Freitag, 11. Juli 2014

Aníbal Troilo - ein Portrait zum 100. Geburtstag

Heute vor 100 Jahren, am 11. Juli 1914 wurde Aníbal Carmelo Troilo Bagnolo, genannt: Pichuco in Buenos Aires als Sohn neapolitanischer Einwanderer geboren. Sein Vater, Carmelo Troilo, ein Fleischereiarbeiter starb als Aníbal Troilo acht Jahre alt war - fortan versuchte seine Mutter, die Familie mit einem kleinen Kiosk durchzubringen. Etwa zu der Zeit entdeckte der Junge seine Liebe zum Bandoneón und schließlich kaufte seine Mutter, Felisa Bagnoli ihm ein Instrument und zahlte es in Raten ab. Dieses Instrument sollte dem Ausnahmemusiker Zeit seines Lebens begleiten. Es ist kaum zu entscheiden, ob es sich um eine historische Wahrheit oder um eine Legende handelt: Angeblich hatte Aníbal Troilo nur sechs Monate Unterricht am Bandoneón.


Vermutlich im Alter von 10 Jahren (sicherlich aber 1925) entwickelte sich die musikalische Karriere. Dabei gibt es auffällige Parallelen zu anderen Biographien großer Tangomusiker. Ähnlich wie beim etwa zehn Jahre älteren Carlos Di Sarli begann die musikalische Karriere in Kinos mit dem Musizieren zu Stummfilmen. Das war wohl in der damaligen Zeit ein sehr einträglicher Beruf. Es wird berichtet, dass bei ausgesuchten Musikern das Publikum nur für die Musik in das Kino kam und zusätzlich die Filme viel zu schnell abgespielt wurden, damit Kinobesitzer mehrere Vorstellungen am Tag vorführen konnten.
Aníbal Troilo mit seinem Orchester und dem Sänger Francisco Fiorentino
bei einer Aufnahme im Rundfunkstudio von Radio Belgrano
Gefunden bei: blogs.monografias.com/el-buenos-aires-que-se-fue

Ab 1929 ging es dann mit der Karriere des Ausnahmemusikers steil bergauf : Er folgte Pedro Maffia als Bandoneónist in dem legendären Sextett von dem Violinist Elvino Vardaro und Osvaldo Pugliese. In diesem Sextett spielten auch Alfredo Gobbi und Ciriaco Ortiz. Leider gibt es von dieser Formation keinerlei Aufnahmen; ein unglaublicher Verlust für die Tangowelt. Die Liste der Künstler mit denen er zusammen musizierte liest sich wie das Who-is-who im Tango der damaligen Zeit. Aníbal Troilo begleitete Carlos Gardel, er spielte eine Zeit im Orquesta Tipíca Víctor, er war unter Vertrag bei Angel d'Agostino, Juan d'Arienzo und Julio de Caro. Bei Wikipedia werden noch zusätzlich Juan "Pacho" Maglio und Juan Carlos Cobián genannt.

1938 war es endlich soweit: Ein Plattenvertrag mit dem frisch gegründeten eigenen Orchester bei dem argentinischen Label Odeon - aber bereits nach zwei veröffentlichten Aufnahmen folgte das böse Erwachen: Das Odeon-Management hatte die protektionistische Angewohnheit, junge Orchester unter Vertrag zu nehmen damit sie nicht beim Erzrivalen RCA-Victor aufnehmen konnten (ähnlich soll es dem Vernehmen nach Ricardo Tanturi gergangen sein); häufig genug konnten die so gesperrten Orchester über wertvolle Jahre hinweg keine Einspielungen veröffentlichen. Erst 1941 konnte Aníbal Troilo endlich bei Victor den Reigen seiner Interpretationen auf Schellack eröffnen. Aníbal Troilo wird in Argentinien verehrt wie kaum ein anderer Tangomusiker.
Osvaldo Pugliese wurde für seine Standhaftigkeit geachtet - als bekennender Kommunist legte er sich regelmäßig mit der Obrigkeit an. Juan d'Arienzo wurde z.T. belächelt, da er als künstlerischer Leiter ein Despot gewesen sein muss und nicht davor zurückschreckte, sein Sänger banale Texte singen zu lassen, die sich im Zweifel immer dem Orchester als Rhythmusmaschine unterordnen mussten.
Aníbal Troilo zwischen seinem Freund
Carlos di Sarli und seiner Ehefrau Zita
Carlos di Sarli muss auch ein komplizierter Künstler gewesen sein - Troilo war allerdings mit ihm sehr eng befreundet (dazu hat Rodrigo unlängst in der Mailingliste tango-de seine hoch interessante Anekdote 140 veröffentlicht). In der Gunst der Bevölkerung muss Aníbal Troilo wohl all seine Kollegen überragt haben. Vielleicht ist es deshalb sehr schwierig, an gute Transfers seiner Einspielungen zu kommen - die Schellacks für die Transfers sind wahrscheinlich einfach vorab zu oft gespielt worden. Leider können auch neuere Transfers für meine Ohren nicht überzeugen - da wurde für mein Empfinden zu hektisch gearbeitet und dem Kangbild fehlt die notwendige Balance der einzelnen Frequenzbereiche.




Das Orquesta Tipíca Aníbal Troilo


Aníbal Troilo hat es geschafft, dem gesungenen Tango die Balance zwischen Orchester und Sänger wieder zu geben. Nach dem überregional erfolgreichen Carlos Gardel der vor 1935 mit seinem Gesang fast den ganzen südamerikanischen Kontinet eroberte, aber nie den Anspruch entwickelte, für Tänzer zu singen kam mit Juan d'Arienzo die rhythmische Gegenbewegung. Alles musste sich dem Rhythmus (und damit der Tanzbarkeit) unterordnen. Francisco Fiorentino bekam in dem Orchester von Troilo übergroßen Raum. Er war der erste cantor de orquesta und durfte - im Gegensatz zu den bisherigen estribillistas (etwa mit „Refrainsänger“ zu übersetzen) - ganze Strophen eines Textes singen. Die Kombination Troilo/Fiorentino hat damit eine besondere Stellung. Übrigens hielt sich Aníbal Troilo, der selbst in seinem Orchester Bandoneón spielte, bei seinen Soli-Passagen sehr zurück. Oft nur wenige Takte lang weint ein übertrauriges Bandoneón, ein fernes Echo auf die restlichen Instrumente. Auf dem Zenit seines Schaffens verließ Fiorentino das Orchester von Troilo um eine Karriere mit eigenem Orchester zu starten Astor Piazzolla verließ etwa um die gleiche Zeit (oder kurz später) ebenfalls das Ensemble und dirrigerte zeitweise das neue Orchester von Francisco Fiorentino.

Und auf eine zweite Person ist in diesem Orchester die Aufmerksamkeit zu richten: Orlando Goñi, neben Rodolfo Biagi wahrscheinlich der brillianteste Pianist im Tango. Die Frage, ob dieser überhaupt Noten lesen konnte, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Wenn man aber seinem Feuerwerk am Klavier z.B. in der Aufnahme C. T. V. aus dem Jahr 1942 zuhört, dann weiß man, warum sein Ausscheiden aus dem Orchester ein kaum zu schließende Lücke hinterlassen hat.

Diese beiden herausragenden Musiker hatten übrigens langfristig kein Glück nach Troilo. Francisco Fiorentino kam nach einem Autounfall im Jahr 1955 auf tragische Weise ums Leben und Orlando Goñi starb innerhalb kürzester Zeit an den Folgen seiner Alkoholerkrankung.

Es wird übereinstimmend berichtet, dass Aníbal Troilo Musiker sehr großherzig ziehen ließ, wenn sie andere Wege gehen wollten. Er war wohl die große integrierende Kraft im damaligen Tango in Buenos Aires. Man muss ihn sich als hart arbeitenden Musiker vorstellen, der nach getaner Arbeit (und das konnte durchaus zwischen vier und sechs in der Früh sein) gerne mit Kollegen aß, trank und ausschweifend feierte. Er liebte das Leben eines hart arbeitenden Angehörigen der Bohème. Dieses Leben forderte dann vielleicht auch irgndwann seinen Tribut. Am 18. Mai 1975 starb Aníbal Troilo an einem Schlaganfall und einen folgenden Herzinfarkt als er die Bühne verließ.

Die Musik Troilos - ein paar persönliche Bemerkungen


Aníbal Troilo mit seiner Frau Zita beim Tango
gefunden bei: tangosalbardo.blogspot.com
Ich habe erst sehr spät einen Zugang zu der Musik Troilos gefunden. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich zunächst die falschen CDs gekauft hatte oder ob es generell länger dauert, bis man im Tango die Musik Troilos kennen und schätzen lernt. Für mich sind die frühen Einspielungen (~ < 1942) von ein kaum zu bändigenden Energie und Lebensfreude. Aber bereits in diesen musikalischen Schätzen hört man das melancholische Spiel Troilos auf dem Bandoneón. Ähnlich wie bei Carlos di Sarli gibt es im Zeitraum 42/43 eine Zäsur: Das Spieltempo nimmt deutlich ab und insgesamt wird die Musik spürbar lyrischer. Für mich ist noch nicht klar, ob es an den komplexeren Arrangements liegt (die wohl ab dieser Zeit durch Arrangeure schriftlich fixiert wurden), oder ob es einen anderen Grund für dieses retardierende Moment gibt. Neben dem oben erwähnten Instrumentaltitel C. T. V. schätze ich die späteren Aufnahmen mit Francisco Fiorentino sehr... Mi castigo, El encopao, Pa'que seguir und natürlich Gricel um nur ein paar hinreißende Stücke zu nennen. Aníbal Troilo spielte für Tänzer, das war sein Beruf, seine Leidenschaft. Ein Tangolehrer formulierte einmal einen etwas ungewöhnlichen Gedanken, der mir immer besser gefällt je länger ich über ihn nachdenke:
Die großen Meister der Epoca de Oro haben mit Leidenschaft für Tänzer musiziert und wenn wir uns heute darum bemühen, die Kunst dieser Musiker durch musikalisches Tanzen in der Milonga zu ehren, dann werden diese Musiker nicht vergessen; sie lächeln aus einer anderen Welt zu uns herüber.

2 Anmerkung(en):

Theresa hat gesagt…

Danke für diesen Beitrag mit dem perfekten Timing!

Eine kleine Ergänzung: Wir haben immerhin aus den Jahren 1931 bis 1934 Aufnahmen des Ensembles "Los Provincianos", in dem u.a. Elvino Vardaro die Violine und Ciriaco Ortiz und Aníbal Troilo die Bandoneons spielten, und können zumindest erahnen, wie das Sexteto Vardaro-Pugliese geklungen haben könnte. Nämlich ganz wunderbar und toll zum Tanzen.

Tango Therapist hat gesagt…

Great that you put this together for us! I like the tango-priest benediction at the very end. Amen!