ich als TJ eine mir fremde lokale Szene nur äusserst selten als Zumutung. Und wenn gar nichts klappt, muss ich mich als TJ natürlich fragen, inwieweit ich zum negativen Verlauf des Abends mein Scherflein beigetragen habe. Immer vorausgesetzt natürlich, die Tänzer einer lokalen Szene sind traditionelle TJs gewohnt.

Fehlt diese positive Erlebensfähigkeit subtiler Natur, wird es für jeden guten TJ schwierig. Wenn Tänzer genervt und fordernd beim TJ was musikalisch Bumsfideles einfordern und partout nicht verstehen, warum manche Musikstücke lediglich angespielt werden, ist ein Konsens kaum möglich. Dann wird ein Teil des Publikums frustriert nach Hause gehen.

Das ist nicht das Problem des TJs. Ein TJ hat nicht die Aufgabe, eine lokale Szene stubenrein zu trainieren. Es ist Aufgabe der lokalen Machern, Tänzern beizubringen, was an traditionellem TJen so toll ist, worin der minimale Kodex eines solchen Abends besteht und was das den einzelnen Tänzer an Vorteilen bringt.

herzlich - Christian

Christian Tobler hat gesagt…

@ Bird,

zum ersten Kommentar: Doch, da Du Tänzer bist, bist Du natürlich Masstab für die Beurteilung jedes Orchesters, wenn es darum geht, ob Musiker für Tänzer musizieren oder nicht. Wenn nicht Du, wer dann? Du bist in jeder Hinsicht Kernzielgruppe. Der Fachjournalist einer überregionalen Zeitung, der Klassik beackert und einmal in fünf Jahren zufällig Tango Argentino rezensiert und einzig Piazzolla vom hören sagen kennt, ist es sicher nicht.

Ich kann in einem Blog nicht wie im meinem Vortrag zur EdO aufzeigen, warum Dein Wunsch betreffend einem Dialog zwischen Tänzern und Musikern im Tango Argentino heute nicht mehr funtioniert. Und Du kennst die Hintergründe der EdO, die geschichtliche Entwicklung im TA, die Sachzwänge heutiger Absatzmärkte. All das hier nochmals auszubreiten würde den Rahmen betreffend Instrumentarium und Umfang sprengen. Unter anderem, weil dahinter ein interaktiver Prozess steht. Deine Ohren haben anhand von vier Beispielen am Vortrag gehört, was Fakt ist. Keine Ahnung, warum so viele Menschen alles für bare Münze nehmen was sie sehen, aber alles in Frage stellen was sie hören. Vertraue Deine Ohren, das sind zwei extrem potente Dinger mit einer ultrakurzen Datenautobahn zu Deinem Langzeitgedächnis.

Zum zweiten Kommentar: sorry, das ist wohl ein typischer Fall von déformation professionnelle. Ich dachte, jeder Mensch kennt die Masseinheit den, da zB Feinstrumpfwaren immer noch mittels dieser Einheit ausgezeichnet werden. den steht für die Masseinheit Denier, einem alten französischen Gewichtsmass der Seidenindustrie. Ich habe das als Analogie verwendet, weil ich davon ausgegangen bin, dass zB jede Frau ganz genau weiss was 10 den in der Praxis bedeuten: ein Seiden- oder Nylonstrumpf, der bereits beim Anschauen dazu tendiert augenblicklich eine Laufmasche zu bilden, aber ausgesprochen ästhetisch anzuschauen ist – am richtigen Bein.

Will heissen, subtil ist sowohl schön, als auch vergänglich. Und was wäre unsere Welt ohne Subtilität im Alltag – ein Schlachtfeld. Also versuche ich es andersherum zu erklären. Gute TJs arbeiten augesprochen subtil. Sie achten auf Nuancen und steuern den Spannungsbogen einer Milonga mit Fingerspitzengefühl. Aber weil das ziemlich abstakt klingt, und natürlich jeder TJ und DJ behaupten wird, dass er genau das aus dem Effeff beherrscht, brauche ich dafür eine weitere Analogie, die auch Männer zum Nicken bringt.

Stell Dir das Arbeiten mit einem Schraubendreher vor, wie ihn zB ein Uhrenmacher einsetzten. Mit so einem filigranen Ding kann nicht mal ein grosser Zampano viel Drehmoment umsetzen. Der Schraubendreher würde sich verbiegen und wäre danach unbrauchbar. Ich wünschte in iTunes und Foobar 2000 gäbe es genau diese Funktion ohne die Option sie abzuschalten. Gibt es aber nicht. Zu viele DJs beherrschen diese Subtilität leider noch nicht, obwohl genau die für Tango Argentino unabdingbar ist. Zu viele TJs benützen einen Schraubendreher Nummer 8, wie ihn zB ein Bauschreiner einsetzt. Damit kannst Du aber ein Auto an der Decke festschrauben. Das wäre vielleicht das passende Instrument für eine von Bohlens Musikschrottpartys.

DJs wiederum, die Nuevo und andere Genres einflechten, eskalieren beim Gestalten des Spannungsbogens einer Milonga ihr Instrumentarium nochmals markant. Das ergibt sich ganz schon aus den unterschiedlichen Musik-Genres, welche dieses DJs einsetzen. In den allermeisten Fällen – die seltenen Ausnahme bestätigt natürlich auch hier die Regel – benützen diese DJs für die Gestaltungs des Spannungsbogens einer Milonga einen veritablen Druckluftnagler, eingestellt auf Dauerfeuer: Tacktacktacktack. Das ist ein technisch tolles Gerät, gar keine Frage, mit dem man ganz schnell ganz viel erledigen kann – beim Bau eines Wolkenkratzers. Aber im Tango Argentino nagelt man an einer Milonga damit eine ganze musikalische Epoche innert Sekunden für alle Ewigkeit an die Wand.

herzlich – Christian

Theresa hat gesagt…

Ich habe einen ausführlichen Kommentar zum vorherigen Thread zum Buch von Michael Lavocah geschrieben, der eigentlich auch in diesen Thread gehört. Beide Threads überschneiden sich dermaßen, dass es schwierig war zu entscheiden, wo ich kommentieren sollte. Interessenten mögen deshalb zu den Kommentaren beim anderen Thread gehen.

Theresa

cassiel hat gesagt…

Das geht auch bequem mit einem direkten Link (zu Theresas Kommentar).

Liebe Theresa, Vielen Dank für Deine Anmerkungen.

Tangosohle hat gesagt…

Wenn ich den Ausgangsartikel richtig verstehe geht es bei der TJ-Tätigkeit darum, die richtige Musik unter den gegebenen akustischen Bedingungen auszuwählen. Dagegen ist zwar nichts einzuwenden, es ist mir aber doch zu wenig. Als TJ stehe ich im Dialog mit den Tänzern, d.h. ich lege für die Tänzer auf, ich achte darauf wie wird getanzt, manchmal sogar, wer tanzt, auch wenn letzteres verpönt sein mag.
Es ist ein Unterschied, ob da Tänzer unter dem Eindruck eines vorangegangenen Kurses sind (also eher Unruhe verbreiten), oder Tänzer, die zum dritten Mal in der Woche tanzen (also eher eingetanzt sind). Bei erfahrenen Tänzern entscheide ich mich für eine andere Musik, als wenn eher frisch entpuppte tangueros auftauchen. Jüngeren Tangotänzern (unter 40) sollte ich eine andere Musikauswahl anbieten als einer älteren Tanzgesellschaft (keiner unter 50). Um dies einzuschätzen brauche ich eines: mein Auge für die Tanzfläche. (Und nicht für den Bildschirm!)

Das erste Ziel des TJ wurde bereits formuliert, der TJ ist ggf. sogar unsichtbar aber präsent dafür da, dass möglichst alle lange und gerne tanzen. Das zweite Ziel ist, vielen eine Möglichkeit anzubieten, ihr Hör- und Tanzgefühl zu schulen.

Wenn ich sage, ich lege auch für Tänzer auf, dann meine ich z.B. folgende Situationen: Wenn ich eine 3er-Milonga-Tanda vorbereitet habe und ich beim 2. Stück sehe, dass da ein oder zwei wirklich gute Milongatänzer sind, dann mache ich daraus auch gerne eine 4er-Tanda. Oder: wenn ich um 23.30 eine Vals-Tanda spiele und kurz vor Mitternacht von einem Geburtstag erfahre, dann warte ich mit dem Geburtstagsvals nicht bis kurz vor eins. (ein Zyklus TTMTTV dauert nun mal mindestens 1:15h). Auch alle anderen Unterbrechungen wie Ansage, Showtanz, von Livemusik gar nicht zu reden muss ich ggf. spontan in die dramaturgische Gestaltung des Abends mit einbauen können.

Das Internet füllt sich immer mehr mit TJ-Tipps, mir gefallen derzeit die Aussagen von Antti Suniala (Mr. „Tanda of the week“) sehr gut
The dj has to aknowledge the expectations of the dancers and fulfill them. No... the dj needs to surpass them. But be careful as thinking you know and understanding what the dancers need are two different things. I always think that whenever you try to get original you have to have alarms going off in your mind and think through thoroughly what you're about to do.

Zum Thema „Musikauswahl“ hat Antti auch schöne Gedanken. Weiterhin möchte ich gerne ein „Like it“ unter Theresas Artikel stellen. Es scheinen einige Leser an ihren Ansprüchen zu zweifeln, denen empfehle ich einen Besuch in einer ihrer Milongas. Sie versteht es, „unbekannte“ Titel so einzubauen, dass die Tanzfläche gefüllt bliebt und die Musik gerne getanzt wird.

bird hat gesagt…

Hi cassiel
und alle hier Schreibenden TJs,

beim Lesen dieses Blogs über das DJing kam mir der Gedanke, wie es wohl wäre, wenn jeder von euch, um einen Tango z.B. "El Flete" von D´Arienzo 1936 instrumental, eine für ihn stimmige Tanda baut und diese hier alle eingestellt werden, um einen Eindruck bekommen zu können, was möglich ist und was verschiedene TJs stimmig finden.

cassiel hat gesagt…

Hallo bird,

Du bist aber sehr schnell. Ich habe noch nicht einmal zum Aufbau einer Tanda geschrieben. Vielleicht warten wir noch mit der Diskussion konkreter Beispiele ein wenig.
Ich bin mir auch noch gar nicht sicher, ob das Diskutieren konkreter Tandas nicht den Rahmen dieses Blogs sprengt.

Insofern bitte ich noch um etwas Geduld.

bird hat gesagt…

Hi cassiel,

ist völlig in Ordnung !
Sorry, wenn ich etwas voreilig war. Es ging mir mehr um´s Hörerlebnis, als um das Diskutieren. Aber klar, dass hätte sich sicherlich fast zwangsläufig daraus ergeben.

Joachim hat gesagt…

Lange mitgelesen und auf de Suche nach meinem Verstehen.
@ bird und cassiel:
Da ich wohl erlebe, wie der/die TJ auch mein Tanzen beeinflusst, ebenso die Stimmung auf der Milonga bin ich als "Kunde" der TJ-Arbeit sehr interessiert, das Diskutierte genauer zu verstehen. Und da ist bird´s Vorschlag für mich eine feine Idee, vielleicht noch ergänzt durch Hinweise der Fachleute des Tango-DJing, zu welcher Zeit sie diese Tanda mit welchen Überlegungen spielen. Ich könnte dann Erfahrungen abgleichen, mich einhören, beides mit nachdenken und schönen Gesprächen verbinden. Mich könnte das sehr bereichern. -
@ tangosohle : Du schreibst "Jüngeren Tangotänzern (unter 40) sollte ich eine andere Musikauswahl anbieten als einer älteren Tanzgesellschaft (keiner unter 50)." Das erschließt sich mir nicht! Spöttisch: Und ab 60 nur noch frühe Canaro? Ernst: Was sind deine Gedanken bei dieser Aussage?

cassiel hat gesagt…

@Joachim

Danke für die Anmerkung. Hast Du noch etwas Geduld?

Der Fahrplan für meine Artikel zum DJing im Tango sieht momentan so aus:

• von Tandas und Cortinas
• die äußere Kohärenz von Tandas
• die innere Kohärenz von Tandas

Können wir mit der Diskussion von konkreten Tandas vielleicht noch etwas warten?

Joachim hat gesagt…

@ cassiel:
Geduld ist mein dritter Vorname!
Danke für die Info und die guten Aussichten.

Tangosohle hat gesagt…

Hier noch der nachgelieferte Link zu meinem Beitrag obenAntti Sunialas Tipps zum Djing

Joachim, aufgrund deines humorigen Untertons sind vermute ich Übereinstimmung, dass es „die Altersgruppe xy“ natürlich nicht gibt. Mir geht’s weniger um meine Gedanken, die mögen auch wichtig sein, mir geht’s um die Wahrnehmung des TJs
'als TJ achte ich darauf, wie getanzt wird, stehe im Dialog mit den Tänzern'.
Im Absatz danach sind dann einige Beispiele aufgeführt. Eine Erfahrung ist, dass ich gelegentlich Wünsche höre wie „spiel doch auch mal Musik für junge Leute“ oder „jetzt denk aber auch an uns Ältere“. Ich kenne übrigens viele 60+-tangueros die gerne und gut Candombe tanzen, danach darf's aber gerne wieder sehr ruhig werden. Und wie gesagt, ein TJ sollte für die Tänzer auflegen und nicht für seinen Musikgeschmack. Das wurde hier ja schon oft genug geschrieben, auch, dass das kein Widerspruch sein muss.
lg

Joachim hat gesagt…

@ tangosohle
Ja, das Augenwinkern war deutlich markiert, wohl weil ich 60+ bin. Das schafft Gelassenheit.
Also geht es um den nonverbalen Dialog zwischen der Tanzfläche/ den aktiven und passiven TänzerInnen, auch dem gestischen Austausch ( wer schrieb vom Augenkontakt? ). Dabei ist mir zugänglich, wie das Auflegen mein Tanzen und den Tanzfluss im Saal beeinflusst. Ich kann benennen, dass ich gerne sanft und fließend tanze, diese Musik aufsauge und gerne "versinke" - zuviel davon macht aber träge und mindert meine Aufnahmefähigkeit, meine tänzerische Energie. Unmittelbar zu bemerken, wie frisch, aktivierend dann Biagi oder Pugliese wirken. Wie ist aber die "andere" Seite? Was nimmst du auf von dem, wer sich wie auf der Tanzfläche bewegt? Die Fülle? Das Lächeln in den Gesichtern? Wer zu welcher Tanda tanzt ( 60iger oder 40iger ;-) )? Wie merkst du, dass du vergriffen hast? Oder auch: Feedbackgespräche, ganz bewusst und gezielt geführt?
Ich hoffe mit Kästner, dass die Fragen es sind, aus denen das, was bleibt, entsteht.

Tangosohle hat gesagt…

Danke für diese Kästnersche Idee, damit kommen wir natürlich ziemlich weit. Anders ausgedrückt, hinterfrage immer deine Antworten, die du findest. Nun also: Wie funktioniert non-verbale Kommunikation?
Hm, natürlich, Sprache, Gesten, Verhalten sind durchaus ein Teil davon, wobei die Interpretation genauso wichtig sein kann, wie die direkte Aussage. Je nachdem. Es ist die Suche nach der Energie, die die Tanzfläche gerade einatmen möchte. Manchmal fühlt es sich an, so wie ich mir Surfen vorstelle (ich kann das leider nicht). Es gibt viele Kleinigkeiten, die gerne ziseliert werden können, ein Wörterbuch kenne ich jedoch nicht. Die Frage, die sich mir stellt, ist eher diese: Wie versetze ich mich in einen Zustand, in dem ich für die Kommunikation mit der Tanzfläche offen bin, aber gar nicht merke, wie das geschieht? Wie verschaffe ich mir den Blick fürs Ganze? Meine Erfahrung ist: in emotional intensiven Zeiten habe ich einen besseren Kontakt, als wenn ich direkt von der Arbeit zum TJ-Einsatz fahre. Wenn mein Kopf frei ist von vielerlei Alltags- oder auch Tangokram, dann kann das für die Wahrnehmung durchaus förderlich sein. Ich möchte aber in Frage stellen, ob man aus solchen rückblickenden Betrachtungen jetzt eine Planung oder ein Rezept ableiten kann. Es mag hier also als Anregung dienen. Die Frage, sie bleibt.