Mittwoch, 17. November 2010

Darüber lacht ein Tango-Blogger

Seit einiger Zeit kursieren in der Szene lustige Kurz-Videos bei xtranormal.com. Mittels eines Sprach-Synthesizers und vorgefertigten szenischen Settings kann man selbst ein Video produzieren. Wenn ich eines Tages ganz viel Zeit habe, probiere ich mich auch einmal daran. Von einem Freund wurde ich auf den folgenden Clip aufmerksam gemacht. Der ganz alltägliche Wahnsinn, den ein Tango-DJ erlebt...




Viel Spaß beim Betrachten...

[Update 24.01.2015: URL des eingebetteten Videos aktualisiert]

29 Anmerkung(en):

Anonym hat gesagt…

Großartig, ganz großartig ... mehr davon!

Und ich warte auf Dein Video.

Monika hat gesagt…

Hihi. "I don't like Canaro" - "I don't know the names of the orchestras" - "I don't know the names of the songs"
Leider zu häufig zu wahr aber gerade darum schreiend komisch.

Chris hat gesagt…

ja, ich kann mir durchaus vorstellen, daß ein DJ das lustig findet...

Wie siehst Du eigentlich deine Rolle als DJ, Cassiel, eher Dienstleister oder eher Künstler?

cassiel hat gesagt…

Hallo Chris,

da stellst Du in einer Zeile eine Frage, die nicht so einfach zu beantworten ist.

Vielleicht bin ich beides?

Dienstleister insofern, als ich zunächst darauf achte, daß die ganz überwiegende Mehrheit einen erfüllten Abend genießen kann. Kritik gibt es immer. Das ist unvermeidbar aber die Besucher haben das verdient, was sie nach der Lektüre der Milonga-Ankündigung erwarten dürfen.
Ich achte übrigens peinlichst genau darauf, daß ich entsprechend angekündigt werde (also mit dem Label traditionell). Wenn ich übermütig bin, dann spiele ich bei einer vier oder fünf Stunden Milonga auch ein oder zwei Tandas modernere Stücke. Nach meiner Beobachtung ist das aber häufig ein Bruch im Abend.

Künstler bin ich insofern, als daß ich mich natürlich auch verpflichtet fühle, spielerisch und ganz nebenbei anzubieten, sich tiefer in die Materie einzuarbeiten. So lautet mein nächstes Projekt z.B. ein vollautomatisches Tanda-Display mit den notwendigen Angaben zum aktuellen Titel / zur aktuellen Tanda zu entwickeln (Ich habe das einmal bei Christian Tobler in einer manuellen Version gesehen und das war großartig!). Es soll im nächsten Jahr lauffähig sein. Nun kann man berechtigterweise einwerfen, so etwas braucht es nicht. Aus meiner Erfahrung mag ich aber allen Suchenden zusätzliche Informationen anbieten - und zwar ohne den erhobenen didaktischen Zeigefinger (wer diese Informationen nicht will, soll durch sie nicht belästigt werden). Zusätzlich ist ein DJ natürlich immer insofern ein Könner, als daß er die Tanzenden weiter bringt (oder genauer: bringen sollte). Dazu ist (neben Glück) natürlich hauptsächlich Kenntnis der Musik, Erfahrung im Umgang mit einer Gruppe Tanzender und Fingerspitzengefühl erforderlich. Das schüttele ich auch nicht aus dem Ärmel, sondern ich habe mir das erarbeitet. Ich habe mittlerweile so knapp 10.000 Tangotitel - zieht man Untanzbares und Duplikate ab, dann beiben vielleicht noch 5.000 Titel übrig. Für eine normale Milonga braucht man 100 bis 120 Titel. Es gibt Klassiker, die sollte man häufiger spielen, aber dann gibt es auch Neuerungen. Für mein Verständnis ist es auch die Aufgabe eines DJs, neue (d.h. bislang unbekannte) Titel in einer Community einzuführen.

Als Faustformel gilt: Ich benötige (momentan noch) das ein- bis zweifache an Stunden für die Vorbereitung (gemessen an der Länge der Milonga) und eine Nachbereitung von ein bis zwei Stunden. Ich habe immer Papier und Stift dabei und notiere mir die Tandas, die nicht funktionieren und sonstige Besonderheiten. Das höre ich mir später dann noch einmal an. Die Playlists und meine Anmerkungen speichere ich natürlich ab um ggf. bei der Vorbereitung auf eine Milonga (irgendwann in der Zukunft) auf diese Aufzeichnungen zugreifen zu können. Bei diesem Aufwand kann ich nicht häufiger als einmal im Monat auflegen - sonst leidet die Qualität.

Leider wurde in meiner Heimat-Community meine Musik nicht geschätzt - dort wurde teilweise die Ansicht vertreten, die Musik ist doch nicht so wichtig. Mittlerweile lege ich im Exil auf. Vielleicht ist es ähnlich wie beim Propheten, der im eigenen Land nichts gilt. ;-)

Hat das jetzt einigermaßen Deine Frage beantwortet?

Schönen Abend!

Mittelalt hat gesagt…

Pardon,
wenn du dich als traditionellen DJ bezeichnest, warum bist du es nicht? Wenn eine Milonga/ein DJ mit "traditionell" angekündigt wird, dann erwarte ich auch eine traditionelle Milonga und keinen Etikettenschwindel. Ich hab das auch schon erlebt, dass auf "traditionell" angekündigten Milongas plötzlich Piazzolla oder Gotan lief. Der DJ fand das cool, die traditionellen Tänzer als NoGo, was zu einem NeverGoThere wurde.
Kleiner Tip: Mach die traditionelle Milonga zu einer spannenden, traditionellen Milonga, dann musst du erst gar keine modernen Tandas auflegen, um ... ??? Ja, warum eigentlich? Um das Label "traditionell" zu verwässern? Um jemanden einen Gefallen zu tun? Um cool zu wirken?

Noch ein Tip: Im Hamburger Abrazo funktioniert das recht gut, mit dem Tanda-Display. Schau dir das da mal an.

cassiel hat gesagt…

@Mittelalt

Danke für Deine Anmerkung.

Ich finde es bei einer vier bis fünf Stunden Milonga durchaus legitim, z.B. das Quinteto Real mit Ensueños zu spielen - auch wenn die Aufnahme aus den 60er Jahren stammt (nebenbei bemerkt: Theresa hat mich auf die Version vom Quinteto Angel aufmerksam gemacht; ganz toll!) - oder (vielleicht weil es dazu passt) den Titel El baile final von Makaroff und Müller (richtig, die von Gotan Project - aber akustisch; aus dem Film: "Man muß mich nicht lieben"). Von Piazzolla habe ich nach meiner Erinnerung nichts geschrieben. Ich kann nicht einmal sagen, wann ich ihn das letzte Mal gespielt habe - muss eine Ewigkeit her sein.

Anonym hat gesagt…

ISt der DJ-altag wirklich so schlimm ? Ist dieses Video nicht zumindest ein bisschen übertrieben ? Ich habe gar nicht das gefühl, dass es bei uns so läuft... Oder vielleicht merke ich es einfach nicht, so beschäftigt wie ich bin auf Canaro zu tanzen (was ich übrigens liebe... ;-))

cassiel hat gesagt…

@Anonym

Nein, nicht immer ist der DJ-Alltag so schlimm und es gibt Abende da läuft es einfach richtig rund. Wenn dann jemand kommt und redet etwas sonderbar dann ist das i.d.R. überhaupt kein Problem. Ich bin da ein großer Fan der Tango-Höflichkeit. An solchen Abenden kann man gegen Ende sogar einfach ein paar Tandas auf der Tanzfläche wagen.

Schlimm wird es, wenn ein Abend aus irgendeinem Grunde bereits merkwürdig ist und man sowieso schon unter Strom steht und dann kommt jemand mit derartigen Fragen/Vorschlägen/Forderungen vorbei. Da fehlt dann (zumindest mir) häufig die notwendige Portion Souveränität und Gelassenheit.

Trotzdem ist es immer wieder eine Freude, wenn ein Abend gelingt (das hat durchaus Suchtpotential).

Unknown hat gesagt…

Lieber Cassiel,
was Du in deinen Antwort an Chris beschreibst, ist natürlich (sei mir bitte nicht böse) ein Idealbild. Diese Arbeitsweise kann man sich nur dann leisten, wenn man 1 Mal in Monat oder seltener auflegt. Ich bin eng mit einen den „StammDJ“ in meinen Wohnort befreundet und habe was ganz anderes beobachten: fünf Minuten vor der Anfang der Milonga werden die erste drei Tandas zusammen geklickt, dann wird erst mal eine Runde getanzt, danach wieder 3-4- Tandas zusammen geklickt, tanzen, Unterhaltung mit der führende Tangueros/Tangueras der lokale Szene, 3-4 Tandas zusammen klicken, tanzen; ab 24 Uhr werden nur fertige Tandas aufgelegt (ich habe jetzt ein wenig übertrieben). Man soll fairer weise erwähnen – der gute Mann legt 3-4-mal in der Woche auf und ist sehr routiniert (mag das gut oder schlecht sein). Ich glaube nicht, dass er irgendwann etwas vorbereitet hat und ich denke nicht, dass er irgendwas nachbereitet. Er besitzt etwa 400 CDs, davon hat er die Hälfte gehört und auf Milongas legt er nicht mehr als 500 Stücke auf. Der Mann ist ein Dienstleister.
Ich wollte mit meinen Schilderungen der Arbeit der DJ nicht abwerten - es ist ein harter Job. Was ich sagen wollte ist, dass die meisten Milongas, die ich besuche, von Dienstleister organisiert sind. Diese Tatsache ist an sich nicht schlimm weil das (meistens) professionelle Veranstalter sind. Was mir nicht gefällt ist, dass viel zu oft und gerne der Geschmack der Milonga-Normalverbraucher berücksichtigt wird. Die Profis wissen schon was das Herz einen durschnittlichen Tanguero begehrt und genau das wird ja gespielt. Wenn man sich auf Großstadtmilongas, Festivals und Marathons umhört, stellt man fest, dass die Anzahl der gespielte Orchesters ein Dutzend nicht übersteig (ich spreche von „traditionellen“ Milongas, die andere kenne ich nicht). Es sind nur wenige DJs die wagen „neue (d.h. bislang unbekannte) Titel“ (ich liebe diese Formulierung, Cassiel) zu spielen.
In den Goldenen Zeiten waren im Buenos Aires rund 300 Orchester aktiv. Fast alle haben mehrere Platten aufgenommen. Es ist einen unwahrscheinlich reichen Fundus an herrliche klassischen Tangos da. Der Aufwand lohnt sich immer wieder zu stöbern um neue, gute und tanzbare Stücke zu entdecken und den tanzenden Publikum anzubieten. Liebe DJs, macht euch ein wenig Mühe, wir werden euch dankbar sein.
Du hast ja wie immer Recht, Cassiell, „die Musik ist doch nicht so wichtig“ :)

Theresa hat gesagt…

@Sweti:
Diesem deinem Plädoyer für den DJ als Künstler stimme ich 100% zu und genau das strebe ich auch an: Musik aufzulegen, bei der auch die Tänzer aufhorchen, die schon seit vielen Jahren mehrmals die Woche tanzen. Und zwar nicht bloß seltene Musik, auch schön soll sie sein.
Solche DJs werden aber manchmal nicht so gerne gebucht, nicht umsonst habe ich meine eigene Milonga gegründet, und dort rennen die Leute mir auch nicht gerade die Bude ein.
Theresa

Unknown hat gesagt…

@Theresa:
Ja, selbstverständlich soll die Musik „schön“ sein und „tanzbar“ soll sie auch sein (und „traditionell“ auch :). Ich habe diese Eigenschaften stillschweigend vorausgesetzt. Und genau das ist, was einen guten DJ ausmacht – in den riesen Tango-Fundus die schöne, tanzbare Stücke rauszufinden, in Tandas zu verpacken und den Leuten anzubieten. Ja, das ist Kunst.
Ich kenne nicht viele DJs, die das können, weder hier in Europa, noch drüben in BsAs. Die Milongas von solche DJs sind aber immer rammel voll und auch nicht die preiswerteste. Demzufolge verstehe ich die Veranstalter nicht, wenn sie die höhere Eintrittspreiste und die nicht konventionellen Still der DJ scheuen und lieber unbekannten und schlecht musizierenden Studenten als Live-Act buchen.

p.s. hab schon viel Gutes über deine Milonga gehört. Hab mir fest vorgenommen, München zu besuchen.

Theresa hat gesagt…

Also, ich muss dann wohl noch sehr an mir als DJ-Künstlerin arbeiten, denn meine Milongas sind alles andere als rammelvoll, wenn nicht gerade prominente Gastlehrer anwesend sind.
Theresa

Christian hat gesagt…

Leider ist dieses virtuelle Video im Alltag eines TJs tatsächlich immer wieder mal Realität. Man bleibt dann höflich und versucht geduldig zu erklären, warum dies oder jenes nicht zu machen ist. Nur hören Hauruck-Tänzer oft gar nicht zu und man verliert fünf oder zehn Minuten mit einem Gespräch ohne erfreulichen Ausgang - manchmal mit einem dramatischen Abgang der inzwischen beleidigten Leberwurst, die den Diestleister TJ mit einem Casserolier verwechselt. Darum ist dieses Video für TJs so ein Brüller. Endlich sprich mal einer aus, was TJs die Haare verlieren lässt. Für Gespräche bin ich an einer Milonga immer zu haben. Aber viele Wünsche einzelner Tänzer lassen sich nun Mal nicht erfüllen, ohne ganz viele Tänzer zu enttäuschen.

Künstler - nein es würde mir niemals einfallen, mich als solchen zu bezeichnen. Ich sehe in TJs eher Leichenfledderer oder musikalische Eunuchen, da sie mit der kreativen Leistung anderer ihr Ding drehen. Künstler: das waren die Macher der Epoca de Oro, mit deren Werk wir TJs hantieren. Das ändert aber nichts daran, dass ein guter Fledderer, Pardon TJ sich viel Wissen und Können erarbeiten muss. Daher gibt es tatsächlich zu wenig gute TJs.

Kunst - nein auch das sehe ich anders. Ich verstehe gekonntes TJ-ing als solides Handwerk. Und das will erst mal erlernt sein. Bevor einer vielleicht irgendwann Künstler wird, muss er das Handwerk erlernen. Und genau da hapert es gewaltig. Leute ohne jegliches Wissen über Gran Orquestas oder Audiotechnik Milongas oder Tanzen kleben sich nach dem Erwerb eines Laptops und dem Online-Klau einiger hundert oder tausend Tangos und Nontangos in einem beispiellosen Akt der Selbstverblendung das Etikett Künstler auf die Stirn. Abkürzungen sind ja äusserst angesagt.

Vielleicht liegt das daran, dass TJ etwas ist, dass man nur learning by doing werden kann. Leider lassen zu viele Einsteiger der Einfachheit halber das Lernen ganz weg und starten - die Analogie zu den Widergängern unter den Tänzern ist kein Zufall - ihre Karriere mit einem Schritt zurück, direkt ins (vermeintliche) Ziel.

In Bezug auf den Zeitaufwand geht es mir wie Cassiel - ich stecke im Schnitt im Vorfeld etwa gleich viel Arbeit in eine Milonga wie sie dauert und rund 15 Minuten in die Nachbearbeitung. Aber für eine grosse Veranstaltung kann schon mal ein Mehrfaches an Zeitaufwand im Vorfeld anfallen. Zudem behalte ich als TJ natürlich immer im Auge, was ich den Tänzern dieser Milonga letztes Mal an Titeln vorgesetzt habe. Nur so kann ich sicherstellen, dass ich mich nicht wiederhole. Wir haben alle unsereVorlieben, die immer wieder leise und heimlich in den Vordergrund drängen.

Zu oft Auflegen ist aus meiner Sicht auf Dauer der sicherste Weg zum TJ-Stümper, den man beschreiten kann. Sobald ein TJ von Routine gesteuert wird, geht es mit seinem Können rasant bergab. Fünf Minuten vor Milonga-Start was zusammen zu stiefeln muss genauso in Mediokrität ertrinken, wie ein Schmalspur-Repertoire von 500 Ohrwürmern. Miongas, an denen nur Ohrwürmer aufgelegt werden, sind tänzerisch schrecklich langweilig, weil das Element der Überraschung fehlt.

Wenn man kein unverbesserlicher Zampano ist, muss ins Auge stechen, dass an einer sechsstündigen Milonga mit durchschnittlich 100 Tänzern 600(!) Stunden Musik konsumiert werden. Was sind in Relation dazu sechs Stunden Vor- und Nachbearbeitung? Aus meiner Sicht ein Minimum, um Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen zu dürfen. So viel Sorgfalt ist für mich auch eine Frage des Respekts jenen Tänzern gegenüber, die mir als TJ ihr Vertrauen für einen Abend schenken. Oft ist eine Milonga für Tänzer der einzige Abend in der Woche, den sie freischaufeln konnten, um sich eine Freude zu bereiten.

Das heisst aber sicher nicht, dass vorbereitete Tandas unverändert den ganzen Abend gestalten sollen. Aber auf so einer Basis aufbauend, kann eine TJ den Abend sehr viel gekonnter und ausgewogener musikalisch gestalten. Erst damit meistert er die zwischen Bestätigung und Herausforderung gratwandernde Aufgabe, welche bei TJs die Könner von den Stümpern trennt.

rodolfo2 hat gesagt…

Auch ich halte den TJ nicht unbedingt für einen Künstler. Aber es gibt schon Überschneidungen zwischen einem künstlerisch tätigen Menschen und einem gut ausgebildeten, erfahrenen Handwerker. Vor allem ist das die Intuition, bzw. die intuitive Vorstellungskraft, wie sich das, was ich mir in der Vorbereitung ausdenke, in der realen Situation auswirkt. Und dazu gehört auch eine dicke Portion permanenter Selbstreflektion, worin ich eigentlich meine Rolle als TJ sehe. Natürlich sollte jeder TJ ein eigenes Profil haben, aber zur Selbstdarstellung ist diese Arbeit absolut ungeeignet, bzw. kontraproduktiv.

chamuyo hat gesagt…

ich möchte mit aller Zurückhaltung anmerken, dass Christians Vorgehensweise nur eine der vielen Möglichkeiten ist, wie man die Aufgabe lösen kann.
Ich persönlich stelle gar nichts vorher zusammen. Ich muss die Leute sehen, die da sind und dann kann ich erst die passende Musik suchen. Das heißt nicht, dass keine Vorbereitung da ist. Es stecken Tausende von Stunden in einer gut strukturierten Sammlung, die es einem erlaubt, zielsicher "spontan" zu handeln. Die von Sweti beschriebene Vorgehensweise ist eine durchaus professionelle, und das ohne jede Ironie.
Ich bin auch nicht der Meinung, dass es unbedingt nötig ist, die seltenen Stücke aufzutreiben, nur damit es nicht langweilig ist. Es gibt einen guten Grund, warum sie selten sind und warum sie keinen Hit geworden sind. Es gibt zwar gelegentlich Stücke, die zuvor nicht veröffentlicht waren und wie eine Bombe einschlagen, so war das mit der Veröffentlichung von Poema vor einigen Jahren, die dann noch zu einem Maida revival geführt hat, oder mit bestimmten Donato Stücke, die nach dem Auftritt von Pablo und Dana in Sitges 2007 auf Sinsabor auf einmal in jeder Milonga zu hören waren, aber das sind Ausnahmen. Stücke, die seit 20 Jahren auf dem Markt sind und keine Beachtung finden, muss man nicht unbedingt den Tänzern zumuten. Wenn man wirklich Archäologie betreiben will muss man schon tiefer gehen und Schellackplatten durchforsten. Es soll vielmehr Aufnahmen geben, als das was auf CD publiziert wurde.
Ich kann nur jedem Anfänger DJ raten, sich zunächst mit dem Mainstream zu beschäftigen und der Versuchung zu widerstehen, gleich zu Beginn alles anders zu machen als die anderen.

Tangosohle hat gesagt…

DJ als Kunst?
Sicher nicht, denn die Musik, die man verwendet ist ja kein Rohmaterial, wie Farben, Noten, Ton...
Mein Selbstverständnis ist das des Kunsthandwerkers. Ich möchte mit schönem vorhandenen Material die Tänzer zum Tanz zu bewegen. Möglichst ständig und erfüllend.

Ja, chamuyo, das genau macht ja die Milonga lebendig, so wie beim Tanz: Ich setze einen Impuls, nehme wahr wie meine Tänzerin (die Tanzfläche) damit umgeht und setze entsprechend den nächsten Impuls (Tanda). Wenn dann der seltene Zustand des fließenden verwobenen Miteinanders entsteht ist das einer der glücklichen Momente die trotz allem (z.B. der Videosituation) zum Weitermachen antreiben. Ich stimme zu, Rodolfo2, Intuition ist ein guter Weg. Ich füge hinzu: Demut.

@sweti: Und genau das ist, was einen guten DJ ausmacht – in den riesen Tango-Fundus die schöne, tanzbare Stücke rauszufinden, in Tandas zu verpacken und den Leuten anzubieten.
Leider nicht. Immer wieder ist doch zu hören, wie mit der schönsten Musik schreckliche Milongas gemacht werden. Da stimmen die Pausen nicht, der Klang ist uneinheitlich, die Boxen stehen falsch (von der dahinterstehenden Technik ganz zu schweigen), die Charaktere der Tandas springen zu stark, man hört seit Wochen die exakt gleichen Tandas beim gleichen DJ usw. Einfach nur gedacht, die Musik nach Etiketten zusammengestellt und fertig. Das reicht nicht für eine gute Milonga.

@Teresa, Künstler zu sein heißt nicht, erfolgreich zu sein. ;)

Herzlichst
Tangosohle

Theresa hat gesagt…

@Christian:
Danke für deine wortgewaltige Klarstellung, wer hier die Künstler sind! Du hast ja vollkommen recht, ein DJ ist ein Kunsthandwerker.

@Chamuyo:
Was waren das für DJs, die "Poema" und "Sinsabor" (oder "Milonga de los fortines" oder neuerdings das unsägliche "Corazón encadenado") aufgebracht haben? Das waren eben solche, die Musik ausgraben, die keiner kennt. Und von hörenswerter Musik, die keiner kennt, gibts noch viel, und zwar auf CD. Und es erscheinen ständig neue tolle CDs.
Klar, als Neu-DJ muss man zum Einstieg erst mal die Klassiker draufhaben, aber ein guter Kunsthandwerker wird danach erst richtig neugierig.

Zur Frage, wie man sich vorbereitet:
Klar, wenn man wie Christian gleich Powerpoint-Folien zu den Tandas macht, muss man sich natürlich detailliert vorbereiten. Aber ansonsten ist das A und O das Ausbilden eines Musik-Gedächtnisses durch viel Hören und ein gut organisiertes Archiv. Wenn ich in einem Moment der Milonga denke, jetzt könnte Canaro mit Charlo passen, habe ich mit 3 Mausklicks einen Bildschirm voll von Canaro mit Charlo nebst Jahr und Bewertung der Tanzbarkeit. Dann kann ich eine Tanda sogar erst während der Cortina basteln. Das mache ich manchmal, wenn ich beim Tanzen die schon vorbereitete nächste Tanda verwerfe und mir eine neue ausdenke.

Theresa

Unknown hat gesagt…

@Tangosohle,
Was ist schon Rohmaterial? Watte und Filz :)
Kunsthandwerker klingt gut, obwohl ich der Meinung bin, es ist ein wenig mehr als das. Ich stimme auch @Christian zu: Bevor einer vielleicht irgendwann Künstler wird, muss er das Handwerk erlernen Und es ist kein einfaches Handwerk…

Nicht einverstanden bin mit der Vorschlag, „Anfänger DJ“ mögen sich mit den Mainstream befassen. Ich denke, dass einen (traditioneller) TJ am erste Linie sich mit den Orchester der Epoca de Oro befassen soll, die Struktur des Tanzes erlernen um eine Ahnung zu bekommen was „tanzbar“ ist, und nicht zuletzt viel, viel Musik hören.

Selbstverständlich sollen die Rahmenbedingungen auch stimmen. Als neugieriger Mensch gucke ich gerne auf den Arbeitsplatz der TJ und erlebe oft das gleiche Bild: hochkomprimierte Dateien werden einfach durch den preiswerte Sound-Interface des Laptops ausgegeben, 2,50€ Klinke-auf-Cinch-Kabel verbindet das Laptop mit den fragwürdigen Verstärker. Und die Boxen – die werden von dem Veranstalter bereitgestellt, dafür kann der DJ nichts. Und auch die Pausen sind so wie die sind…
Ja, so bekommt man keine gute Milonga, mindestens für die Tänzer nicht, die die Musik hören.

@chamuyo,
mich würden die Kriterien, die du für das Ordnen deinen Archivs verwendest, interessieren (ganz ernsthaft, ohne Ironie). Vielleicht können wir ein Paar Gedanken per Email austauschen. Durch einen Klick auf meinen Namen erfährst du meine Email-Adresse.

p.s. nein ich bin kein TJ, nur ein Liebhaber und Sammler traditioneller Tangos. Und tanzen mag ich auch :)

Austin hat gesagt…

Lieber chamuyo,

ein DJ, der nur "bekannt und bewährt" spielt, ist kein Künstler und kein Dienstleister, sondern einfach nur öde. Ich erwarte das absolut von einem guten DJ, dass er auch mal etwas ausgräbt, spielt, nochmal spielt und eventuell etabliert.

Das sollte der Anspruch sein. Ob man das jetzt in Form von vorstrukturierten Tandas macht oder aus dem Kopf, weil man das Repertoire gut beherrscht, ist dabei egal, aber ohne den Mut zur Innovation wird es schnell langweilig.

cassiel hat gesagt…

Zunächst einmal freut mich die vergleichsweise lebhafte Diskussion. Allen Beitragenden "Vielen Dank"!

Vielleicht führt die Diskussion Kunst oder Handwerk nicht weiter. Auch die Frage, ob man spontan oder vorbereitet auflegt, ist möglicherweise nicht so wichtig. (Nebenbei bemerkt: Theresa, man kann sehr wohl mit einem Display via PowerPoint - oder Keynote von Apple - spontan auflegen. Christian und ich entwickeln gerade die Scripte, damit diese beiden Prozesse untereinander kommunizieren können.)

Zur Klangqualität hat Sweti ja einen wichtigen Beitrag geleistet. Nun ist die Stereo-Klinke sicherlich nicht technisch der Maßstab aller Dinge, es ist aber auch zu berücksichtigen, daß der Rest der Kette entsprechend sein sollte. Was nützt mir der beste externe Digital-Analog-Wandler, wenn ich Trötlautsprecher und einen Gurkenverstärker habe?

Und einen weiteren wichtigen Punkt hat Sweti angesprochen: Das vernünftige Taggen der Musik im Rechner. "Michaels Milonga Mix Nr. 6 Track 1" ist so oder ähnlich sehr weit verbreitet.

Einen Gedanken möchte ich noch von mir beisteuern. M.E. ist es eine besondere Herausforderung spontan aufzulegen. Da muß man die eigene Musiksammlung wirklich sehr gut kennen. Vielleicht ist die Versuchung zu groß, in der Hektik des Moments wieder auf eine bewährte Tanda zurückzugreifen.

chamuyo hat gesagt…

@austin zu "bekannt und bewährt"
es kommt darauf an, für wen bekannt..
Ich bekomme eher Beschwerden, wenn ich mal kein diSarli oder kein d'Arienzo spiele, weil es so viel gute Sachen gibt.
Ich mache mal folgende Rechnung auf:
Eine durchschnittliche Milonga hat 4 Stunden. Beim Schema TTVTTM dauert ein Zyklus ca. 1 Stunde, das gibt 24 Tandas, davon 16-17 Tangos, 4 Vals und 3-4 Milongas. Ich zähle jetzt mal die Orchester, die für mich zum Standard gehören:
d'Agostino, deAngelis, d'Arienzo, Biagi, deCaro, Calo, Canaro, Demare, Donato, Firpo, Fresedo, Laurenz, Lomuto, Pugliese, Rodriguez, diSarli, Tanturi, Troilo, Victor. Das sind schon mal 19. Mit Vocal/Instrumental sind es 38, wenn man auch unterschiedliche Perioden betrachtet und die verschiedenen Sänger kommt man auf 70-100 stilistisch unterschiedliche Möglichkeiten. Wenn ich davon pro Abend 17 aussuche, wiederholen sie sich in jede 5. Milonga. In manche Gruppe sind nur 6 gut brauchbare Titel, in andere 20 oder 30. D.h. man kann einer Gruppe 2 bis 8 völlig verschiedene Tandas ohne Überschneidungen zusammenstellen. Damit sind wir bei der Wiederholung für die einzelnen Titel schon zwischen jeder 10. bis 40. Milonga angekommen. Bei einer wöchentlichen Milonga wiederholen sich die Stücke also im Schnitt alle 5-6 Monate. Manche natürlich öfter weil sie beliebter sind. Dabei sind seltenere, aber noch brauchbare Orchester noch gar nicht mitgezählt. Und alles mit ca. 1500 Titel und ohne dubiose Stücke.
Ich finde es eher öde, wenn ich von den aufgezählten Orchestern nur 50% höre. Und ich habe es auch noch nie erlebt, dass sich die Tanzfläche leert oder das jemand die Augen rollt wenn El Flete oder Tres Esquinas kommt, wohl aber bei Sammlerstücken wie Fresedo mit Dizzy Gillespie.

Chris hat gesagt…

erstmal vielen Dank an die engagierten DJ's, die die Sohlen zum Schmelzen bringen.
Wer diesen Job ernst nimmt, steckt viel rein, Arbeit und Zeit, Liebe und Verstand, soviel ist jetzt wohl klar.

Und gelungene Musik ist so wichtig und vollkommen unverzichtbar für alle, die wirklich tanzen wollen und denen es nicht um Akrobatik geht. Laßt euch nicht verunsichern, macht Musik für uns, die wir auf Milongas in die letzten Winkel fahren, nur weil unser Lieblings-DJ dort auflegt.

Wiederholungen: Wer in der Hauptsache Tangomusik auf Milongas hört, ist auf Wiederholungen angewiesen, um die Stücke kennen zu lernen. In Maßen ist es verträglich und notwendig.

Handwerk oder Kunst? Was sich gelungen nennen will, wird wohl weder ohne das eine noch das andere auskommen.

Austin hat gesagt…

@ chamuyo

Du hast mich überzeugt. Das sehe ich alles ganz genau so. Ich meinte auch nicht, dass besonders "abgefahrene" Tangos dringend gespielt werden müssen, sondern dass nach Möglichkeit das Repertoire in seiner ganzen Breite drankommen sollte. Und nicht nur die beliebtesten 3% daraus, weil die immer gut ankommen.

Theresa hat gesagt…

@Chamuyo

Die Befürworter des Auflegens von "neuen (d.h. bislang unbekannten) Titeln" denken, glaube ich, nicht an Fresedo mit Dizzy Gillespie. Es geht ja nicht darum, möglichst Abgefahrenes aufzulegen, sondern Schönes, das nicht abgenudelt ist, sondern aufhorchen lässt.

Also, ich spreche jetzt mal für mich. Eine Milonga, in der deine 19 Orchester nur zu 50% vorkommen, wäre für mich wahrscheinlich auch unerträglich, denn diese Orchester sind das Grundgerüst fürs Tango tanzen.

Sehr löblich ist es, so viel Abwechslung anzustreben, wie du es skizzierst. Aber die Abwechslung ist eben nicht nur ein Rechenexempel, sondern speist sich aus dem Entdecken von guten Titeln entweder in der eigenen Sammlung oder in den laufend rauskommenden Neuveröffentlichungen.

Es fehlen auch noch ein paar wichtige Orchester in deiner Aufzählung; Gobbi, Carabelli, Pacho, und dann noch ein paar ganz spezielle ;-)

Theresa

Theresa hat gesagt…

Ach ja, und Chris hat recht: Auch Wiederholung ist wichtig. Manchmal ist das Tanzen besonders intensiv, wenn man ein Stück in- und auswendig kennt. Und es gibt eine Handvoll Stücke, die muss man einfach immer wieder spielen, wie die schon erwähnten "El flete", "Sinsabor" und einige andere.
Theresa

Christian hat gesagt…

@ Chamuyo,
Du hast natürlich vollkommen recht. Ich habe es versäumt klar zu machen, dass ich lediglich jene Art zu TJen beschreibe, der ich mich verschrieben habe. Klar gibt es den Gegenpol spontanes Auflegen. Wenn ein TJ sein Metier beherrscht, funktioniert das wunderbar. Sorry für diese unnötige Simplifizierung. Ich denke die besten TJs sind jene, die trotz einer Ausprägung in die eine oder andere Richtung auch den Gegenpol bei Bedarf gekonnt einzusetzen vermögen.

Natürlich kommt es vor, dass die vorbereitete Playlist überhaupt nicht zur Laune der eintreffenden Tänzer passt. Dann reichen punktuelle Anpassungen nicht mehr. Wer dann nicht in der Lage ist die Stimmung im Raum zu lesen und spontan dazu passende Tandas zusammen zu stellen, verliert sein Publikum gleich zu Beginn der Milonga. Darin liegt die Gefahr meiner Ausprägung.

Die Gefahr Deiner Ausprägung liegt woanders. Es ist das Risiko aus was für Gründen auch immer - und davon gibt es viele - allmählich zu viel auf Bewährtes zurückzugreifen und damit das Repertoire der EdO zu reduzieren, bis irgendwann nur noch wenige hundert Ohrwürmer übrig sind, was nicht nur für langjährige, gute Tänzer unbefriedigend ist.

Gerne wüsste ich natürlich, wer Du Chamuyo tatsächlich bist. Das würde diesen zeitversetzten Dialog noch interessanter machen ;-)

Christian hat gesagt…

@ alle Teil 1,
als Tänzer würde ich mir wünschen, dass mehr TJs durchdacht auflegen, anstatt einer Milonga ihre eigenen Vorlieben aufzuzwingen. Dann müsste ich nicht so oft über Banalitäten diskutieren, wie warum zB eine 4h-Milonga ohne zwei d'Arienzo- und zwei di-Sarlis-Tandas ein Unding ist. Es ist schon deprimierend genug, dass es TJs gibt, die entweder Troilo gar nicht spielen oder nur die immergleichen frühen, schnellen Instrumentalstücke.

Als Tänzer würde ich mir wünschen, dass mehr TJs nie die Lust oder den Mut verlieren, Innovation und Experiment immer wieder umsichtig einzubeziehen. In Zürich, wo ich lebe hat es zB über ein Jahr gedauert, bis bessere Tänzer grinsend aufgestanden sind, wenn ich de Caro auflege. Die kannten diesen Überflieger überhaupt nicht und waren erst mal ratlos.

Als Tänzer würde ich mir mehr TJs wünschen, die die Weitsicht haben, auch solche Prozesse zu durchlaufen und nicht nachzulassen, falls das mal eine Weile beansprucht. Sonst gibt es kaum tänzerische Entwicklung in lokalen Szenen. Das kann natürlich nur klappen, wenn ein TJ es versteht für Tandas die vielleicht (noch) nicht begeistert aufgenommen werden zB vorher eine Milonga-Tanda zu spielen und hinterher eine treibende Tanda aus Ohrwürmern drauf zu setzen, damit die Stimmung unter der Herausforderung kaum leidet.

Als Tänzer würde ich mir mehr TJs wünschen, die durchdacht auflegen und den Tänzern nicht nur nach dem Maul reden. Denn die bleiben egal ob sie spontan oder mit Playlist auflegen für Tänzer interessant, weil sie nicht vorhersehbar und damit nicht beliebig werden. Aber nur, falls sie es wie Tangosohle richtig anmerkt vermeiden, aus tollen Aufnahmen schreckliche Tandas zusammenzustellen. Denn das lässt sich mit EdO-Aufnahmen genauso bewerkstelligen, wie mit Elektroschrott.

Christian hat gesagt…

@ alle Teil 2,
wer sich als TJ-Einsteiger zu sehr darauf konzentriert originell zu sein. weil er das Repertoire-Fundament nicht aus dem Effeff beherrscht, ist für Tänzer genau so eine Zumutung, wie TJs die sich jahreinjahraus mit den immerselben 500 Aufnahmen selbst parodieren. Tolle Milongas zeichnen sich finde ich auch dadurch aus, dass einige wenige Tandas jedes Abends nicht nur in sich stimmig sind, sondern Tänzer auch noch mit einer Aufnahme überraschen, die Tanzspass schenkt, obwohl sie kaum oder gar nicht bekannt ist. Wo keine Horizonterweiterung mehr angestrebt wird, ist der Abstieg durch zu viel Routine bereits vorprogrammiert. Zuwenig Ohrwürmer machen eine Milonga anstrengend. Zuwenig Ohrwürmer machen eine Milonga zur Schlaftablette.

Tolle aber kaum bekannte Aufnahmen lassen sich nach wie vor finden. So gibt es zB von d'Arienzo grossartige Aufnahmen aus den 40ern, die auf CDs der gängigen Label nicht zu finden sind. Nicht nur hier ist Schatzsuche für TJs lohnend. Manchmal gibt es gute Gründe, warum eine Aufnahme nicht mehr veröffentlich wird. Aber zu oft steht dahinter zuwenig Engagement und mangelnde Professionalität der Label. Sonst würden auf den meisten CDs nicht immer wieder die selben 3'500 bis 4'000 Titel eher schlecht als recht restauriert mit unvollständigen Angaben auf den Markt geworfen. Dazu gehört auch die unverschämte Schlamperei, Aufnahmen auf CD beschleunigt zu veröffentlichen.

Leider höre ich landauf landab viele TJs die es einfach nicht drauf haben, ganz egal ob sie mit Playlists arbeiten oder spontan auflegen. Sie wissen nicht wie man Tandas zusammenstellt und verstehen es nicht mit der Abfolge von Tandas den Spannungsbogen einer Milonga zu steuern. Anstatt den Raum, die Tänzer zu lesen, sind sie mit sich selbst beschäftigt. Oder sie legen für Bühnentänzer auf. Und vor Publikum versuchen sie nachzuholen, was sie im stillen Kämmerlein versäumt haben. Sie arbeiten an ihrer Tangothek.

Chamuyo hat das auf den Punkt gebracht: die Tausende von Stunden, welche in jeder gut strukturieren Tangothek stecken. Bei rund einem Mannjahr Arbeit, über 2'000 Stunden, lag für mich persönlich der Wendepunkt, ab dem meine eigene Tangothek allmählich zum ausreichend subtilen Instrument mutierte, auf dem ich spontan und virtuos spielen kann und die Dinge ohne viel Federlesens ins Lot fallen. Wer diese Arbeit nicht auf sich nimmt, muss unglaublich talentiert sein, um als TJ trotzdem Tänzer zu begeistern. Bestimmt gibt es solche Wunderkinder. Ich gehöre nicht dazu. Und die meisten, die sich in dieser Rolle selbst bewundern noch viel weniger. Kunst kommt von Können und Handwerk sowieso.

Die von Sweti beschriebene Vorgehensweise sogenannt routiniert auflegender TJ hat für mich den Beigeschmack eines öden Fliessbandjobs. Daraus resultiert selten genug ein ordentlicher Musikmix. Aber ordentlich reicht mir als Tänzer schon lange nicht mehr. Ich möchte inspiriert werden von der Musik, beflügelt. Sonst kann ich genau so gut daheim bleiben.

Christian hat gesagt…

@ TJs,
mich erstaunt wie viele Menschen meinen, Künstler zu werden liesse sich planen, konstruieren, erzwingen, ja sogar kaufen wie Doktortitel einer Bananenrepublik. Künstler wird aber man kaum, indem man sich diesen Titel wie auch immer aneignet oder im Rahmen einer dummdreisten Marketingkampagne auf den Hintern gepikst bekommt - Deutschland sucht die Supergurke. Künstler wird man vielleicht irgendwann doch noch, falls die Gesellschaft einen Kreativen als Künstler wahrzunehmen beginnt. Oft ist man dann längst Futter für allerlei Getier oder in einem kopfgrossen Gefäss zwischengelagert. Falls noch nicht tut man gut daran, auf dieses heimtückische Attribut zu pfeifen. Zu oft entpuppt sich dieses Etikett für Kreative als Sackgasse, weil damit ein Erwartungsdruck verbunden ist, der ganz schnell ganz schön tief unter die Haut gehen kann, etwa in Form von Kreativitätsblockaden.

Ich hatte mal einen Kunden, der handgefertigte Einzelstücke japanischen Werkzeugs importierte - unter anderem Stechbeitel. Diese Beitel sind qualitativ atemberaubend und ästhetisch umwerfend. Der Prozess ihrer Entstehung und die komplex Kultur dahinter (Wabi Sabi) haben mich zutiefst beeindruckt. Als Ausgangsmaterial werden Ankerketten verwendet, die über 150 Jahre alt sind, weil deren metallurgische Struktur sich besser als heutige Legierungen dafür eignet kompromisslose Qualität zu produzieren. Der Herstellungsprozess kommt ohne irgendwelche modernen technischen Gerätschaften aus und ist doch ein Hitech-Verfahren wenngleich mittelalterlichen Zuschnitts, welches mit modernster Technik weder kopiert geschweige denn multipliziert werden kann. Wenn dieser über 80 Jahre alte Handwerker stirbt - einer von vielleicht einem halben Dutzend die den Beruf in Japan noch auf diesem Niveau betreiben - wird Wissen verschwinden. Die Lehrzeit dieses Könners hat über 20 Jahre in Anspruch genommen. Weil er keine halben Sachen mag, bildet schon seit langem keine Lehrlinge mehr aus. Denn in seinem Alter könnte er keinen mehr fertig ausbilden bis er sterben wird. Sein jüngster Gehilfe ist längst Grossvater. Dieser Handwerker bekäme einen Lachanfall, wenn man ihn als Künstler bezeichnen würde. So betrachtet sind die Grenzen zwischen Handwerk und Kunst selten fliessend, da nur ganz wenige Handwerker irgendwann das dafür notwendige Niveau erreichen.