Ich komme gerade von einem auswärtigen Termin zurück und finde eine eMail von Christian Tobler von Argentango.ch, den ich im letzten November interviewt habe. Er hat noch einmal sehr ausführlich zum Interview mit Olaf Herzog, dem Herausgeber der TangoDanza geschrieben. Sein Text ist wie gewohnt gründlich und ausführlich und so habe ich mich entschieden, ihn nicht in die Reihe der Kommentare, sondern als eigenständigen Gastbeitrag zu veröffentlichen. Christian hat so fundiert geschrieben, daß ich es mir fast den Atem verschlug. Da sind sehr viele Ideen und Ansätze angestoßen und ich hoffe, es entsteht eine lebhafte Diskussion um die Sache.
Bevor es nun endlich losgeht möchte ich mich ganz herzlich bei Christian bedanken ("Womit habe ich das verdient?") und wünsche allen Leserinnen und Lesern eine spannende Lektüre.
Noch ein Kommentar zu Cassiels Interview mit Tangodanzas Olaf Herzog - von Christian Tobler
Die überraschend homogenen Reaktionen auf dieses Interview - kritische bis sehr kritische Kommentare - halte ich für angemessen und fair. Olaf Herzog hat im Interview selbst warum auch immer jede Gelegenheit verstreichen lassen, welche ihm Einstieg zu einem interessanten Gespräch bot. Journalisten ticken meist völlig anders. Ihnen liegt kritisches Hinterfragen und die schiere Lust am Disput im Blut. Sonst hätten sie einen anderen Beruf ergriffen.
Dass ich überhaupt und auch noch so spät einen Kommentar nachreiche, liegt einzig daran, dass die bereits publizierten Kommentare so interessant zu lesen sind und mir zigfach bestätigen, dass ich mit meiner kritischen Haltung Tangodanza gegenüber nicht allein bin. Vielleicht kommt am Ende doch noch Bewegung in die Redaktion. Ich hoffe, sie zieht aus den Reaktionen im Blog Konsequenzen, findet den Mut sich auf einen Wandel einzulassen.
Ich kann nicht nachvollziehen, wie die Macher eines Tangoblatts bei der Verpackung klotzen aber bei den Inhalten - Autorenhonorare, aber auch Breite und Tiefe der Artikel - knapsen, weil Papier, Druck und Bindung in bester Qualität Budgetpriorität haben. Wenn Inhalte begeistern, nimmt man ein kleines Format, dünnes Papier, ja sogar einfarbigen Druck in Kauf. Seichte Inhalte dagegen sind langfristig ein Killer, wo immer Lesern ein Thema am Herzen liegt.
Tangodanza geht seit der ersten Stunde einen zeitgeistigen Weg und macht sich damit konzeptionell mehr zur Illustrierten als zur Fachpublikation. Um daran was zu ändern müsste Tangodanza sich kritischem Journalismus anstelle von Hochglanz verpflichten. Oder auf einen kurzen Nenner gebracht: Sein statt scheinen. Aber vermutlich ist diese Positionierung gewollt und ich gehöre gar nicht zur Zielgruppe. Die Reaktionen im Blog lassen aber zumindest vermuten, dass ich mit meinen Ansichten zu einer Lesermehrheit gehöre, die sich bisher schweigend geärgert hat.
In meinen Augen hat Tangodanza zwei grosse Schwächen, auf die ich gleich fundiert eingehen werde, damit meine Kritik sich nicht in leeren Unterstellungen erschöpft. Einerseits ist der musikalische Fokus des Blatts realitätsfern. Andererseits verschläft die Publikation interessante Entwicklungen in Buenos Aires. Beides führt dazu, dass Leser die sich auf die Sachkompetenz der Zeitschrift verlassen, einen ziemlich einseitigen, dürftigen Wissensstand haben. So was passt nicht zum Status grösste deutschsprachige Publikation zum Thema.
Zur musikalischen Ausrichtung
Abonniert habe ich Tangodanza vor Jahren einzig wegen Bielers Serie über die Gran Orquestas. Die ging mir schon damals nicht genug in die Tiefe, war aber ein interessanter Ansatz, der leider längst versandet ist und niemals Nachfolger erhalten hat. Publiziert wurden in den letzten Jahren vor allem Artikeln über drittklassige kontemporäre Formationen, aber nullkommanichts über die 25 wichtigen Gran Orquestas der Epoca de Oro, welche das Rückgrat fast jeder mitreissenden Milonga bilden. Parallel dazu sind auch die CD-Rezessionen über diese Orchester ausgelaufen. In der letzten Nummer wurde zB keine einzige CD von einer der wichtigen Formationen besprochen, dafür Butterfahrtmusik zuhauf.
Mit diesem Fokus driftet die Zeitschrift meilenweit am Milonga-Alltag vorbei und schickt ihre Leser in eine musikalische Wüste. Ob ein Tänzer das Cuarteto Osterholz-Scharmbeck mit seinen Bremer Stadtmusikanten kennt, ist auf Dauer ohne jede Bedeutung. Tänzer die dagegen wissen, wer Alfredo Gobbi jr. ist und dank einem Artikel über ihn allmählich Zugang zu seinen zwar anspruchsvollen aber bestens tanzbaren Instrumentalaufnahmen finden, verschaffen sich auf Jahre hinaus mächtig viel Tanzspass.
Da Kritik allein meist kaum was bewegt, habe ich mich gefragt, auf welche Weise ich was Konstruktives in diese Diskussion einbringen könnte. Ich will versuchen, anhand eines für Tangodanza typischen Artikels aufzuzeigen, wie daraus ein sehr viel interessanterer Artikel hätte werden können. Dazu picke ich aus der letzten Nummer - 2/2010 - den Leitartikel raus: Interview mit Javier di Ciriaco vom Sexteto Milonguero.
Dieses Interview stellt in keiner Weise zufrieden. Die Autorin vermittelt nicht den Eindruck, dass sie weiss wovon und mit wem sie spricht. Es entsteht kein verbales Ping Pong. Ob es an mangelnder Recherche und Vorbereitung liegt? Wir erfahren etwas über die Entstehung der Formation, den Alltag beim Touren, die Folkloretitel der neuen CD und einige andere Aspekte. Das reicht aber noch nicht für ein spannendes Interview. Dazu hängt einfach zuwenig Fleisch am Knochen.
Das Sexteto Milonguero ist ein Orchester. Daher wäre für mich deren Musik zentrales Thema und nicht das drumherum. Ich kann mir nicht vorstellen so ein Interview zu führen, ohne dabei immer wieder mal gemeinsam Musik zu hören und Gehörtes zu diskutieren. Leider werden einzelne vom Sexteto Milonguero interpretierte Tangos, Valses oder Milongas im Interview kaum diskutiert, nicht kritisch beleuchtet geschweige denn hinterfragt. Kennt die Autorin die Schwachpunkte der Formation nicht? Oder sie ist nicht in der Lage, deren Leistungen in einen anschaulichen Kontext zu stellen? Beides darf man bei einem Journalisten voraussetzen.
Ein Problem liesse sich dabei allerdings unmöglich vermeiden: sowie man die Vorbilder vom Sexteto Milonguero ins Gespräch einbezieht vergleicht man Äpfel mit Birnen. Diese Formation ist ein klassisches Orquesta Tipica: 2 Bandonen, 2 Geigen, 1 Piano, 1 Kontrabass - basta. Seine Vorbilder betreffend Sound und Arrangement, die Gran Orquestas der Epoca de Oro waren 10- bis 16 Mann-Formationen, oft mit drei bis fünf Bandoneon wie Geigen. Aber manchmal wurden auch Formationen mit 25 und mehr Musikern zusammengestellt. Und von d'Arienzo weiss man, dass er manchmal mit zwei Kontrabässen aufgenommen hat. Warum wohl.
Mit solchen Big Bands - das nordamerikanische Pendant besteht übrigens meist aus 17 Musikern - kann man einen ganz anderen Sound auf die Beine stellen: voller, reicher und auch mal laut, aber eben unangestrengt laut. Mein Sohn hat sei geraumer Zeit so eine nervende Phrase drauf: easy Mann. Genau das ist es was die alten Säcke damals so tierisch gut drauf hatten, die jungen heute dagegen nicht. Über dieses Dilemma hätte ich mit Javier gesprochen. Und spätestens hier hätten ich Javier dazu eingeladen gemeinsam Musik zu hören um die Diskussion zu konkretisieren.
Ich habe Javier und seine Truppe seit ihrer ersten Europatournee in verschiedenen Städten live erlebt und dazu getanzt - das letzte mal vor wenigen Tagen in Mannheim. Zudem habe ich mehrere Freunde in Bs As, die ihn privat kennen und damit für einen Nicht-Porteño einen recht guten Einblick in Werdegang und Situation dieser Formation.
Heute als Tango-Musiker sein Auskommen zu finden und mit touren Geld zu verdienen ist eine Herausforderung. Manche Musiker üben nebenher andere Jobs aus oder machen noch andere Musik. Dazu hätte ich Javier befragt, weil ich mich interessiert, wo die Musiker aus wirtschaftlichen Gründen musikalische Kompromisse eingehen müssen.
Live musiziert Sexmil vollkommen anders als auf CD. Dieser Unterschied ist eklatant. Ich hätte Javier darüber befragt, warum die Formation live mit jeder neuen Tournee weiter in Richtung Rock und Folklore abdriftet und dabei musikalisch holzschnittartiger wird. Damit entfernt sich die Tipica immer mehr von dem was den Kern des Tango Argentino ausmacht, aber auch vom sorgfältig ausgesuchten Repertoire der Formation: musikalische Zwischentöne, oder um es mit einem französischen Wort zu benennen: Raffinesse.
Rotziges Musizieren ist beim ersten Mal vielleicht ganz interessant, weil es ungewohnt daher kommt. Und es sorgt bei vielen Tänzern für gute Laune. Aber bereits beim zweiten Mal wirkt so eine Parforce Tour ziemlich abgedroschen. Zudem ist dieses Rambazamba für die Texte mancher Tangos aus dem Repertoire schlicht unpassend. Solche Grobheiten führen die Formation unweigerlich in eine Sackgasse. Und das nicht erst in zehn Jahren.
Schon bald wird es keine Steigerung mehr geben in Richtung lauter, schneller, wilder. Was dann? Kommt dann eine Kehrtwendung die niemand verstehen kann oder ist das Orchester dann bereits am Ende seiner kreativen Entwicklung angelangt? Der Höhepunkt ihrer Auftritte ist schon jetzt folgerichtig nicht mehr Tango sondern Folklore, wo der Lärmfaktor noch steigerungsfähig ist. Aber auch hier ist das Ende der Fahnenstange absehbar.
Dann hätte ich Javier gefragt, warum die Tipica keinen Produzenten hat: Einen Macher zwischen Kreation und Kommerz, welcher der Formation mit Voraussicht und Bedacht Freiraum verschafft und die künstlerische Entwicklung begleitet aber auch mal kritisch hinterfragt und wenn nötig auf den Putz haut. Dazu fallen mir Könner wie Alfred Lion oder Manfred Eicher, Phil Spector oder George Martin, um vier völlig verschiedene Typen von Produzenten ins Gespräch zu bringen.
Vermutlich würde ich Javier auch zu seinem Tonmeister befragen. Er ist der Meinung, dass die zweite CD besser aufgenommen ist. Das kann ich nicht nachvollziehen. Eine weitere Gelegenheit, gemeinsam vergleichend Musik zu hören und dabei zu diskutieren und sich einander anzunähern.
Ich hätte Javier auch darüber befragt, warum er im einen oder anderen Fall für die Musiker das Arrangement des einen Gran Orquestas verwendet hat, für den Gesangspart dagegen ein anderes Gran Orquesta Pate stand. Und ich hätte ihn darüber befragt, inwieweit die Arrangements der neuen CD sich von denen der alten CD unterscheiden und warum.
Ein spannendes Interview lebt immer auch von kritischen Tönen, einer Auseinandersetzung jenseits von Friedefreudeeierkuchen. Dieser Aspekt fehlt dem Interview ganz. Um das zu verdeutlichen gehe ich noch etwas weiter in die Tiefe, damit auch dieser Aspekt nachvollziehbar bleibt.
Auf der neuen CD findet sich Javiers Version nicht irgend eines sondern des Tanturi/Castillo-Titels schlechthin: Noches de Colon. Ein gewagtes Unterfangen, denn diese Jahrhundertaufnahme ist nicht nur nicht zu toppen, sie ist in vielerlei Hinsicht unerreichbar. Castillo war nicht ohne Grund der Sänger mit dem grössten Groopie-Faktor der ganzen Epoca de Oro.
Diese Aufnahme hätte ich zum kontroversen Thema des Interview gemacht. Denn im direkten Vergleich wird sofort ohrfällig, wie sehr die Performance der Tipica gegenüber der des Vorbilds aus den 40ern abfällt. Der Unterschied ist frappant. Noches de Colon ist nun mal keine Lachnummer wie etwa - um ihn nochmals als Referenz anzuführen - Castillos zwei Versionen von Asi se baile el Tango.
Castillo setzt in Noches de Colon jedem einzelnen Ton ein klitzekleines Sternchen auf und schon drei Sekunden nach dem Einsetzen dieser Stimme läuft einem ein wonniger Schauer über den Rücken. Zudem trifft er den richtigen Ton für diesen melancholischen, ja schon fast weinerlichen Text, indem er dem das richtige, subtile Mass an Ironie entgegen stellt, was dem Melodrama die Spitze nimmt ohne es zu banalisieren - ein absoluter Könner eben.
Im direkten Vergleich wird sofort offensichtlich dass Javiers Stimme in Noches de Colon nicht fliesst, nicht trägt, unter anderem weil er damit stossweise presst. Vermutlich fehlen ihm schlicht klassische Stimmbildung. Zudem ist sein Ausdruck für diesen Titel unpassend. Text und Stimme finden nicht zueinander.
Aber auch seine Musiker finden den richtigen Ton für diesen Text nicht. Zu viele Tango-Texte sind dermassen tragisch, dass alle involvierten Kreativen das nicht erst heute ein Stück weit aufzufangen haben, damit die Leute nicht mitten in der Milonga in Tränen ausbrechen und flüchten. Bs As hat nicht ohne Grund die weltweit grösste Psychiaterdichte.
Über all diese Aspekte der Interpretation hätte ich mit Javier gerne gesprochen und ihn damit bestimmt hinter dem Ofen hervor locken können. Womöglich wäre das Gespräch an diesem Punkt äusserst kontrovers geworden. So was gehört auch zu einem spannenden Interview. Falls das nicht erlaubt ist, ist das Ergebnis nicht Journalismus sondern PR. Und für so was mag ich als Leser kein Geld ausgeben.
Interessant ist, dass Javier bei Folklore seine Stimme anders einsetzt. Dort lässt er sie ungehindert fliessen. Von einer guten Freundin, die ihn privat schon unplugged mit Gitarre singend erlebt hat, weiss ich zudem, dass der Mann durchaus in Lage ist, sein Organ so einzusetzen, dass es den Zuhörern den Atem raubt. Aber warum zum Teufel tut er genau das im Tango nicht?
All das wäre nach zweidrei Stunden Recherche mit Hörsession offensichtlich gewesen, hätte dem Interview eine andere Dimension verliehen und dazu geführt, dass man den Artikel verschlingt anstatt nach dem dritten Abschnitt beiseite legt.
Dass wir uns nicht falsch verstehen. Das Sexteto Milonguero war nicht Thema hier. Die Formation ist eine erfreuliche Erscheinung im Einheitsbrei kontemporärer Formationen, weil diese Tipica den Anspruch hat, explizit für Tänzer zu musizieren, anstatt wie die Mehrheit der Musiker sogenannt schöne Musik zu machen. Tango Argentino war wirtschaftlich erfolgreich, als Musiker bereit waren, sich ohne wenn und aber auf die Bedürfnisse von Tänzern einzustellen. Hier ging es lediglich darum aufzuzeigen, was man aus dem Interview hätte machen können. Dafür musste ich das viele Fleisch wenigstens andeuten, welches tatsächlich an diesem Knochen hängt.
Für alle die sich selbst einen Eindruck verschaffen möchten: Sexmil-Version, Tanturi-Version und der spanische Text.
Zur aktuellen Berichterstattung
Es reicht nicht, zu rapportieren was in den drei Monaten vor und nach Publikation einer Ausgabe von Tangodanza geschieht. Eine Fachzeitschrift muss auch Perspektiven aufzeigen. Etwa wohin die Avantgarde der Szene sich momentan bewegt, weil das mit zeitlicher Verzögerung der Weg der Mehrheit ist. Solche Trends will ich nicht von der nächsten Porteño-Einquartierung in meinem Haushalt oder beim Chaten in Skype mit Bs As oder Barcelona erfahren sondern in der neusten Ausgabe von Tangodanza lesen. Sonst brauche ich kein Tangoperiodikum. Einige Beispiele für heisse Themen:
Nuevo stellt sich selbst in Frage: Nach Jahren mit einem für den Tango ungesunden Übergewicht aufgrund von etwas gar viel Selbstvertrauen haben sich einige der wichtigsten Nuevo-Exponenten lauthals das Büsserhemd übergestülpt. Sie gelobten wortreich Besserung in Richtung Tanzen anstatt Figuren bolzen. Das Interview mit Chicho Frumboli in der Tangauta von Dezember 2009 ist dafür der beste schriftliche Beleg. Darüber kann man nicht mal mehr unterschiedlicher Meinung sein. Dazu haben inzwischen zu viele Nuevo-Starlets öffentlich ins selbe Horn geblasen. Mit solchem Unterricht hat ein massgeblicher Teil von Nuevo in den vergangenen zehn Jahren eine ganze Generation junger Tango-Tänzer in die Wüste geschickt, da ihnen kein tänzerisches Fundament vermittelt wurde. Für manche wird sich das als Trip ohne Wiederkehr entpuppen. Wo informiert Tangodanza über diesen sich abzeichnenden Paradigmenwechsel?
Freiwild Tango: Smarte Typen waiden Tango Argentino seit Jahren aus und machen mit ihrer Beute ihr eigenes, ganz anderes Ding. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn sie ihre Ergüsse - zB Musik für Spülmaschinentabs oder Katalysatoren für Bacchata - nicht aus Maketing-Überlegungen mit dem Begriff Tango aufmotzen würden. Warum bezieht Tangdanza dazu nie Stellung?
Tango auf dem Weg der Erneuerung: Der in Bs As von der Mehrzahl der Tänzer getanzte Tango ist nicht besser geworden in den letzten 15 Jahren. Wer dort genug Tänzer kennt, die bereits vor 20 Jahren im Tango verankert waren, bekommt immer wieder Hinweise darauf. Das Repertoire aufgelegter und getanzter Epoca-de-Oro-Titel wurde stetig kleiner. Das ist keine nostalgische Verbrämung. Inzwischen geben sich unzählige Rentner als alte Milongueros aus, obwohl die Jahre ihrer Tanzerfahrung sich meist an einer Hand abzählen lassen. Warum habe ich dazu in Tangodanza noch nie was gelesen?
Neue Meinungsmacher: Seit über einem Jahr ist eine Gruppe junger Tänzer dabei, laut und deutlich Kontrapunkte zu dieser schleichenden Banalisierung des Tango zu setzen. Diese Gruppe geht geschlossen an Milongas. Egozentrisch agierende Tänzer werden von ihnen konsequent ausgegrenzt. Wenn die Gruppe eine tolle Tanda wahrnimmt, taucht sie vollzählig auf dem Parkett auf und sorgt durch ihre Präsenz für ein angemessenes Vorwärts in der Ronda und ein tänzerisches Niveau, welches auch inspiriert. In diesen Tagen veranstalten diese Tänzer erstmals ein eigenes Event: El Gardel de Medellin, respektive Festival Estilo Parque Patricios. Hier engagieren sich unter anderem Tänzer wie Eduardo Arquimbau, Gloria Arquimbau, Julio Bassan, Olga Besio, Dolores Gambino, Hernan Leone, Marite Lujan, Andrea Misse, Ineshita Muzzopappa, Ariadna Naveira, Federico Naveira, David Palo, Milena Plebs, Carlos Rivarola, Maria Rivarola, Frank Rossi, Javier Rodriguez, Fernando Sanchez und Nayla Vacca. Genaueres wäre zu recherchieren, denn dieser Generationenmix ist sehr potent. Dazu gibt eine Web Site. Warum um alles in der Welt informiert Tangodanza nicht bereits im Vorfeld über das Event und die Innovationskraft, welche in diesem forward to the roots steckt?
Frauen auf Abwegen: In Europa faseln viele Frauen davon, dass es nicht genug gute Tänzer gäbe und lassen sich so ziemlich jede Unverschämtheit auf und neben dem Parkett gefallen, auch von Argentiniern. Es ist noch keine zwanzig Jahre her, da wurde an jeder Milonga die diesen Namen verdient Geschmacklosigkeiten von Männer damit quittiert, dass keine Frau mehr mit solchen Kerlen tanzte. Dieser Prozess hat keine 15 Minuten gedauert. Männer die tanzen wollten, hatten die Codices zu respektieren. Dass die Männer sich machismohaft gebärdeten, ist ein anderes Thema. Vordergründig waren die Männer die Macher. Hintergründig hatten die Frauen die Kontrolle inne. Pantoffelhelden? Egal, denn mich interessiert eine ganz andere Frage: Woran liegt es, dass ausgerechnet ach so emanzipierte Europäerinnen sich als Tänzerinnen von Männern reihenweise misshandeln lassen und das auch noch toll finden? Und warum sieht Tangodanza die Aktualität dieses Themas nicht?
Ehrliche Biografien: Mit Pedro Tete Rusconi ist kürzlich ein grossartiger Tänzer gestorben. Nachrufe zu diesem herben Verlust schossen wie Pilze aus dem Boden. Aber damit war das Thema journalistisch schon wieder gegessen. Dabei war der Mann ein veritabler Archetyp des Tango mit abenteuerlichem Lebenslauf. Es wird erzählt, dass er zumindest in jüngeren Jahren in der Unterwelt von Bs As verwurzelt war und auch dort sein Auskommen hatte. Er soll über zehn Jahre im Gefängnis verbracht hat. Dabei ist er kaum für seine politische Überzeugung eingesessen. Ein Nachruf, der dieses Leben ohne zu schönen und ohne zu werten in all seinen Facetten - denn genau das hat diesen Tänzer zu dem gemacht, was er war - dokumentiert, wäre ein spannender Artikel und ein Stück Neuland im Umgang mit den wenigen alten Milongueros, die diesen tänzerisch adelnden Titel tatsächlich verdienen. Warum setzt Tangodanza solche in der Luft liegenden Ideen nicht um?
Sackgasse Establishment: Seit dem politischen Wechsel von 1955 hat die Oberschicht Argentiniens mit Tango weniger als nichts am Hut und will damit auch heute nicht in Verbindung gebracht werden. Daran wird auch die UNO mit ihrem Status eines Weltkulturerbes für Tango Argentino nichts ändern. Das Rennen um diese Pfründen ist dagegen längst am laufen. Und es ist zu fürchten dass diese Gelder wie so oft in Argentinien in den falschen Taschen landen. Noch mehr hochseetaugliche Jachten im Delta mit Badewannentiefgang. Noch mehr dieser unsäglichen Tango-Shows für Neckermann-Touris, die auf den Putzfraueninseln besser aufgehoben wären. Warum geht Tangodanza solchen Machenschaften nicht auf den Grund?
Wege zu guten Inhalten bei moderaten Kosten: Auf der Suche nach spannenden Inhalten muss das Rad nicht jedesmal neu erfunden werden. Es gibt zB ein Web Site mit dem Namen Tango and Chaos: ein persönlicher Bericht über die Jahre dauernde Annäherung eines Tänzers an seine Faszination. Cassiel hat diese Site natürlich längst und vermutlich mehrfach erwähnt. So etwas könnte man auf deutsch übersetzt durchaus in vielen Folgen auf Papier publizieren. Diese Inhalte mögen nicht neu sein, haben aber mehr Substanz als die meisten Artikel in Tangodanza.
Für alle die sich selbst einen Eindruck verschaffen möchten: Tango and Chaos.
Durch meine Email-Adresse bin ich als Person innert einer Minute identifizierbar, auch für Olaf Herzog. Allerdings halte ich anonyme Äusserungen nicht für schlecht, solange die darin enthaltene Kritik trotz sachlicher Härte einen konstruktiven, versöhnlichen Kern birgt. In der viel zu oft von Neid und Häme vergifteten Subkultur Tango hat nicht jeder den Mut, sich den fast automatisch auftauchenden Anfeindungen auszusetzen.
Es ist einfach, das Werk anderer niederzumachen. Es es selbst besser zu machen ist ein ganz anderes Ding. Ich bin mir auch bewusst, dass das Machen einer Zeitschrift wie Tangodanza immer eine wirtschaftliche Gratwanderung sein wird. Daher hoffe ich, es ist mir gelungen sachlich kritisch aber persönlich fair zu schreiben und dabei auch gangbare Perspektiven für eine spannendere Tangodanza im Sinn von Denkanstössen aufzuzeigen. Ehrlichkeit mag manchmal schmerzhaft sein. Ehrlichkeit birgt aber immer auch Chancen. Es lag mir fern, Menschen, in diesem Fall Macher zu verletzen. Es war mir wichtig, sachlich unmissverständlich Stellung zu beziehen. Das zweite zu tun und das erste zu lassen war in diesem Fall eine Gratwanderung.
50 Anmerkung(en):
So toll hätte ich es nicht schreiben können, aber die Gedanken fühlen sich sehr stimmig an.
Vielen Dank an Christian. Jetzt lese ich sein Interview mit Cassiel.
Christian hat fundiert geschrieben, keine Frage, aber seine Hoffnung, die Redaktion möge den Mut finden, sich auf einen Wandel einzulassen, hat für mich ewas unfreiwillig komisches.
Tangodanza war, ist und wird immer eine PR-Gazette bleiben, deren Attraktivität in einer clever gemachten Verpackung besteht. Und genau das reicht den Kunden, denn sonst würden sie den aufgeplusterten Zeitgeistquark nicht kaufen. Ein Bericht über eine lokale Tangoszene kostete in den Anfangsjahren ca. 300 D-Mark, dagegen gab es für Autoren wie Jürgen Bieler nicht viel mehr als ein Dankeschön. Na und? So läuft das nun mal bei Anzeigenblättern!
Ich werfe einem Friseur doch schliesslich auch nicht mit aller analytischen Eloquenz vor, dass er für seine Kundschaft nicht die Frankfurter Rundschau auslegt sondern die Gala.
Wer qualitativ hochstehenden Journalismus erwartet, der kann ja beispielsweise selbst eine Zeitschrift herausbringen. Interessant schreiben kann Christian ja sowohl formal als auch inhaltlich. Ich weiss allerdings nicht, ob er als Schweizer noch das Regensburger Tango-Info und die Begleitumstände seines Ablebens kennt...
Fazit:
Ein Tangomagazin ist nur dann erfolgreich, wenn es sich dem Niveau seiner Kundschaft anpasst.
Andere Zielgruppen tummeln sich halt in Blogs wie diesem, und das ist gut so.
Gruss aus Tecklenburg
Peter
Bei diesem Beitrag bleibt einem ja die Spucke weg, allein schon wegen seines Informationsgehaltes. Ich hatte ihn als schnelle Lektüre vor dem Schlafengehen angeklickt, und nun halten mich "Noches de Colón" und "El Gardel de Medellín" vom Schlafen ab.
Danke, Christian und Cassiel!
Theresa
Mir fehlt der Mut unter meinem Namen zu schreiben. Ich versuche vom Tango zu leben. Der Beitrag und die Kommentare dazu haben mir aber gezeigt, es gibt Grenzen beim Verbiegen. Ich versuche es zu beherzigen.
Vielen Dank!!!!!!!
@Christian
DANKE! Du sprichst mir aus dem Herzen. Leider hat mir die fachliche Kompetenz gefehlt, meine Kritik so fundiert zu verbalisieren.
Viele der Beiträge in der TangoDanza haben für mich den Beigeschmack von Lokaljournalismus. Ein Redakteur wird kurzfristig mit einem Thema konfrontiert, macht sich oberflächlich darüber schlau und schreibt für den Laien gut aufbereitet eine nette kleine Geschichte. Gerne dürfen auch Klischees bedient werden, hat sich ja bewährt...
Für eine Lokalzeitung ist das mitunter noch hinnehmbar, da für Laien geschrieben wird. Und Redakteure können nicht auf allen Gebieten Experten sein. Den jeweiligen wirklichen Experten auf dem Gebiet dreht sich aber meist der Magen bei der Lektüre der Artikel um. Und genau deshalb lesen sie Fachzeitschriften. Und von einer Fachzeitschrift darf man dann auch erwarten, dass sie über ambitioniertes Schreiben/Berichten weit hinaus geht.
Vielleicht als Anmerkung: Ich selbst bin Journalistin (bei einer Tageszeitung) und tanze begeistert u sehr viel Tango. Beides befähigt mich nicht ansatzweise dazu, in einer Fachzeitschrift (und als solche versteht sich die TD ja) zu schreiben.
Christian hat das ganz deutlich vor Augen geführt. Genau solche Autoren wie ihn braucht es in einer Fachzeitschrift.
@TangoPeter
Ich bezweifle, dass alle TD-Abonnenten auf dem von Dir niedrig angesiedelten Niveau dahindümpeln. Aber es gibt halt keine Alternative zur TD am Kiosk. Natürlich kann man ins Netz abwandern u wird wie z.Bsp. hier im Blog ausgezeichnet versorgt. Aber nach wie vor hat eine auf Papier gedruckte Zeitung einen erheblichen Mehrwert für Leser. Sie dürfen (meist zu Recht) davon ausgehen, von Redakteuren die zentralen Themen der Welt- und Regionalgeschehnisse in einer ausgewogenen Gewichtung u Einschätzung präsentiert zu bekommen. Man darf sich also täglich umfassend über die aktuellen Themen informiert fühlen, wenn man täglich eine ordentliche Tageszeitung gelesen hat. Die Auswahl der Themen u ihrer Gewichtung ist also der entscheidende redaktionelle Mehrwert für den Leser. Im Netz wird man diese redaktionelle Gewichtung nicht finden können, weil es endlos ist. Mit der Wahl seiner Tageszeitung (und da unterscheiden sich die Überregionalen u Lokalen ja erheblich) entscheidet man, in welcher geistigen Ausrichtung man täglich seine Informationen gefiltert u kommentiert präsentiert wünscht. Bei der heutigen Informationsvielfalt und -flut ist man zwingend darauf angewiesen, nur begrenzt Informationen aufzunehmen u sie gefilter zu erhalten. Genau das bieten Tageszeitungen u machen sie trotz des Internets unentbehrlich.
Bei Fachthemen hat man leider nicht die große Bandbreite der Wahlmöglichkeiten. Im Bereich Tango gibt es im deutschsprachigen Raum nur die TD. Um so bedauerlicher ist es, dass inhaltlich so wenig geboten wird.
Ich bin aber optimistisch, dass die Redaktion der TD die Anregungen und berechtigte Kritik von Christian und den hier schreibenden Tangueras/os sehr ernst nehmen wird. Jedenfalls bin ich sehr gespannt darauf, wie sich die TD in den kommenden Ausgaben entwickeln wird.
@Christian
Vielen Dank für Deine Mühen, auch wenn es ein ziemlicher Verriss ist. Du hast aber für meine Begriffe den Kern des Problems getroffen. Für mich stellt sich nun die Frage, kann sich die Tango Danza auf eine ehrliche Diskussion einlassen? Und zwar gerade auf dem Gebiet Form vs Inhalt. Das Problem wird für mich bei dem Veranstaltungskalender sehr evident. Da gibt sich jemand viel Mühe mit einer Grafik (die jetzt nicht unbedingt meinen Geschmack trifft) und die Informationen sind veraltet. Mir ist es häufiger passiert, daß ich irgendwo in der Pampa stand und die angekündigte VA fand nicht statt. Vielleicht ändert die TD den online-Kalender, dass man zukünftig dem Veranstalter einen Kommentar hinterlassen kann.
@tangopeter
Ich sehe das so wie Raxie. Warum sollen Abonennten für ein seichtes Niveau zahlen. Schließlich zahlen die auch 8 Euro im Quartal. Also haben sie auch ein Recht darauf, dass ihre Bedürfnisse erfüllt werden.
@cassiel
Wieder einmal wird deutlich, wie wichtig Dein Blog ist. Früher war man dem dumpfen Bauchgefühl wehrlos ausgeliefert, vielleicht gab es ab und zu auf Festivals einen Austausch mit Gleichgesinnten. Du hast denen, die mehr vom Tango wollen, eine Heimat gegeben und man fühlt sich nicht mehr so allein. Für mich ist Dein Blog die wichtigste Internetseite im deutschsprachigen Tango.
Wir werden uns noch ausführlich zu dem umfangreichen Beitrag von Christian äußern – heute nur schnell die Frage an Peter Turowski:
Könntest du hier bitte kurz und unmissverständlich darstellen, wer im Rahmen der Tangodanza-Berichterstattung wem wieviel Geld wofür gegeben hat?!
Ansonsten erwarten wir eine Rücknahme dieser unglaublichen Behauptung und eine Entschuldigung.
Eigentlich wollte ich mich aus dieser Diskussion komplett heraushalten, nun gibt es eine kurze Bitte.
Vielleicht formulieren alle Beteiligten sorgsam und vielleicht legen wir nicht jedes Wort auf die Goldwaage.
Mir wäre an einer friedlichen und sachorientierten Diskussion sehr gelegen.
Vielen Dank, schönes Wochenende und erfüllte Tandas...
... wünscht
Cassiel
Da ich keine TD-Abonnentin bin, möchte ich mich mit Kritik am Magazin selbst zurückhalten. Auch kenne ich Olaf Herzog nicht persönlich und habe Respekt vor jedem Zeitungsmacher, der in diesen schwierigen Zeiten ein Printerzeugnis am Laufen und Leben hält.
Nachdem ich das vorausgeschickt habe, muß ich leider Christian Toblers vor allem eingangs gemachter Kritik zustimmen: mein subjektiver Eindruck des Herzog-Interviews war der eines müden Gesprächspartners, der bisweilen Züge des Selbstgefälligen annahm. Dazu gehört für mich z. B., daß am Ende des Interviews Cassiel sich bei Olaf Herzog bedankte, dieser aber den Dank nicht erwiderte. War es denn etwa für ihn keine Gelegenheit, für die Tangodanza neue Leser zu werben? Wir Tangotänzer bedanken uns doch auch artig nach jeder Tanda, und sei sie auch noch so verkracht gewesen … Und ist ein Interview nicht auch eine Art von dialogischem Tanz?
Einen Aspekt, den ich als Bloggerin vielleicht eher sehe als die anderen, die hier bereits kommentierten und noch kommentieren werden, möchte ich herausheben. Es ist dies die Ironie, daß der Tangodanza hier bei der Tangoplauderei wertvolles (wenngleich kritisches) Feedback widerfährt, obwohl Olaf Herzog im Interview „interaktiven Formen“ mit knappen Worten eine Absage erteilte. Ich wage zu bezweifeln, ob Christian Toblers Kritik, als Leserbrief an die Tangodanza abgefaßt, aufgrund ihrer Länge (und Schärfe?) jemals abgedruckt worden wäre. Vielleicht sollte man über die interaktiven Formen bei der TD noch einmal nachdenken? Christian Tobler möchte ich für die sicher nicht unerhebliche Zeit danken, die er sich für diese interessante Replik genommen haben muß. (Es war sicher eine kluge Entscheidung, sie für sich genommen zu veröffentlichen, Cassiel.)
Gleichzeitig, lieber Christian, sehe ich das Risiko, daß Deine ehrfurchtgebietende Sachkenntnis so manchem das Gefühl gibt, beim („alten“) Tango handle es sich um eine Geheimwissenschaft, die nur mit äußerst arkanem Wissen durchdrungen, geschweige denn genossen werden könne. Eine Analogie aus einem Gebiet, wo ich mich zuhause fühle: Darf man sich eine IKEA-Reproduktion eines Klimt-Gemäldes übers Sofa hängen, obwohl man nichts über Jugendstil, Symbolismus, Fin de Siècle und japanische Holzschnitte weiß? Darf man das nicht „einfach“ trotzdem schön finden? So ähnlich geht es mir mit den alten Tangos: ich mag wenig bis nichts über die vielen Facetten ihrer Entstehung wissen, und trotzdem lasse ich mich von ihnen anrühren. Im übrigen kann Tango im Fahrstuhl sehr viel Spaß bereiten! ;-)
In Bezug auf die Tangodanza bedeutet dies für mich: eine ganze Ausgabe auf Deinem Niveau würde mich überfordern. Ein Artikel von Dir in regelmäßigen Abständen, z. B. als Reihe, wie Du sie selbst vermißt, würde als Sahnestückchen herausstechen.
Ich wünsche allen an dieser Diskussion Beteiligten viel Spaß mit ihrem jeweiligen Zugang zum Tango. Und ein wunderschönes Wochenende.
@elbnymphe
Ich tanze nun schon einige Jahre Tango und bin auch nicht so in den Details wie es augenscheinlich Cassiel, Christian, tangopeter, Theresa etc. sind. Wie hätte ich auch da hineinfinden können? Ich lese jetzt hier seit Anfang des Jahres mit und habe sehr viele Anregungen zum Nachenken mitbekommen. Ich habe über das DJ-ing gelernt, achte sorgsamer auf die Musik bei Milongas, ich bin achtsamer auf meine Mitmenschen im Tango geworden und mein Tango ist einfacher aber paar-und musik-zentrierter geworden. Dafür musste ich hier im Blog lesen. In der Tango Danza habe ich derartige Gedanken nicht gefunden.
Ich schildere jetzt nur meinen Eindruck, aber für mich war das Interview von ein Missachtung der Blogger geprägt. Ich kann es nicht an einem Beispiel festmachen, aber zwischen den Zeilen konnte zumindest ich es lesen. Mir kommt die ruhige -manchmal sprachlich kantige- Art von Cassiel sehr entgegen und das ist nach meiner bescheidenen Kenntnis ziemlich einmalig im europäischen Tango. Christian scheint ähnlich veranlagt zu sein und ich empfinde es als unglaubliche Bereicherung, wie die Zwei sich ergänzen und verstehen. Das hat für mich das Potential, den Tango im deutschsprachigen Raum sanft und leise zu revolutionieren. Es liegt vielleicht in der Natur der Sache, dass die Tango Danza dies kritisch beäugen muss.
Abschließend möchte ich mich bei Christian für den tollen Artikel und bei Cassiel für die wunderbare Plattform bedanken. Hoffentlich darf ich noch viel aus eurer fruchtbaren Zusammenarbeit lesen.
@ Raxie:
Die Tangodanza ist nicht ganz allein. Es gibt seit Jahren ein eher kleines, aber sehr anders aufgezogenes Printprodukt, das Bolletin del Tango. Ich habe es schon eine ganze Weile nicht mehr gelesen (wie auch die Tangodanza), fand es aber seinerzeit deutlich inhaltlicher. Musste direkt einmal nachschauen, ob es noch existiert, dem ist aber so. Vielleicht hat ja noch jemand aktuellere Erfahrungen.
Ansonsten hat auch mir der Artikel von Christian deutlich mehr zugesagt als das seinerzeitige Interview.
Richtigstellung
Da ich eine Tatsache als Gegenstand eigener Überzeugung
bzw. von anderer Seite gehört dargestellt habe, muss ich ich
für deren Richtigkeit einstehen. Ob die Tatsache aus eigener
oder fremder Quelle stammt, ist unerheblich.
Selbst die unkritische Übernahme der Darstellung eines Dritten
kann meine eigene Behauptung sein.
Daher wird von mir an dieser Stelle die Nichterweislichkeit
der Behauptung, die Redaktion der Tangodanza habe für die
Veröffentlichung von Berichten über lokale Tangoszenen
Geld erhalten, zugestanden.
Peter Turowski
Also, dass Tangopeter mal eben locker Anschuldigungen hier postet, die er irgendwie "vom Hörensagen" kennt, offensichtlich ohne groß nachzudenken - und es nicht fertig bringt, dies ebenso locker zurückzunehmen und sich zu entschuldigen, sondern sich hier wie ein Aal windet, dies, Peter, ist echt arm, sorry.
... und soviel zum Thema Konsequenz - jetzt muß ich doch noch etwas schreiben:
Manchmal passieren einfach schier unglaubliche Zufälle und so kam es gestern dazu, daß ich vormittags einen Anruf von einem Bekannten eines Bekannten erhielt. Er sollte mittags einen Vortrag in der Uni halten und hatte sein Laptop in aller Eile vergessen. Das hätte mir auch passieren können und so half ich ihm schnell mit einem PowerBook aus. Er bewirbt sich für eine Professur im Bereich Medien und Kommunikation und referierte vor der Berufungskomission.
Nach seinem Vortrag haben wir dann anlässlich der Rückabwicklung des Laptops bei einem Kaffee noch ein wenig über Meden und Kommunikation gesprochen und das war sehr spannend. Aus diesem Gespräch möchte ich einige Gedanken hier wiedergeben.
Nach seiner Beobachtung ist durch die Verbreitung von Fachjournalismus die akute Gefahr gegeben, daß die Grenze zwischen Journalismus und PR immer stärker aufgeweicht wird. So unterhält mittlerweile jeder Verband eine Zeitschrift und die Macher des Blattes nennen sich Fachjournalisten, Sie sind aber thematisch immer an die Interessen ihres Auftraggebers gebunden. Also hat das kaum noch etwas mit echtem Journalismus zu tun.
Der hohe Kostendruck führt inzwischen auch bei Tageszeitungen dazu, daß immer mehr kostenfreie Eigenberichte ihren Weg in den Lokalteil finden (z.B. ein Bericht über die Jahreshauptversammlung der freiwilligen Feuerwehr, ein Bericht über die Leistungsschau der örtlich Karnickelzüchter usw.). Auch das weicht journalistische Prinzipien auf.
Und da sein Fachgebiet eigentlich die Kommunikation ist, waren wir dann auch kurz bei der Frage, ob Journalismus in Zeiten von Web 2.0 Kommunikation bedeutet. Er sah es so, daß das Fehlen oder Vorhandensein von Kommunikation überhaupt kein Kriterium für Journalismus sein sollte. Leserbriefe gab es schließlich schon lange, die hätten aber wenig bis gar nichts mit journalistischen Prinzipien zu tun.
Interessant finde ich den Zugang zu Fragen rund um Zeitschriften oder Blogs zu einem Spezialthema über die Betrachtung der zugrunde liegenden Kommunikation trotzdem. Legt man die Habermas'sche Idee der herrschaftsfreien Kommunikation an und berücksichtigt die vier Grundprinzien (1. gleiche Chancen auf Dialoginitiation und -beteiligung, 2. gleiche Chancen der Deutungs- und Argumentationsqualität, 3. Herrschaftsfreiheit, sowie 4. keine Täuschung der Sprechintention), dann kann eine ideale Sprechaktsituation entstehen. An dieser Stelle müsste man vielleicht einmal deutlich die jeweiligen Stärken und Schwächen von Print- bzw. online-Formaten diskutieren. Kann und will eine Zeitschrift überhaupt Kommunikation etablieren?
Ich verzichte jetzt bewußt auf die konkrete Projektion dieser Ideen auf das ursprüngliche Interview mit Olaf und auf den Beitrag von Christian (wenn ich ein Interview mache, dann will ich in die anschließende Diskussion nur ungern eingreifen). Ich finde es aber lohnenswert, die Diskussion um die Tangodanza auch einmal aus diesem Blickwinkel zu betrachten.
Jetzt wird es langsam so interessant, dass frau auch in die Diskussion einsteigen kann. Lieber Cassiel, verstehe ich Dich richtig, wenn Du "herrschaftsfreie Kommunikation" mit ins Spiel bringst, dass es auch um Deutungs- bzw. Definitionshoheit geht? Oder interpretiere ich da jetzt zu viel? Vielleicht ist das ein wesentlicher Teilaspekt der Dikussion und darauf möchte ich kurz eingehen. Ob es überhaupt notwendig ist, eine Autorität für Deutung und Definition im Tango zu benennen? Diese Frage lasse ich jetzt unbeantwortet.
Für mein Empfinden beanspruchte Olaf im Interview Definitions- und Deutungshoheit und legitimierte diese extern (gutes Layout, Haptik, Fotos etc.). Die sachliche Legitimation fehlte und so hatte er auch beispielsweise auf die Frage, warum der "Mittelbau" fehlt keine Antwort. Dass Christian Tobler eine Definitions- und Deutungshoheit hat, ergibt sich aus seinem bewundernswerten Detailwissen und auch Du Cassiel, hast vielleicht eine solche Kompetenz. Sie ergibt sich sui generis aus dem Umstand, dass ein Blog immer subjektiv ist, Du aber dennoch Deine persönliche Meinung immer deutlich kennzeichnest, aus Deiner Bescheidenheit ("vollkommen überflüssiger Blog"), aus Deiner Kollegialität anderen Bloggern gegenüber und aus der humorvoll nachdenklichen Art des Schreibens (frei im Denken - in alle Richtungen). Menschen wie Du und Christian bringen den Tango weiter. Die Tangodanza beansprucht zwar noch einen wichtigen Platz beim "agenda setting", sie hat ihn aber schon vor Jahren verloren, Chrstian hat bereits skizziert, warum das so ist.
In vielen Detailfragen bist Du einer Tangodanza um Längen vorraus und das hat Olaf im Interview meiner Meinung nach deutlich unterschätzt.
Aber einen anderen Punkt finde ich ebenso interessant. Den Aspekt der Kommunikation. Hier im Blog hat sich eine lebhafte Diskussionskultur entwickelt und das ist wohl nicht zufällig entstanden, Du hast durch Deine diskursunterstützende Art diese Diskussionen erst ermöglicht. Einem Printprodukt fehlt häufig diese Rückkopplung mit dem Rezipienten. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Reaktionen auf das Interview für die TD-Redaktion neu waren.
Als ich den Artikel das erste Mal las, war ich sehr beeindruckt von der Präzision und der klaren Betrachtung von TD. Mittlerweile bemerke ich einen Hauptklang in den Stellungnahmen, dem ich zwar in einzelnen Punkten zustimme, hier aber ein paar ganz andere Punkte beleuchten möchte.
Stichwort Fachzeitschrift:
Ob TD eine Fachzeitschrift oder eine Publikumszeitschrift ist, was streiten wir uns hier? Jeder Leser ist doch erwachsen und gebildet genug, dies selbst fest zu stellen. Der Focus hatte ja auch mal den Anspruch ein politisches Montagsmagazin zu sein...
Ich selbst nutze die TD für verschiedene Zwecke: Information, Orientierung, Überblick. Ich habe aber nicht den Anspruch, dass die TD mir das eigene Denken oder die eigene Recherche beim Besuch fremder Milongas abnimmt. (Anmerkung zu letzterem: Man sollte selbst den Homepages von Milongas im Zweifel mißtrauen und sich per mail/Tel die Angaben bestätigen lassen.)
Ich kann als Tageszeitung die Münchner Abendzeitung oder die FAZ lesen, ich muss halt wissen, was ich da erwarten bzw. nicht erwarten kann.
Stichwort aktuelle Trends:
Wenn ich irgendwo etwas über aktuelle Trends lese, dann vermute ich mindestens gute Beziehungen zwischen den Beteiligten, wenn nicht eine PR-aktion dahinter. Oder nur die rein subjektive Wahrnehmung des Journalisten, die nicht zwingend meine sein muss. Es steckt soviel Interpretationsmöglichkeit in dem Begriff „aktueller Trend“, dass ich es zwar schon gerne wahrnehme, aber nicht unbedingt übernehme. Ich lasse mich gerne von Medien, ob Zeitschrift oder Blogs anregen, mein eigenes Bild baut sich aber aus noch viel mehr Einflüssen auf. Diesen Anspruch habe ich auch für meinen eigenen Blog: Anregungen geben, Impulse setzen, aber keine Antworten liefern.
Stichwort musikalischer Fokus:
Meine größte musikalische Bildung verdanke ich persönlich dem Hören. Dem Hinhören und dem Zuhören. Ich persönlich fühle mich zwar durch musikwissenschaftliche Artikel intellektuell bereichert, aber nicht in meiner musikalischen Erkenntnis. Die Idealform musikalischer Vermittlung sehe ich in der Tat in der Form von Cassiels Montagsmusik oder Theresas musikalischen Vorträgen. Das Drama ist, dass das schon das Ende der anschaulichen musikalischen Auseinandersetzung im Tango ist und würde mich da gerne eines besseren belehren lassen.
Stichwort Sexmil-Beitrag:
Das ist eine sehr spannende Fiktion und ich schließe mich zunächst dieser Idee an. Einfach mal ausprobieren, dann sehen wir, was rauskommt. Ich stelle mir vor, dass ein Journalist seinen Interviewpartner i.d.R. sehr sensibel hinterfragt. Ein Politiker z.B. ist medienerfahren und kann gut damit umgehen, wen ihm im Interviewspiel Fallen gestellt werden. Ein Künstler, der einfach gerne möglichst gut Musik macht tut sich da schwerer zu erklären, warum er nicht den Ansprüchen des Interviewers bzw. der Messlatte verschollener Jahrzehnte gerecht werden solle.
Stichwort Freiwild-tango und Was Frauen sich gefallen lassen:
Ich stimme zu, ein trauriges Thema, ein Spiegelbild unserer Zeit oder Gesellschaft vielleicht. Jede Szene hat den Tango, den sie verdient.
Schlußbemerkung
Nein, wer Meinungen und Kenntnisse in den Mund gelegt bekommen möchte, der sollte nicht TD lesen, der sollte sich auf einer Milonga einen guten Unterhalter suchen. Wer eine Quelle sucht, um über Tango zu lachen, zu weinen oder den Kopf zu schütteln und in der Lage ist sich im persönlichen Kontakt oder durch weitere Quellen sein Wissen zu erweitern, für den kann TD Beiträge liefern.
Stichwort Definitions- und Deutungshoheit: Ist es wichtig, wer das alles beansprucht, natürlich will das jeder, das ist doch nur ein Spiel! Wichtig ist, ob und wem ich diese Hoheiten zugestehe und wem nicht.
Mein Eindruck vieler Meinungen hier: Es wird sich beschwert, dass das, was ich zum Essen vorgesetzt bekomme, nicht schmeckt. OK. Und dann würze ich eben selbst nach, das mache ich ja auch mit dem Kantinenessen wie auch mit den Beiträgen aus meiner Tageszeitung.
@ Christian Tobler
erstmal vielen Dank für die sehr fundierten Anmerkungen. Sie lösten bei mir sehr viele neue Gedankengänge aus. Nun habe ich eine Frage direkt an dich, die nichts mit der TD, sondern mit der Enwicklung der Musik zu tun hat.
Wie siehst du das? Welche Möglichkeiten haben die heute aktiven jungen Musiker, eine aktuelle und für die Tanzszene wertvolle Musik zu kreiieren, ohne sich auf die Arrangements und Interpretationen der Epoca de Oro auf eine Weise zu beziehen, die sich auf einen Imitationsversuch beschränkt?
Aus der Sicht von TangotänzerInnen, die vor allem die traditionelle Musik lieben: Gibt es überhaupt Entwicklungsmöglichkeiten für kreative Musiker, an diese Epoche der 40er-Jahre anzuknüpfen? Ich habe immer wieder den Eindruck, daß das Bedürfniss nach Weiterentwicklung sich entweder auf Neo-Tango oder konzertante Formen beschränkt.
@rodolfo2
Hast Du das Interview von Cassiel mit Christian gelesen? Den Link findest Du oben vor dem Gastbeitrag. Da steht zumindest eine grobe Skizze von Christians Gedanken zur zeitgenössischen Musik.
Hoffentlich war der Hinweis jetzt nicht überflüssig.
@ B.G.
natürlich habe ich das gelesen. Sonst hätte ich die Frage nicht gestellt.
Sie beruht auf meinen Eindrücken sowohl hier bei uns als auch in Buenos Aires. Hier sieht es so aus, daß die aufgelegte Musik, wenn sie über die traditionellen Orchester hinausgehen sollen, fast immer Neo-, Non- oder Nuevo bedeuten. Und in Argentinien werden zwar häufig Live-Orchester, die aus wirklich enthusiastischen jungen Musikern bestehen, in Milongas eingeladen, aber das wirklich interessiert ist man fast ausschließlich an den Orchestern, die aus der EdO stammen. Das, was ich entweder nicht sehe oder auch übersehe, sind Entwicklungen in der Musik, die wesentliche Merkmale dieser Ära beinhalten und trotzdem eine Paralellität zur Entwicklung des Tanzens aufweisen. Im Moment habe ich den Eindruck, daß der Tanz und die Musik nicht miteinander, sondern nebeneinander versuchen, neue Wege zu finden.
Hallo in die Runde,
lieber Christian,
zunächst einmal vielen Dank dafür, dass du dich so eingehend mit der Tangodanza beschäftigt und eine ausführliche Kritik formuliert hast. Das wissen wir zu schätzen und gehen deshalb auch vor allem darauf gerne ein:
Wer in den vergangenen Jahren den Tango Argentino und den Zeitschriftenmarkt aufmerksam beobachtet hat, wird festgestellt haben, dass Tangodanza kein Anzeigenblatt, sondern eine Abonnentenzeitschrift ist. Der wird wissen, dass man heute eine Kulturzeitschrift, die einfarbig schwarz auf dünnem Papier gedruckt ist, nicht verkaufen sondern allenfalls verschenken kann. Und der hat vielleicht auch davon gehört, dass nach den Bereichen "Mitarbeiter" und "Distribution" die "Druckkosten" bei einer überregionalen Zeitschrift heutzutage ein vergleichsweise kleinerer Kostenfaktor sind. Vielleicht wird er oder sie sich auch gefragt haben, warum die Tangozeitschriften-Neugründungen der vergangenen Jahre allesamt nach wenigen Ausgaben ihr Erscheinen wieder eingestellt haben und warum es die Tangodanza nach über zehn Jahren immer noch gibt.
Und wer uns kennt, der wird wissen, dass hier ein Team von Menschen am Werke ist, die mehr und manchmal auch weniger verliebt sind in den Tango, die Lust und Kompetenz haben zum Zeitungsmachen oder der Organisation komplexer Abläufe, die Tango-Kultur öffentlich machen und ausdrücken wollen und auch solche, die sich ‚nur’ zur Musik bewegen wollen oder die spanische Sprache ihr Faible nennen usw.
Mit Tangodanza ist das Kunststück gelungen, diverse Spezialisten zusammen zu bringen, die aufgrund ihrer Passion zum Tango für ein ‚schmales Geld’ an diesem Projekt arbeiten. Ohne diesen Umstand gäbe es Tangodanza nicht.
Optik und Konzept diente in den vergangenen Jahren vielfach als Vorlage für andere, bzw. wurde zum Teil direkt kopiert – das spricht für sich.
Mit dieser Form und Ressource wagen wir uns an die eigentliche Herausforderung: ein Magazin zu erstellen, welches zu ausgewogenen Teilen die unterschiedlichsten Facetten dieses Phänomens darstellt – denn was für die Einen das "Wesen des Tango ausmacht" ist für die anderen "Vergangenheit ohne aktuelle soziale Dimension" (um den Spagat nur mal auf einer Linie aufzuzeigen).
Vielen Dank für deine thematischen Anregungen; einige davon befinden sich bei uns im redaktionellen Prozess, andere sind für uns neu.
Dass auch bei Tangodanza "nicht alles Gold ist, was glänzt" gehört mit zu unserer Realität und hat unterschiedlichste Ursachen.
Das von dir kritisierte Interview mit Javier de Ciriaco von Ute Neumaier würden wir allerdings jederzeit genau so wieder veröffentlichen. Es ging uns dabei in erster Linie darum, ein sehenswertes und zum Tanzen einladendes Live-Orchester vorzustellen, das direkt zum Erscheinen der Tangodanza seine Deutschland-/Europatournee startete. By the way: Die neue CD des Sexteto, das du zum Thema des Interviews gemacht hättest, ist erst Wochen nach unserem Redaktionsschluss erschienen ...
Keine Frage, aus deinen Anmerkungen spricht eine große Sachkompetenz, von der wir schon früher gerne in Form von Beiträgen, Artikeln oder Leserbriefen erfahren hätten. Wir möchten dich wirklich sehr gerne dazu einladen, dein Wissen bei uns einzubringen und werden uns deswegen in den kommenden Tagen direkt bei dir melden.
Ansonsten würden wir uns freuen, konstruktive Kritik in Form von Leserbriefen zu veröffentlichen, um diese Diskussion ‚auf breitere Füße’ zu stellen und auch die hier nicht-bloggende Leserschaft daran teilhaben zu lassen.
Insofern freuen wir uns auf das Erscheinen der neuen Tangodanza, die am kommenden Dienstag, dem 22. Juni ausgeliefert wird.
Andrea Konschake, Christina Korn, Olaf Herzog, Regina Latyschew
Antwort an Rodolfo2 - Teil 1
Hallo Rodolfo2,
interessante Fragen stellst Du mir. Wenigstens einen Teil davon zu beantworten hat einige Zeit in Anspruch genommen, weil die Fragen einen ganzen Komplex umfassen. Allerdings bin ich als TJ kaum die richtige Person, um sie zu beantworten. Ich kann lediglich aufzeigen, wie ich die Situation wahrnehme und wie ich zu meinen Ansichten gelangt bin. Eigentlich müssten Musiker Deine Fragen beantworten - mit neuer genauso guter, genauso tanzbarer Musik. Nur tun sie das in meinen Ohren nicht. Aber vielleicht kommen von anderen Lesern ganz andere Antworten auf Deiner Frage.
Als TJ beschränkt sich mein Fokus auch aus zeitlichen Gründen auf Tango Argentino für Tänzer. Konzertanter Tango interessiert mich nicht und Elektro kann ich nicht ernst nehmen, weil musikalisch erbärmlich: Ein paar drum loops und ein mit drei Akkorden auf Zug über den Oberschenkel gerissenes Bandoneon machen noch keinen Tango - schon gar nicht für Tänzer. Es sei denn, sie haben noch nie was anderes als den nackten Takt getanzt.
Ich kann im Tango nirgends neue Wege des Tanzens entdecken. Auch nichts, was auf eine veränderte Interaktion zwischen Musik und Tanz hinweist. Das liegt daran, dass ich eine ganze Menge unveröffentlichtes Videomaterial von Nachbarschafts-Milongas in den 70ern in Bs sehen durfte. Leider kann ich über dieses Material nicht verfügen um es hier zugänglich zu machen.
Fast nichts, was nicht nur Nuevo als Innovation für sich in Anspruch nimmt, ist tänzerisch neu. Die haben alle bei den alten Säcken abgekupfert. Diese Alten waren ja auch mal jung und damit flexibel und fit genug für allerlei Kalbereien auf dem Parkett zwecks überbordendem Tanzspass.
Die Mär vom abgeklärten Milonguero, der sittsam zenmeditierend mit kleinsten Schritten akurat übers Parkett gurkt ist nur die halbe Wahrheit, passend zum Microcentro von Bs As mit seinen prallvollen Milongas. In den Barrios herrschte Vielfalt vor, da war auch Raum für ganz anderes. Nur ist das kaum dokumentiert und für Nichtportenos ist es schwierig an das wenige Material darüber heran zu kommen.
Die faszinierendsten tänzerischen Interpretation beruhen fast alle auf Epoca-de-Oro-Aufnahmen. Die Gründe dafür sind offensichtlich. Diese Aufnahmen bieten Tänzern sehr viel mehr Möglichkeiten sich vielfältig, überraschend und fantasievoll auszudrücken und sich trotzdem Note für Note, Schritt für Schritt, Silbe für Silbe an der Musik zu reiben und ihr dadurch differenziert Ausdruck zu verleihen. So kann ein Paar zu einem weiteren Instrument des Orchesters werden, welches sich nahtlos ins musikalische Arrangement einfügt.
Ein Beispiel dafür? Schau Dir an, wie Andrea Misse und Leandro Palou Canaros Milonga de mis Tiempos interpretieren - für mich die ultimative Milonga-Interpretation. So nahe bei der Musik kann man nur Epoca de Oro tanzen. Es gibt Momente in denen jeder Tänzer ein anderes Instrument tanzt und trotzdem sind die zwei eins - ohne jeglichen Anfall von Autismus oder Figurenbolzerei. Aber vermutlich kennst Du dieses Video längst ( http://www.youtube.com/watch?v=oJnv3rYUXsY&feature=PlayList&p=A198C30F4FD6EFE3&playnext_from=PL&index=0&playnext=1 ). So was wäre mit einem rotzigen Epoca-de-Oro-Verschnitt junger Musiker, die nie gelernt haben mit ihren Instrumenten Tänzer zu begleiten genauso wenig möglich wie mit ein paar Loops über einer zerkratzten Schellack.
Antwort an Rodolfo2 - Teil 2
Als Tänzer bin ich zwar neugierig auf neu eingespielte Musik. Klar lassen ich mich gerne positiv überraschen. Aber die Messlatte liegt verdammt hoch. Denn in Anbetracht der Tatsache, dass noch Jahre verstreichen werden bevor mir jede Note des essentiellen Epoca-de-Oro-Repertoires so geläufig ist, dass ich in der Lage bin, einen angemessenen Teil davon aus dem Eff Eff heraus mit meiner Partnerin gekonnt zu interpretieren, hält sich diese Neugier in Grenzen.
So ziemlich jedes Ding hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Das gilt für Klassik genauso wie für Jazz, für die neue Deutsche Welle ebenso wie für Reggaeton. Warum sollte das bei Tango anders sein? Ob tanzbarer Tango dieses Ende musikalisch längst erreicht hat? Ich weiss es nicht, vermute es jedoch. Fakt ist, dass tanzbare Tangomusik um 1948 herum musikalisch ihren Zenit erreichte und danach noch rund zehn Jahre lang grossartige Aufnahmen produziert wurde, obwohl jedes Jahr weniger Gran Orquestas weniger Aufnahmen einspielten. Was danach kam, war vor allem für Tänzer nicht mehr auf dem selben Niveau.
Die Gründe dafür sind natürlich auch in musikalischen Aspekten zu finden, obwohl diese von mächtigen gesellschaftlichen und gewalttätigen politischen Entwicklungen überlagert wurden. Die Ideale der Tangotexte passten kaum mehr in eine Welt, in der Elvis wie Beatles den Nerv der Zeit trafen. Jazz, mit dem Tango viele Parallelen verbinden, hat im selben Zeitraum ebenfalls die Tanzbarkeit verloren. Die kreative Entwicklung hat dort zehn bis zwanzig Jahre später ebenfalls ihren Abschluss gefunden. Und obwohl es für beide Genres immer noch und immer wieder Orchester gibt, ist das künstlerische Niveau inzwischen nicht mehr dasselbe. Vielleicht auch, weil beide Genres sich kaum mehr weiter entwickelt haben.
Während der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts gab es im Tango eine kontinuierliche Entwicklung und einen Markt der vielen Musikern Arbeit gab und ständig nach Neuem gierte. Diese Zeit war zwar von ständigem Auf und Ab geprägt, aber nicht von einem Bruch in der Entwicklung. In diesem Umfeld hat sich das Genre bestens entwickeln können. Junge Kreative wurden pausenlos assimiliert. Bs As wie Montevideo waren ein gigantischer kreativer Schmelztiegel für den Tango. Sogar Argentiniens bornierte Oberschicht hat in dieser Zeit das eine oder andere Lieblingsorchester für sich erkoren. Vor 1955 war Tango unter Portenos breit und tief verankert.
1955 hat in Argentinien ein Putsch stattgefunden. Die neuen Machthaber haben Tango genauso politisch instrumentalisiert wie die alten, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Weil diese dunkle Zeit fast 30 Jahre dauerte, waren die Rahmenbedingungen im Tango für junge Musiker danach nie mehr die selben. Was in 30 Jahren Willkürherrschaft an Kreativität unterbunden wurde, lässt sich weder nachholen noch überspringen. Es hat nicht stattgefunden und fehlt heute. Aber wie gesagt, vermutlich hätte Tango auch ohne diesen Einschnitt eine ähnliche Entwicklung durchgemacht wie Jazz.
Ab 1955 war Tango eine suspekte Randerscheinung. Radiostationen waren nicht mehr verpflichtet, einen beachtlichen Prozentsatz der Sendezeit mit einheimischen Produktionen wie Tango zu füllen. Wer in der Oberschicht gesellschaftlich weiterkommen wollte, hat sich vom Tango von heute auf morgen distanziert. Tango war aber nicht nur uncool. Die Stigmatisierung ging sehr viel weiter. Ansammlungen von mehr als zwei Personen waren jahrelang verboten, um politische Opposition im Keim zu ersticken. Damit war jede Milonga eine illegale Veranstaltung. Wer das Tango tanzen nicht aufgab, wurde zum Asozialen der riskierte schikaniert, verfolgt und eingesperrt zu werden. Damit wurde tanzbarem Tango der Boden entzogen. Die Orchester waren gezwungen, sich konzertantem Tango zuzuwenden oder sich aufzulösen. Tausende von Musikern musst sich diktaturkonformen Genres zuwenden oder einen anderen Broterwerb suchen.
Antwort an Rodolfo2 - Teil 3
Cacho Dante hat diesen Holocaust des Tango als junger Mann erlebt und berichtet in einem Interview darüber. Englisch ist es auf Argentangos Web Site ( http://cinema.argentango.ch/tango/pdf.htm ) zu finden. Es versteht sich von selbst, dass unter diesen Umständen nur noch wenige, verkleinerte Orchester Engagements fanden. Meist haben sie im Ausland getourt. Viele Musiker gingen für Jahre ins Exil. Tango hat deswegen nicht aufgehört zu existieren, ist aber untergetaucht und hat sich abgeschottet, um in Illegalität überleben zu können.
Nach der Diktatur war jener zentrale Katalysator des Tangos verschwunden, der über Jahrzehnte hinweg für eine kontinuierliche Entwicklung auf höchstem künstlerischem Niveau gesorgt hatte und in den 40ern über 600 Tangoorchester in Bs As entstehen liess. Ohne diesen generationen- und stilübergreifenden wie -verbindenden Schmelztiegel musste die Entwicklung stagnieren. Zudem konnten die Musiker nur noch selten für Tänzer musizieren und verloren diese Fähigkeit allmählich. Von diesem Einschnitt hat sich das Genre bis heute nicht erholt. Daran hat auch das inzwischen 25 Jahren andauernde Revival des Tango nichts ändern können, dessen Beginn mit dem Ende von 30 Jahren Diktatur zusammenfiel.
55 Jahre nach dem nicht nur tangesken Schicksalsjahr 1955 ist aber auch offensichtlich, dass kontemporäre Orchester den potentesten Aufnahmen des Zenits der Epoca de Oro kaum Einspielungen entgegen zu setzen vermögen, die bestens tanzbar sind und die selbe Kraft in sich tragen.
Acht Epoca-de-Oro-Beispiele dazu:
1948: Pugliese - Negracha
1948: Francini-Pontier - A Zarate
1949: Pugliese - Maladranca
1949: Gobbi - A Orlando Goni
1950: Francini-Pontier - A los Amigos
1950: Francini-Pontier - Para Lucirce
1951: Gobbi - El Andariego
1956: Pugliese - Nochero soy
Wenn kontemporäre Formationen in den vergangen Jahrzehnten andere Vorbilder herangezogen hätten, mehr auf Tanzbarkeit und musikalische Verspieltheit fokusiert hätten, anstatt sich in Dramatik zu verlustieren, wäre die Entwicklung vielleicht anders verlaufen.
Vier Epoca-de-Oro-Beispiele dazu:
1937: Laurenz - Arrabal
1939: de Caro - El Monito (nicht 1928 oder 49!)
1940: de Caro - Tierra negra
1941: de Caro - El Baqueano (nicht 1927!)
Verglichen damit klingen sämtliche kontemporären Aufnahmen musikalisch langweilig, ja sogar altmodisch. Also gäbe es durchaus Wege in ein musikalische Zukunft, die auf der musikalischen Vielfalt der Epoca de Oro aufbaut. Dazu müssten die Musiker von heute zuerst einen Schritt zurück machen, sich von der fixen Idee verabschieden, schön zu spielen und das omnipräsente Idol Piazzolla beiseite legen. Der ist ganz bewusst nie auf die Bedürfnisse von Tänzern eingegangen. Diese Haltung Piazzollas ist für tanzbaren Tango inzwischen zum Pferdefuss geworden, da viele kontemporäre Orchester seinem Stil unreflektiert nachäffen. Für Tänzer gehört Piazzolla nicht zu den 25 essentiellen Formationen, obwohl er grossen Einfluss auf die Entwicklung des Tango nach der Epoca de Oro hatte.
Tango war erfolgreich, als er Breitenwirkung hatte, weil die Kreativen bereit waren, ohne wenn und aber auf die sehr spezifischen Bedürfnisse von Tänzern einzugehen - beim Arrangieren genauso wie beim Musizieren. Das dieser Fokus nicht auf Kosten der Kreativität gehen muss, beweisen die Aufnahmen der Epoca de Oro tausendfach.
Antwort an Rodolfo2 - Teil 4
Schon einmal ist Tango beinahe untergegangen, weil er kaum mehr tanzbar war. Wäre Gardel 1935 nicht tödlich verunfallt und hätte d'Arienzo 1935 nicht Biagi engagiert, hätte die Epoca de Oro kaum stattfinden können. Natürlich ist auch mir bekannt, dass viele Kreative der Epoca de Oro d'Arienzo belächelt haben. Er war musikalisch nie besonders komplex. Aber wenn er gut ist, ist er grossartig - für Tänzer. Auch heute noch ist er mit gutem Grund das Rückgrat jeder mitreissenden Milonga. Ich kenne einen tollen Tänzer, dessen iPod für alle d‘Arienzo-Titel als Interpret „Dios“ anzeigt. So weit würde ich nie gehen, weil mir weltliche Götter schon immer suspekt waren. Aber den Gedanken dahinter kann ich bestens nachvollziehen, zumal es von d‘Arienzo, einem der Repertoiregiganten, weit über 200 bestens tanzbare Einspielungen gibt.
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet ein Antagonist d‘Arienzos wie Troilo die eigenen Musiker in den Senkel gestellt hat, wenn die d'Arienzo wieder mal verspottet haben. Er hat seine Snobs daran erinnert, dass kein Orchester der Epoca de Oro Publikum und Verdienst im Überfluss hätte, wenn d'Arienzo 1935 die Massen nicht erneut für Tango begeistert hätte. Das war eine musikalische Revolution mit Konsequenzen. Orchesterleiter, welche sich weigerten diese Entwicklung aktiv mitzutragen, waren mit einer Ausnahme - Firpo - innerhalb von einzwei Jahren gezwungen ihr Orchester aufzulösen.
Was den Musikern von heute fehlt ist so ein unverschämt populärer Leithammel wie d'Arienzo, beflügelt von Biagi. Ein Troilo von Goni beflügelt täte es natürlich auch. Leider sind das fromme Wünsche. Die tragenden Strukturen von damals sind nicht nicht mehr da und niemand kann das Rad der Geschichte zurück drehen.
Weit über 1'000 Aufnahmen der Epoca de Oro sind veritable Dreiminutenkunstwerke. Wer das nicht nachvollziehen kann, sollte sich die Mühe macht, die alten Aufnahmen mit kontemporären vergleichend querzuhören. Er wird schnell entdecken, dass die alten Säcke - die damals natürlich alles andere als alt waren - durchs Band faszinierender musiziert haben weil sie schlicht mehr vom Metier verstanden. Das gilt ganz besonders für die Sänger. Mit weniger als dem Besten von damals geben die Kenner unter den Tangotänzern von heute sich daher kaum zufrieden.
Für Musiker ist die Welt im Zeitalter omnipräsenter Musikkonserven im Briefmarkenformat aber ein hartes Pflaster, weil ihnen jeder Musikliebhaber innert Sekunden die Masstab setzende Jahrhunderteinspielung einer Komposition um die Ohren schlagen kann. Dabei wird leicht vergessen, dass so einem Nonplusultra meist zwanzig oder mehr Jahre Musizierpraxis voraus gingen.
Um musikalisch über das Erbe der Epoca de Oro hinauswachsen zu können, anstatt in Museumsbetrieb zu stagnieren oder in andere Genre abzudriften, müssten junge Musiker erst Mal an den Leistungen der Epoca de Oro anknüpfen können. Denn was man nicht beherrscht, kann man unmöglich toppen. Das ist jungen Musikern bis heute misslungen. Ich kann nicht beurteilen, ob zu wenig Talent im Spiel ist. Aber ich höre, dass zuwenig Können, zu wenig Spielroutine vor und für Tänzer und der Verlust spieltechnischen Knowhows mitspielen. Dasselbe sagen mir meine Füsse. Und dann ist da natürlich noch der fehlende Markt und damit fehlende Einkommensmöglichkeiten um so wie einst aus dem Vollen schöpfen zu können. Alles in allem steht jungen Musikern also ein ganzer Sack voller Hürden im Weg.
Die Entwicklungen, welche Du Rodolfo2 dir zu Recht wünscht, kann auch ich nirgends ausmachen. Das heisst aber nicht, dass sie niemals kommen werden. Es ist erst wenige Jahre her, dass eine neue Generation blutjunger Tänzer mit dem Fokus forward to the roots begonnen hat, das tänzerische Niveau im Tango de Salon wieder zu beflügeln.
Antwort an Rodolfo2 - Teil 5
Damit verweise ich jedoch nicht auf jenen im Tango noch florierenden marketing approach, welcher vom Verhökern von Volcadas und Entradas, Planeos und Torpedos lebt, ganz egal ob ein Tänzer eine adäquate Haltung hat und weiss wie die Umarmung funktioniert, führend zu gehen vermag und weiss, wie die Ohren einzusetzten sind. Figuren bolzen und tanzen sind zwei Paar Schuhe.
Trotzdem kann schon morgen eine neue Formation reüssieren, die all meine Überlegungen auf den Kopf stellt. Kreativität macht zum Glück immer wieder Unmögliches möglich.
Vermutlich werde ich jetzt wieder zu hören bekommen, ich sei ein schrecklich naiver Zeitgenosse. Aber wer nicht mehr zu träumen vermag, steht bereits mit einem Fuss im Grab. Dann bin ich lieber eine komische Figur. Und solange sich die kontemporäre Orchestersituation nicht zum Besseren wendet, werde ich mich so wie viele andere als TJ wie Tänzer ganz auf die Epoca de Oro kaprizieren und damit mächtig viel Tanzspass ermöglichen und erleben.
herzlich - Christian
@Christian
Toll!!! Ich kann dazu nichts schreiben, weil mir einfach das Detailwissen fehlt. Aber ich bedanke mich für Deine fundierten Gedanken.
Darf ich eine offene Frage stellen? Warum erwähnst Du nicht die Tango Danza? Ist Dein Schweigen da (wie formulierte es Cassiel neulich?) "informationstragend"? Oder fehlte Dir schlicht die Zeit.
@Tangodanza
Warum bin ich eigentlich immer der Erste, der sein Unbehagen artikuliert? Ihr habt doch um Rückmeldungen gebeten und jetzt bekommt Ihr eine fundierte Äußerung und entgegnet, Ihr hättet das Interview genauso noch einmal gebracht. Was ist los mit Euch? Eure Einlassungen zu schwarzweiß-Druck kann ich überhaupt nicht verstehen. Zum Stichwort "aktuelle Entwicklungen im Tango" habe ich von Euch nicht ein Wort gelesen. Christians Vorschläge zur Musik der EdO blieben ebenfalls unbeantwortet.
Ich habe hier gelernt höflich zu sein, aber was soll denn bitte die Anmerkung "die Diskussion auf breitere Füsse zu stellen"? Kann es sein, dass Ihr da einfach die Wirklichkeit verkennt? Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist die Reichweite dieses Blogs größer als die der Tango Danza. (Cassiel, kannst Du da nicht einfach ein paar Zahlen veröffentlichen?)
Für mein Gefühl wirkt Eure Antwort wie eine Werbeanzeige für die Tango Danza in der bekannten Form. Das finde ich sehr bedauerlich.
@B. G.
Gerade beginnt meine Mittagspause. Sorry, es ging nicht früher.
Prinzipiell können wir hier über alles reden - auch über Zugriffszahlen. Ich möchte es aber dennoch nicht tun. Es würde die Diskussion m.E. in eine falsche Richtung lenken. Wollen wir jetzt wirklich im Tango vergleichen? Z. B. Ich habe mehr Leser? Meine Absatzhöhe ist größer? Meine Volcada hat einen längeren Radius? Mein Tango ist authetischer?
Oder fokussieren wir uns auf die Musik - auf die eigenen Gefühle? Ich denke, wir halten Vergleiche aus dem Tango heraus und werden achtsam; auf die Musik, auf unseren Tanzpartner, auf unsere Umgebung.
Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich ein schönes Wochenende und erfüllte Tandas.
@ Christian
erstmal ganz herzlichen Dank für die Zeit und Mühe, die du investiert hast in diese umfangreiche Antwort. Ich werde mir nun auch ein paar Tage Zeit nehmen, mehrfach lesen, und mich dann zu Wort melden.
Beim ersten Lesen hatte ich häufig das Gefühl, daß ich mich mit meinen Erfahrungen, die ich in der Tangomusik gemacht habe, diesen Ideen, die du erläutert hast, schon angenähert habe und dann kam nun das Gefühl: "Christian Tobler ist schon da". Also vieles hat sich für mich durch deine Antwort konkretisiert. Dazu muss ich gestehen: ich bin selber Musiker und sowohl hier als auch in Argentinien aktiv. Und dadurch hatte ich schon sehr viele Gespräche und Diskussionen mit KollegInnen über diese Art von Themen, ohne daß da jemals ein Standpunkt entstanden ist, der länger als ein paar Monate angehalten hat.
Meine Einstellung zu der Musik, die ich selber mache, hat sich in den letzten Jahren sehr stark verändert in dem Maße, wie ich meine eigene Entwicklung im Tanzen und meine Erwartungen an die dazugehörige Musik sehe. Und deshalb fühle ich mich innerlich sehr involviert in all diesen Gedankengängen. Also, wie gesagt: ich werde das verdauen, und dann rühre ich mich wieder.
@Christian:
Schon wieder so viel interessanter neuer Stoff! Genial – auch wenn du mich langsam in Zeitnot bringst, denn ich würde gerne auf einiges antworten.
Fürs erste hätte ich einen Kommentar zur Bedeutung von d'Arienzo für den Tango-Boom der Época de oro. Mich begeistert die Musik von d'Arienzo aus den 30er Jahren (von der späteren nur noch Weniges). Aber dass es so entscheidend er und sein neuer Stil gewesen sein soll, der die Leute wieder zum Tanzen gebracht hat, leuchtet mir nicht ein. Es gab schon vor 1935 Musik mit sehr ansteckenden Rhythmen, von Donato, Canaro und Lomuto; dass die Leute darauf nicht schon massenhaft getanzt haben, lag, so vermute ich, an der Wirtschaftskrise. Ich glaube, d'Arienzo hatte einfach das Glück, dass sein Neuanfang mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zusammenfiel.
Demnächst versuche ich noch zu dem wirklich spannenden Thema, den modernen Orchestern, was zu schreiben.
Theresa
@ Theresa
zu d'Arienzo habe ich die Aussage eines erfahrenen Bandoneonisten gehört, daß dieser Stil zur schwersten Spielweise für Bandoneon gehört. Das hat mich überrascht, weil ich da eher auf Troilo oder Pugliese getippt hätte.
@ Cassiel
im Prinzip gefällt es mir, daß du in deinem Blog immer wieder auf Achtsamkeit und Höflichkeit hinweist. Aber manchmal beschleicht mich das Gefühl, daß Diskussionsmöglichkeiten durch zuviel Rücksichtnahme erstickt werden. Es prallen nun mal sehr unterschiedliche Welten aufeinander, und deshalb kann es ruhig mal heftig zugehen. Manches kann nur dann geklärt werden, wenn es über diesen Punkt hinausgeht. Kannst du damit was anfangen?
@maykel
Also dieses Mal war ich fast ganz unschuldig... :-)))
Achtsamkeit habe ich nicht erwähnt. Aber ich sehe das hier zunächst einmal als ein Interview, um das ich gebeten habe und eine fundierte Kritik, die nicht aus meiner Feder stammt. Deshalb halte ich mich zurück. Es mag meine persönliche Macke sein, aber ich halte sehr wenig von Konfrontation im Tango. Das zieht Energie - von allen Beteiligten, aber auch von den Unbeteiligten. Ich habe es zu häufig erlebt, daß das passiert ist.
Wenn ich also Beiträge mit der Beteiligung von Dritten mache nehme ich mich zurück.
Und weil Du gefragt hast: Ja, ich kann damit etwas anfangen. Kannst Du meinen Standpunkt auch ein wenig verstehen?
Schönen Abend noch...
@ cassiel
mit Schuldzuweisung hat das nichts zu tun. Aber du weist sehr oft darauf hin, und meistens auch in dazu passenden Momenten. Andererseits finde ich, daß man Konfrontationen schon zulassen sollte, solange sie oberhalb der Gürtellinie stattfinden. Denn oft hatte ich in diesm Blog den Eindruck, daß Diskussionen da aufhören, wo es prickelnd wird. Damit meine ich nicht, daß die Leute aufeinander einhacken, sondern, daß wirklich "Tacheles" geredet wird.
Ich glaube, jetzt versteh' ich nicht, was Du genau meinst. Magst Du ein Beispiel nennen? Dann wird es etwas konkreter...
Ich muß aber gleich los, lege heute abend auf...
@ Cassiel
daß du auf höflichen und achtsamen Umgang miteinander hinweist, zieht sich wie ein roter Faden durch deinen Blog. In Zusamenhang mit Blogtrolls und Beleidigungen finde ich das auch gut so. Aber ich finde es langweilig, wenn mögliche Äußerungen zurückgehalten werden, weil sie möglicherweise für unhöflich gehalten werden. Nicht alles, was emotional präsentiert wird, sollte als Agression verstanden werden.
Antwort an Tangodanza
Hallo Olaf,
Deine, respektive die Reaktion der ganzen Redaktion auf meinen Kommentar zum TD-Interview lässt mich ratlos zurück. Ich komme mir verschaukelt vor. Mache ich tatsächlich einen dermassen einfältigen Eindruck?
Was ich an Cassiels Blog schätze, ist der über weite Strecken hinweg sorgsame Umgang miteinander. Es gibt online schon genug Adressen zum Thema Tango, an denen ohne Sinn und Verstand verbal aufeinander eingedroschen wird. Das heisst nicht, dass ich Konfrontationen grundsätzlich ausweiche. Ich habe bloss keine Lust, mich an Konfrontationen zu beteiligen, bei denen am Ende nichts Konstruktives zurück bleibt. Und natürlich bin ich mir bewusst, dass man nicht immer wissen kann, ob der einem reinigenden Unwetter folgende Sonnenschein die Watschen und Schienbeintritte wert wäre. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass auf diese Weise meist viel Geschirr zertrümmert wird, das sich nicht mehr kitten lässt und lokale Szenen in ihrer Entwicklung beeinträchtigen kann. Feindschaften haben meist eine lange Halbwertzeit und dazu ist mir meine Zeit zu schade.
Was das mit Deinem Kommentar zu tun hat, Olaf? Deine Antworten fordern einen Schlagabtausch geradezu heraus weil darin kein Dialog stattfindet. Darauf kann ich entweder mit Abstinenz oder Angriff reagieren. Meine Argumentation zu wiederholen macht dagegen keinen Sinn.
Ich könnte jetzt damit beginnen, dass die Art und Weise wie TD seine Meinung kund tut dermassen von oben herab daher kommt, dass es schwer ist höflich zu bleiben. Zu einer Annäherung führt das aber nicht. Also lasse ich es sein.
Ich könnte jetzt damit beginnen, dass ich Peter Turowski und B. G. recht gebe. Zu glauben, mit TD wäre ein offener Dialog über deren Inhalte und Qualität möglich, war eine Fehleinschätzung. Zu einer Annäherung führt das aber nicht. Also lasse ich es sein.
Ich könnte jetzt damit beginnen, dass der einleitenden Erklärung von TD „vielen Dank dafür, dass du dich so eingehend mit der Tangodanza beschäftigt und eine ausführliche Kritik formuliert hast. Das wissen wir zu schätzen und gehen deshalb auch vor allem darauf gerne ein“ keine Taten folgen, weil keine der Antworten diese Ankündigung einlöst. Zu einer Annäherung führt das aber nicht. Also lasse ich es sein.
Ich könnte jetzt damit beginnen, die Antworten von TD auf Substanz abzuklopfen und eine nach der anderen argumentativ in der Luft zerpflücken. Das ist nicht schwer. Zu einer Annäherung führt das aber nicht. Also lasse ich es sein.
Olaf, mit dieser Reaktion knalle ich die Tür nicht zu und werfe den Schüssel nicht weg. Aber auf der Basis dieser Antwort kann ich mit Dir und der Redaktion keinen Dialog führen. Dem verweigerst Du dich mit deutlichen Worten. Das ist Dein gutes Recht. Aber dann suggeriere bitte nicht Gesprächsbereitschaft. Und damit verärgerst Du nicht nur mich sondern jeden halbwegs intelligenten Leser, Blogger. Sollte Dir an einen Dialog gelegen sein, wirst Du nicht darum herum kommen das anders anzugehen.
Logischer erster Schritt wäre es sicher, Deine Ansichten zum Medienkanal Blog zu revidieren. Dessen Wirkung unterschätzt Du eklatant. Die im Vergleich zu klassischen Medien andere Rollenverteilung beherrscht Du nicht. Und ein Vergleich der medialen Reichweite von TD und Cassiels Blog würde sicher nicht zugunsten von TD ausfallen - und zwar qualitativ wie quantitativ.
Das beginnt der Tatsache, dass Internet Zeitschriften betreffend Nutzungsdauer, Medienzeitbudget und Reichweite längst überlegen ist ( http://web.archive.org/web/20070927183556/http://www.ard-werbung.de/showfile.phtml/09-2005_ridder_engel.pdf?foid=15614 ).
Gruss - Christian
Ein fröhliches Hallo in die Runde der Tango(blog)literaten!
Hier irrt sich Olaf! (Zitat "..., dass man heute eine Kulturzeitschrift, die einfarbig schwarz auf dünnem Papier gedruckt ist, nicht verkaufen sondern allenfalls verschenken kann.")
Ich möchte kurz darauf hinweisen, dass es eine Zeitschrift für Tangotänzer, das "Boletin del Tango", seit 1994 gibt: werbefrei, schwarz-weiß! Sie wird nicht verschenkt, sondern an Abonnenten und Interessenten verkauft. (Beleg: http://shop.tangoxp.de/) Manche von Christian Toblers Wunschthemen sind dort schon bearbeitet.
Chan-chan
Lothar "Tarlo" Staudacher
p.s.: Lieber Christian, hier noch ein Denkanstoß zur Logik deines Artikels: Macht es Sinn einem Apfel vorzuwerfen, dass er keine Birne sei?
@Christian, zu den modernen Tango-Orchestern:
Ich stimme dir aus vollem Herzen zu, dass vom Standpunkt der Tänzer die modernen Tango-Musiker nicht mit den tollen Aufnahmen der Época de Oro (und früheren) mithalten können. Und dass dies auch ein fast unerreichbarer Maßstab ist, einerseits weil diese Aufnahmen so gut sind, aber auch, weil man sie als Tänzer schon tausendmal gehört hat und man besser auf das tanzen kann, was man kennt. Die Leute, die richtig wild aufs Tanzen sind, sind meist nicht so erpicht auf Live-Musik bei den Events und freuen sich, wenn nach dem Orchester der DJ wieder loslegt.
Ich glaube auch, dass das bei vielen Formationen daran liegt, dass sie andere Ambitionen haben als "nur" für die Tänzer zu spielen, Stichwort Piazzolla. Und wenn noch ein Sänger dabei ist, dann nimmt der einen Raum ein, den der Sänger im traditionellen Tango nicht hatte, wo nur 2-4 Phrasen gesungen wurden.
Auffallend finde ich, dass viele moderne Orchester immer aus dem gleichen Repertoire an Titeln spielen, und das sind nicht unbedingt die tänzerisch interessantesten; dazu habe ich mal die Meinung gehört, dass das daran läge, welche Arrangements als Partituren veröffentlicht sind, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Am schlimmsten finde ich dieses Phänomen bei Milongas. Jedes Orchester spielt "La trampera" – die ist in meinen Augen untanzbar -, aber ich habe noch nie die richtig fetzigen Milongas, wie es sie zuhauf von Canaro, Donato etc. gibt, von einem modernen Orchester gehört. Für Vals gilt das etwas abgeschwächt auch.
Außerdem hapert es z.T. tatsächlich an der Beherrschung der Instrumente, manche Orchester haben schon Intonationsprobleme bei den Tutti (tut weh: Fervor de Buenos Aires), und man hört auch nur selten so richtig tolle Geigensolos, wie wir sie von Julio de Caro oder Elvino Vardaro kennen.
Dann gibt es Formationen, die 1:1 ein Orchester der EdO nachspielen, wie SansSouci, Color Tango und Los Reyes de Tango. Aber die braucht man nicht einladen, denn man kann ja genausogut gleich Caló, Pugliese und d'Arienzo auflegen.
Es gibt aber rühmliche Ausnahmen, unter denen ich besonders das Quinteto Angel erwähnen will. Sie kriegen einerseits fast genau den Sound von d'Arienzo hin, bei La cumparsita, und auch auf geniale Weise empfinden sie das Quinteto Real nach in Ensueños – ok, das ist nicht EdO, jedenfalls kann man fein zu tanzende Tandas von ihnen zusammenstellen. Es gibt auch noch etliche andere Ausnahmen mit tollen Musikern.
Außerdem, je nach Stimmung, finde ich es schon anmachend, in einem Ballsaal zu tanzen mit Live-Musik, auch wenn das Orchester Piazzolla-Ambitionen hat oder die Geiger nicht gut intonieren oder die Bandoneonisten Finger-Salat kriegen (beim dominanten Sänger kann das Vergnügen allerdings wirklich leiden). In einer gewissen Dosis, und mit einem guten Tänzer, ist das dann schön, und nachher freue ich mich, wenn der DJ (hoffentlich) die fetzigen Valses und Milongas auflegt.
Aber, im Tenor gebe ich dir recht bei deiner Antwort auf rodolfo2: wenn Tango-Musiker heute richtig gute Musik zum Tanzen machen wollen, haben sie sich enorm was vorgenommen. Ich wünsche mir sehr, dass sie was hinkriegen, so wie die jungen Tänzer, die den traditionellen Tango kraftvoll und spielerisch weiterentwickeln.
Theresa
@ Christian
beim Lesen und Nachdenken über deine Antworten tauchen bei mir neue Fragen auf. Vielleicht weisst du etwas darüber.
Wie muss man sich die Milongas in der Epoca de Oro vorstellen? Ich nehme mal an, daß sie ausschließlich aus Livemusik bestanden. Hat man da schon an Strukturen mit Tandas und Cortinas gedacht? Mussten die TänzerInnen sich für einen Abend auf einen einheitlichen Orchesterstil einstellen á la "heute gehe ich zu Canaro, morgen zu Troilo"? Und es gab ja auch Orchester, die kaum Milongas und wenige Valses gespielt haben. Das, was ich weiss, ist, daß sich damals oft Tangoorchester mit Swingensembles oder Bigbands abgewechselt haben. Aber hat diese Art von Abwechslung, um die ein TJ sich heute kümmert, damals eine Rolle gespielt?
.....und was die Situation der Tangomusiker heute betrifft: ich sehe eine deutliche Parallele zum Jazz. Seit einigen Jahrzehnten wurde dort eine Didaktik und Pädagogik geschaffen, die es vielen möglich gemacht hat, Jazz in all seinen Facetten zu lernen und studieren. Eine der Konsequenzen davon war, daß zwar viel mehr Musiker, die handwerklich fundiert ausgebildet waren, aktiv gespielt haben, aber es wurde nicht mehr die Spreu vom Weizen getrennt. Der Anteil an "Genialem" wurde nicht mehr. Früher gab es durch das Lernen durch permanente Spielpraxis eine natürliche Auslese, bei der sich sehr schnell gezeigt hat, wer musikalisch etwas zu sagen hatte und wer nicht.
Und diese Tendenz zu einer Art "Akademisierung" sehe ich auch in der Tangomusik. Vergleichbare Rahmenbedingungen wie früher, unter denen sich heute Tangomusiker entwickeln könnten und müssten, gibt es so nicht mehr - vor allem, wenn es sich um tanzbare Musik handelt. Die Milongas können das ja auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht bieten. Oft hat Livemusik den Charakter einer "Einlage", und die Verantwortung, einen kompletten Abend musikalisch zu gestalten, haben die TJs den Orchestern abgenommen.
Antwort an Rodolfo2 - Teil 1
Lieber Rodolfo2,
abschliessende Antworten habe ich keine, aber Ansichten, Meinungen und Vermutungen. Vor allem habe ich akzeptieren müssen, dass es extrem schwierig ist, verlässliche Informationen darüber zu bekommen, wie und was während der Epoca de Oro und vorher getanzt wurde, zumal es zwischen Süden, Microcentro und Norden der Stadt eklatante Unterschiede gab. Und gerne würde auch ich sehr viel mehr darüber erfahren.
Die Mehrbesseren im Norden hatten grösser Räume. Da wurde gerne di Sarli in ellenlangen Geraden getanzt. Dort standen auch Lomuto, d'Agostino und de Caro hoch im Kurs. Die Arbeiter im Süden hatten kleinere Räume. Da wurde gerne Pugliese mit vielen Drehungen getanzt. Im Microcentro, wo Tänzer aus allen Barrios einander begegneten, ging es besonders eng zu und der nachbarschaftlich-freundliche Zusammenhalt fehlte. Da konnte bereits ein Rempler üble Folgen haben, weil die Situation von Konkurrenz und Abgrenzung geprägt war. Als Anfang 50er-Jahre Tango an Popularität verlor, wurden die Tanzsäle in der ganzen Stadt kleiner, was die Tänzer gezwungen hat, die Umarmung ständig zu schliessen und mit kleinen Schritten zu tanzen. Das hat man mir erzählt. Aber viel mehr als das konnte ich bis heute leider nicht erfahren.
Es ist sowieso nicht sinnvoll, alles genauso wie damals machen zu wollen, obwohl die Musik der Epoca de Oro Maßstäbe für alle Zeiten gesetzt hat. Klar macht es Sinn der Tradition Sorge zu tragen. Aber wenn sich alles nur noch darauf konzentriert, wird Tangotanzen allmählich zum Museumsbetrieb mit Gurus und Jüngern zuhauf. Das lässt sich nicht nur in Bs As längst beobachten. Es liegt in der Natur des Lebens, dass junge Tänzer dank körperlicher Agilität Grenzen ausloten und überschreiten wollen und alte Tänzer darauf beharren, sich am Bewährten zu orientieren wenn der eigene Körper langsam gebrechlich wird und das Denken Scheuklappen bekommt. Eine solche Verarmung als das Mass aller Dinge zu etablieren, geht allerdings zu weit. Denn dabei vergessen Alte nur zu schnell, was sie in jungen Jahren tänzerisch selbst alles verbrochen haben.
Wenn die Alten ihre Vorstellungen zu rigoros durchsetzten, haben die Junge keine andere Wahl als sich abzunabeln und ihr eigenes Ding zu machen. Wenn in Bs As das aufgelegte Epoca-de-Oro-Repertoire in den letzten zwanzig Jahren nicht ständig kleiner geworden wäre, wären Elektroschrott und Piazzolla-Verschnitt für junge Tänzer nie so attraktiv geworden. Tango ist dort durchsetzungsstark, wo Generationen sich an Milongas mischen und ein permanenter Austausch stattfindet, der für eine gesunde Balance zwischen Tradition und Innovation sorgt, allerdings ohne im Mittelmass zu ertrinken. Denn genau letzteres ist Bs As vielerorts längst passiert.
Zum Glück gibt es inzwischen wieder eine junge Generation von traditionell aber nicht orthodox orientierten Tänzern, die auf tanzbaren Tango bestehen und dieses Repertoire ohne wenn und aber bis in alle Ecken auslebt. Wenn denen irgend ein neokonservativer Tanzkasper eigener Provenienz behauptet, damals hätte man nur zu instrumentalen Stücken getanzt und de Angelis wäre gar nie getanzt worden, dann wird der Spott beissend und die Buhrufe laut. Gut so.
Schriftliche Unterlagen über die ganze Entwicklung gibt es leider kaum, da Tango immer ein Stück weit Subkultur war. Eigenartigerweise ist es einfacher, an Information zu den 20ern, allenfalls noch 30er zu kommen, als an Tataschen über die wichtige Zeit, die 40er. Und jeder Zeitzeuge erzählt sowieso nur, was ihm in den Kram passt. Insider können aber anscheinend heute noch oft nach wenigen Schritten sagen, aus welchem Barrio ein alter Tänzer stammt. Die meisten Tänzer die bereits in den 30ern und 40er aktiv waren sind leider längst gestorben. Ich gehöre - dumm gelaufen - zur einer Generation von Tänzern, die zu spät eingestiegen sind, um noch Information aus erster Hand zu bekommen.
Antwort an Rodolfo2 - Teil 2
Während der Epoca de Oro wurde nicht öffentlich zu Konserven getanzt, habe ich mir sagen lassen, obwohl die dazu notwendige Technik seit Ende der 20er-Jahre vorhanden war. Wozu auch, das Live-Angebot war riesig und das Niveau ein Knaller. Daheim wurde bestimmt zu Konserven, Schellacks getanzt. Aber viel grössere Bedeutung hatten daheim auch aus Kostengründen Radiostationen. Ich habe mir sagen lassen, dass die meisten Tänzer das eine oder andere oder allenfalls dreivier Lieblingsorchester hatten. Denen sind sie durch die Stadt zu ihren Engagements gefolgt, um sie zu hören und zu betanzen. Das erklärt, warum viele der ganz alten Tänzer nur zu einigen wenigen Orchester tanzen.
Wann in den 50ern damit begonnen wurde, öffentlich zu Konserven zu tanzen, habe ich bis heute nicht heraus gefunden. DJs in Radiostationen sind übrigens in den USA auch erst in den 50er-Jahren aufgetaucht. Aber ab 1955 hatten Tänzer wohl gar keine andere Wahl als auch zu Konserven zu tanzen. Vermutlich hat sich erst damals die Tradition von Tandas mit Cortina entwickelt. Aber auch dazu habe ich bis heute keine verlässlichen Antworten bekommen, ganz egal wen ich gefragt habe.
Für die Tänzer von heute ist die damit von TJs gepflegte Vielfalt von Orchestern und Repertoire einerseits eine enorme Herausforderung und andererseits eine grossartige Bereicherung. Ich möchte das als Tänzer niemals missen, weil ich das als grossartige Herausforderung sehe, die sicherstellt, dass man nie ausgelernt hat. Denn wenn Routine sich breit machen will, wartet die nächste tänzerische Entdeckung, das nächsten Orchesters schon.
Zu dem was Du zum Problem der Akademisierung von Jazz und Tango sagst kann ich nur ganz laut ja schreien. Genau das ist das Problem. Tango spielen lässt sich nicht nur auf der Schulbank erlernen, obwohl es das auch braucht. Das klappt nur, wenn man zudem über Jahre hinweg zehn Monate im Jahr und fünf Tage die Woche die halbe bis ganze Nacht ohne lange Pausen für Tänzer musiziert und auf diese Weise zu einer Spielroutine kommt, die dafür sorgt, dass die Dinge in Lot fallen und die Musik ohne Verkopfung fliesst. Ausserdem braucht dazu so einen Schmelztiegel, wie es ihn längst nicht mehr gibt. Jazz hatte den natürlich auch, früh in New Orleans und später in anderen Städten.
Ob damals in den Clubs nur ein Orchester der Abend bestritten hat - ich weiss es nicht. Aber das ist unwahrscheinlich, denn in den 20ern haben die Orchester in Kinos Stummfilme musikalisch begleitet. Dort gab es stets mindestens zwei Orchester, weil Musiker Pausen brauchen. Meist waren das eine Tango- und eine Jazzformation, was den intensiven Austausch zwischen den beiden Genre in Bs As erklärt.
Antwort an Rodolfo2 - Teil 3
Fresedo war zwischen 1925 und 28 so erfolgreich, dass in Bs As vier Orchester gleichzeitig unter seinem Namen auftraten. Das erste, offizielle mit dem er auch im Studio Aufnahme machte, das zweite im Kino Fenix, mit di Sarli als Leiter, das dritte spielte in einer Bar und das vierte in einem Cabaret. Fresedo stand Abend für Abend ziemlich unter Stress, weil er von einem Orchester zum anderen unterwegs war, um sich überall für kurze Zeit mit seinen Musikern sehen zu lassen. Tango als Big Business.
In diesen Jahren hat Julio de Caro mit seiner mehr revolutionären als evolutionären Tipica in den ganz grossen Kinosälen der Innenstadt, wie Select Lavalle, Petit Splendid, Renacimiento und Real gespielt. Dort ging man nicht hin, um den Film zu sehen, sondern um das Orchester zu hören. Der Film war unwichtig. In den ersten Reihen fanden sich Abend für Abend Tangomusiker anderer Orchester und faszinierte Tangotänzer ein, die den ganz anderen Stil dieser Tipica erlernen wollten.
Kurzum, die Tipica de Caro machte während mehrere Jahre ein grosses Kinos zur Tangoschule. Getanzt wurde dort allerdings nicht. So was ist heute weder vor- noch machbar, weil Tangoliebhaber nicht Abend für Abend ein Kino füllen würden und die grossen Säle in Stadtzentren längst zu Multiplexkinos zerstückelt wurden, den für so ein Event notwendigen Raum nicht mehr bieten.
In den 20ern haben die Musiker zuerst von Stummfilmbegleitung gelebt, ergänzt durch Radioauftritte und in den 30ern und 40ern von Auftritten in Clubs, ergänzt durch Radioauftritte. Wessen Name gut genug war, der tourte zudem immer wieder im Ausland. Falls ich das richtig verstanden habe, waren die Studioaufnahmen für Schellacks lange Zeit mehr ein lukrativer Nebenerwerb, den man auch noch mitnahm und natürlich eine Frage des Prestiges. Denn nur wenige Formationen schafften es, einen Plattenvertrag zu ergattern.
Milongas können das wirtschaftliche Problem der Musiker heute sicher nicht nicht lösen. Das liegt aber nicht an den Milongas, sondern daran, dass Tango heute ein Nischenmarkt ist und damals main stream war. Ein jedes Ding hat seine Zeit. Der Tango hatte seinen grosse Zeit in den 40ern. Den Nerv der Zeit treffen heute andere Musikstile - zB Rap. Mich berührt das nicht so heftig wie Tango. Aber ich bin ja auch nicht normal - sagt mein Sohn und verdreht dazu immer die Augen.
herzlich - Christian
Antwort an Theresa - Teil 1
Liebe Theresa,
einerseits sind wir zwei bei vielem einer Meinung sind und andererseits vertreten wir in manchen Fragen immer wieder gegensätzliche Ansichten. Ich finde das jedes Mal bereichernd. Ich will Dir weder Canaro, noch Donato und schon gar nicht Lomuto madig machen und könnte das auch gar nicht, tolle Orchester. Gerne würde ich mit Dir zusammen ein paar Stunden Tango bis zum Abwinken hören um herauszufinden, ob und inwieweit dabei eine weitere Annäherung stattfinden könnte. Denn ein Dialog über Musik ohne gemeinsames Hören und einander angrinsen muss leider immer ein Stück weit Theorie bleiben.
Ich behaupte jetzt einfach Mal stinkfrech, dass Du die Bedeutung von d'Arienzo trotzdem unterschätzt und Dich damit dass Du den d'Arienzo von nach 1940 nicht besonders magst um eine geballte Ladung Tanzspass bringst. Donato, Canaro und Lomuto konnten in der ersten Hälfte der Dreissiger nicht verhindern, dass immer weniger Tango getanzt wurde. Daran hatte die Wirtschaftskrise natürlich ihren Anteil. Aber mindestens ebenso wichtig war die erdrückende Dominanz des Tango Cancion mit seinen tausend qualvollen Toden. Nicht mal Fresedo, einer der grossen Innovatoren der 20er, der nach de Caro Anfang 30er das zweite Orchester mit unverwechselbarem, nach wenigen Takten erkennbarem Sound war, hat daran was ändern können. Und der lässt sich auch bestens tanzen.
Dem d'Arienzo ab 1935 mit Biagi am Flügel ist es jedoch gelungen, die Tänzer mit Tango in Scharen wieder auf die Tanzfläche zu locken. Der Wechsel von Fasoli zu Biagi hat allerdings erst im Dezember 1935 stattgefunden. Von den 12 Aufnahmen des Jahres 1935 sind daher nur die letzten zwei spieltechnisch modern, sehr gut zu hören bei Nueve de Julio. Und wenig mehr als zwei Monate später hat d'Arienzo das Wahnsinnsstück El Flete aufgenommen. Kunststück ist das Orchester mit solchen Aufnahmen damals wie eine Bombe eingeschlagen. Wenn Du das mit dem querhörst, was Donato, Canaro und Lomuto in diesen Monaten aufgenommen hat, wird deutlich das alle drei noch mit einem Fuss in der guardia vieja steckten. Das hat auch seinen Reiz - sehr sogar, ist aber nicht dasselbe. Das möchte aber nicht als qualitative Wertung verstanden haben. Es geht mir um die damalige Wirkung im Markt, welche zu einer Trendwende geführt hat.
D'Arienzo zu unterstellen, er hätte lediglich Glück gehabt, greift mir zu kurz, obwohl es Anekdoten gibt, die genau das behaupten. Wenn man bei so viel verflixt guter Konkurrenz über Jahrzehnte hinweg erfolgreich ist, muss man simples musikalische Konzept hin oder her ganz viel richtig gemacht haben. Und schlichtweg alles was man d'Arienzo dazu vorwerfen kann, kann man genauso gut Donato, Canaro und Lomuto vorwerfen.
Antwort an Theresa - Teil 2
Zudem gibt es bei d'Arienzo in der ersten Hälfte der 40er dieses vollkommen andere, sophistizierte Orchester mit Maure als Sänger. Was d'Arienzo mit Maure aufgenommen hat, ist grossartiger Tango, unverzichtbar für das Repertoire der Epoca de Oro. Danach gab es bei d'Arienzo den zweiten von drei Stints mit Echague. Hier ist die Ausbeute erstklassiger Interpretation nicht mehr gross. Aber die Stücke, die gut sind, tanze ich zur Abwechslung sehr gerne, zumal sie eine tänzerische Herausforderung sind.
Betreffend Milongas hast Du natürlich recht. Für Milongas ist Canaro absolut unverzichtbar. Aber dasselbe gilt genauso für d'Arienzo. Donato und Lomuto haben ebenso grossartige Milongas aufgenommen, allerdings beide nicht annähernd gleich viele für das Repertoire unverzichtbare Titel wie Canaro oder d'Arienzo. Bei Canaro findest Du nach 1941 kaum mehr erstklassige Milonga-Einspielungen. Bei d'Arienzo dagegen gibt es aus den 40ern eine ganze Reihe grossartiger Milongas.
Kleiner Tip: hör Dir mal d'Arienzos Version der Milonga La Manana aus der Mitte der 40er an. Ein bestens tanzbares, aussergewöhnliches Kleinod mit bezauberndem Text: Morgen, die Sonne scheint, eine Ameise die den Bau verlässt ruft einer anderen schwerbeladen zurückkehrenden Ameise zu, du schaffst es. Und das ist erst der Anfang der Geschichte. Grossartig, und für einmal keine traurige Geschichte. Und Echagues Lunfardo-Fresse ist dafür goldrichtig. Allerdings gibt es von diesem Stück eine Aufnahme von de Angelis mit Martel, die mir noch eine Tick besser gefällt. Tänzer fahren auf beide Einspielungen tierisch ab.
Die besondere Stimmung einer Milonga mit Live-Musik kann tatsächlich ihren ganz eigenen Reiz haben, der anders beschwingt als Konserve. Das hängt damit zusammen, dass die Musik zu der man tanzt im selben Moment entsteht und man das auch sehen kann. Das Auge isst quasi akustisch mit, was in unserer optisch dominierten Gesellschaft stets grossen Einfluss hat.
Die selben Aufnahmen halten vergleichendem Hören ab CD aber meist nicht stand. Zumindest erlebe ich nunmehr seit Jahren genau das mit jedem neuen Orchester. Daher habe ich nur noch wenig Hoffnung zu erleben wie kontemporäre Musiker an das Niveau von damals anzuknüpfen vermögen. Dazu fehlen auf zu vielen Ebenen die Voraussetzungen. Aber natürlich würde auch mich sehr darüber freuen, eines Tages vom Gegenteil überrascht zu werden. Neugierig werde ich immer bleiben.
herzlich - Christian
@ Christian:
Vielen herzlichen Dank für deine äußerst informativen Zeilen!
Wie du eine Spielroutine für gute Musiker voraussetzt.
Sehe ich eine Tanzroutine für Tangour@s als Voraussetzung an um wirklich gut zu tanzen.
Genau diese Routine, ist vermutlich der Grund, weshalb ich mit alten Tangouros soviel Spaß beim Tanzen haben kann!
Und was ist den schon normal ;)
Darf ich einmal eine neugierig Frage zwischendurch stellen?
Ja? Also mich würde interessieren, wie in der Runde die Artikel von Christian aufgenommen werden. Sind das Informationen, die interessant klingen oder wird das als Spezialwissen eingeschätzt?
Es wäre wirklich spannend (auch im Bezug auf den Ausgangspunkt dieser Diskussion) ein paar Rückmeldungen zu lesen.
Ich bedanke mich bereits jetzt für evtl. Antworten und wünsche einen schönen Abend...
@ Cassiel - Ich finde die musikalischen Anregungen und die Details zur Geschichte des Tangos hochinteressant und habe sie gern zum Anlass genommen, einige der erwähnten Aufnahmen nachzuhören. Sicher würde ich eine Zeitschrift schätzen und kaufen, die mich regelmäßig mit vertieftem Hintergrundwissen zu der Musik versorgt, die mir regelmäßig so viel Freude bereitet - beim Tanzen und beim Hören. Vielen Dank also an Christian für seine Ausführungen und an Dich dafür, hier eine Plattform zur Verfügung zu stellen.
Liebe Grüße, Mikel
Lieber Christian,
die verzwickten 30er Jahre! Es heißt ja auch, Julio de Caro und seine Epigonen hätten den Leuten das Tanzen verleidet, und du sagst nun, es sei die Dominanz des Tango Canción gewesen. Gleichzeitig rätseln wir, wie es wohl in den Milongas der 30er ausgesehen hat.
Konnten sich die Leute nicht aussuchen, ob sie lieber Lomuto oder de Caro oder Gardel hörten? Hatten LomutoDonatoCanaro weniger Engagements in den Tanzsalons? Es kommt mir komisch vor, dass die Beliebtheit von Gardel den richtigen Tanzorchestern was weggenommen haben soll. Es gibt doch auch heute viele Argentinier, die mit dem Tanz gar nichts am Hut haben, aber Tango Canción lieben. Ja, es sind geradezu verschiedene Zielgruppen, die Tänzer und die Zuhörer, und bei letzteren lieben manche die Sänger und manche die Piazzolla-Epigonen.
Ich glaube, dass das Geschäft allgemein schlecht lief in der ersten Hälfte der 30er Jahre, und dann wieder besser, und klar, d'Arienzo ist dann ein Star geworden aufgrund seiner extrem fetzigen Musik, ich sage ja auch nicht, dass seine Musik keine Rolle dabei gespielt hätte (klar reißt einen El flete noch mehr auf die Tanzfläche als z.B. S.O.S, aber dieses ist doch auch nicht schlecht?) Aber obwohl d'Arienzo noch fetziger war als Lomuto, muss es andere Gründe gehabt haben als die gleichzeitige Beliebtheit von Gardel, dass das Tango-Tanzen aus der Mode kam. Und dass Gardel extra sterben musste, damit sich die Leute wieder dem Tanzen zuwandten, kann ich auch nicht glauben.
Ja, die Geschmäcker sind verschieden! D'Arienzo mit Mauré gefällt mir tatsächlich nicht so besonders. Dann wieder eher die starken instrumentalen Titel um 1950 wie El puntazo oder El simpático. Ui, ich fürchte, ich habe La mañana nicht, das du mir als Beispiel empfiehlst.
Also, inzwischen reizt es mich ja auch sehr, mich mal auf eine Hören-Session mit dir zu treffen. Ich hab ja eine Wohnmöglichkeit in Zürich, mein Bruder arbeitet da, die sollte ich vielleicht mal wahrnehmen. Ich schau mal auf deine Seite, wann du wieder was veranstaltest, und versuche, zu kommen. Aber erst mal fliege ich nächste Woche für einen Monat nach Buenos Aires.
Derweilen herzliche Grüße!
Theresa
@cassiel Ich finde die Beiträge von Theresa und Christian sehr bereicherndund interessant zu lesen. Genauso wie deine musikalische Montagsgrüße, bringen sie mich dazu die Musik genauer zu hören und besser zu spüren. Ich war auch froh, manche Stücke, die ich von Milongas kenne, die ich genossen habe,dafür die Namen zu bekommen. Jetzt kann ich die auch so hören. Ich schreibe nur nichts dazu, weil ich mich in der Musik nicht so gut auskenne.
Murka
Jetzt muss ich auch schreiben. Ich lese sicherlich schon ein Jahr mit und es ist mein dritter Kommentar. Die Beiträge von Christian und Theresa sind sehr beeindruckend. Allerdings fehlt mir das Wissen um die großen Zusammenhänge und ich kann die vielen Detailinformationen kaum einordnen. Aber das macht ja auch nichts vielleicht darf ich nicht den Anspruch an mich haben, alles sofort und gleich zu verinnerlichen.
Ich habe das Tango-Buch aus dem DTV-Verlag gelesen - ungefähr ein Viertel, dann habe ich aufgegeben, das Buch von Amenabar liegt noch hier - ich bin nicht über Kapitel vier hinausgekommen. Ich mag eigentlich diese kleine Informationshäppchen, die ich hier im Blog aufnehmen kann und rückwirkend betrachtet waren es auch diese Einzelinformationen, die mich wirklich weitergebracht haben. Und das kann ich auch noch zeitlich leisten.
Christian, Theresa und Cassiel, bitte macht doch weiter! Schreibt doch bitte weiter so spannend zur Musik. Vielleicht könnt ihr einige Orientierungsmarken festlegen, dann kann man die Einzelinformationen besser einsortieren. Ich fand den Carlos Di Sarli Artikel mit den Hörbeispielen so gut. Der hat mir richtig viel gebracht - auch wenn die Beschreibung der Musik nur in einfachen Worten beschrieb, was Cassiel da gehört hat. Inzwischen erkenne ich einen Di Sarli mit ziemlich hoher Treffgenauigkeit.
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