Freitag, 14. August 2009

Der Tango und die Bedürftigkeit

Es ist jetzt schon einige Wochen her, da kommentierte eine Leserin bzw. ein Leser wie folgt:

Auf diese Frage (Warum gehe ich zur Milonga?) mag wohl niemand eingehen. Ist diese Frage unangenehm? Für mich ist dieses Spannungsfeld zwischen intimster Nähe, aber ohne Verbindlichkeiten (oder vielleicht doch?) ein sehr reizvoller Grund. Oder ist diese Welt ein Ersatz für nicht vorhandene oder gestörte Beziehungen? [...]
Ich habe jetzt einige Zeit intensiv nachgedacht und nun entscheide ich mich spontan zu diesem Thema zu schreiben. Vielleicht gibt es eben eine tiefere Bedürftigkeit zum Tango zu gehen. Möglicherweise ernte ich zunächst einmal ein Kopfschütteln von meiner Leserschaft. Irgendetwas sagt mir aber, da lohnt das Hinschauen bzw. das Hinfühlen. Die Gedanken wurden neulich (als Folge des Beitrags über den Unterricht auf Milongas) wieder konkreter. Ich denke, mit diesem Artikel wird es nun fär alle emotional etwas dichter - insofern bin ich ganz froh, daß wir hier Pseudonyme verwenden.


Der Tango und die Bedürftigkeit bzw. Bedürftigkeiten

Vielleicht unterscheiden wir gleich zu Beginn zwei Fälle: Die eigene Bedürftigkeit und die Bedürftigkeiten der Umgebung. Die eigene Bedürftigkeit zuzugeben und zuzulassen ist vielleicht eine Gratwanderung. Haben wir doch alle gelernt, uns in Tango-Kontexten unverletzbar zu geben. Die Verletzungen, die entstehen können sind vielfältig. Ein Nicht-Beachtet-Werden von anderen Tänzern, ein Herabwürdigung allein durch den Umstand, daß ein anderer Tanguero, eine andere Tanguera vorgezogen wird, ein unbedachtes oder gar unsensibles Wort vom aktuellen Tanzpartner usw. All diese Umstände haben uns dazu geführt, uns möglich unverletzbar werden zu lassen. Aber -sind wir ehrlich- es gibt die Stelle wo auch unser virtuelles Lindenblatt lag, als wir im Drachenblut badeten (ich hoffe, alle erinnern sich an die Nibelungensage; Siegfried badete im Drachenblut und wurde unverwundbar, nur eine Stelle, die von einem Lindenblatt bedeckt war, war ungeschützt). Tiefere Kommunikation und Nähe im Tango ist aber für mein Verständnis nur möglich, wenn man die eigene Verletzbarkeit zulässt und sie auch ein Stück weit zeigt. Ansonsten kommt man in die Nähe einer Tango-Maschine und wird nicht mehr als Mensch wahrgenommen. Wie weit wir unsere eigene Bedürftigkeit zulassen und wann wir intervenieren, das muß vermutlich jeder für sich entscheiden. Ich kenne z.B. Tangueras, die konsequent eine Milonga verlassen, wenn sie länger sitzen. Ich finde es immer schade, aber ich kann diese Damen verstehen.

Eingangs hatte ich ja auch die Bedürftigkeiten des Umfeldes angesprochen. Das ist m.E. auch ein wichtiger Punkt. Es gibt für mein Verständnis legitime Bedürftigkeiten des Umfeldes, die mich veranlassen rücksichtsvoll auf einer Milonga zu agieren. Z.B. verkneife ich mir lautes und polterndes Verhalten - andere könnten davon gestört sein. Und es gibt für meine Begriffe überzogene und damit illegitime Bedürftigkeiten. Dazu mag beispielsweise der Zwang zum unangeforderten Spontan-Unterricht gehören. Wenn solche Bedürftigkeiten ihre Wurzel in dem Narzissmus einiger Mitmenschen haben, dann bin ich nicht verpflichtet, diese Bedürftigkeiten zu erfüllen (gut, als Tanguero kommt man da nicht so schnell in Bedrängnis wie Tangueras). Die Frage bleibt: Muß ich sie wortlos zu erdulden? Meine höchst subjektive Lösung ist das höfliche Schweigen. Das hatte ich hier ja schon mehrfach ausgeführt. Ich gebe gerne zu, daß man das auch anders lösen kann.

Und so reduziere ich die Frage "Warum gehe ich zur Milonga?" (siehe oben: Das Zitat aus dem Kommentar) auf einen Handel mit Bedürftigkeiten. Ich wünsche mir eine Erfüllung meiner Bedürfnisse und bin im Gegenzug bereit, (legitime) Bedürfnisse meines Umfeldes zu erfüllen.

So, jetzt habe ich mal ein Thema angerissen und ich warte gespannt auf weiterführende Gedanken und Ideen. Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich ein wunderschönes Wochenende mit erfüllten Tangos ... und am Montag treffen wir uns dann zu einer neuen Ausgabe der Serie "Für die neue Woche".

;-)

8 Anmerkung(en):

Murka hat gesagt…

Lieber Cassiel,
ich glaube du hast mir aus der Seele gesprochen. Aber ich glaube es betrifft nicht nur Tango, sondern vielmehr unseres Leben. Aber beim Tango liegen die Gefühle so blank, dass es noch mehr sichtbar wird. Ich persönlich habe die glücklichste Momente beim Tango erlebt, aber habe mich oft auch verletzt gefühlt, wenn ich nicht ignoriert werde.
ich erlebe es als ein Dilemma für mich. Ich will beim Tango die Nähe erleben. Die Nähe ist nach meiner Meinung nur dann möglich, wenn ich meine Schwäche, meine Bedürftigkeit zeige. Aber wenn ich es zeige, kann ich verletzt werden und davor habe ich Angst. Wie ich das löse? Ich versuche zu gucken, welche Erfahrungen mache ich mit konkreten Menschen, wie gehen sie mit meinen Bedürfnissen, meiner Bedürftigkeit um und gucke auch welche Bedürfnisse von meiner Umgebung nehme ich wahr und bin bereit zu erfühlen...

cassiel hat gesagt…

Wunderschön hast Du geschrieben und... ja... ich denke auch, daß diese Phänomen nicht nur auf den Tango beschränkt ist.

Und da sind wir dann wieder bei dem Begriff der Achtsamkeit. Wahrscheinlich bewegen wir uns mit unseren Gedanken und Betrachtungen hier immer nur im Kreis. ;-)

la perla hat gesagt…

Der Frage „Warum gehe ich auf die Milonga?“ möchte ich die Frage „Warum tanze ich Tango?“ voran stellen.
Nun irgendwann wird jede/r Tangotänzer/in dem starken Wunsch nach Bewegung in Kombination mit Musik nachgegangen sein, vielleicht bereits einen konventionellen Standardtanzkurs absolviert haben, oder (wie im meinem Falle) die Tanzstundenphase verweigert und in späteren Jahren ;-) doch eine Leidenschaft für den Paartanz entdeckt haben. Irgendwann ist dann möglicherweise Tango Argentino ins Gespräch gekommen und es ergab sich die Gelegenheit an einem Schnupperkurs teilzunehmen. Ganz naiv stürzte man/frau sich dann in die ersten Tanzstunden und entdeckte nach und nach das „Geheimnis“ des Tanzes. Für mich „Geheimnis“, weil ich absolut nicht wusste, worauf ich mich einließ. Zum einen war mir nicht klar, wie „klein“ die Tangogemeinde ist, wie lange es dauert, bis überhaupt der Mut für den Besuch einer Milonga aufgebracht ist, wie erschreckend viele erfahrene und gute Tanzpaare die Tanzfläche „beherrschen“ und wie „bedürftig“ nach Toleranz, Freundlichkeit, Höflichkeit ich doch bei diesen Besuchen bin. Die Beschreibung von Murka „Aber beim Tango (beim Milongabesuch, d.V.)liegen die Gefühle so blank, dass es noch mehr sichtbar wird.“ trifft m.E. einen Kern. Und in diesem Moment kommt vielleicht die Frage auf „Ist Tango Argentino das Richtige für mich?“ Viele, die wir wahrscheinlich auch zahlreich kennen, entscheiden sich dann evtl. dafür weiterhin in die Tanzstunde zu gehen und damit etwas gemeinsam mit anderen an einem Abend in der Woche zu unternehmen, sich nach der Tangomusik zu bewegen – eben halt ihre Freizeit zu gestalten. Andere entscheiden sich für die individuelle Herausforderung dieses Tanzes. Und nun kommt die Frage „Warum gehe ich auf eine Milonga? – In der Tat wurden schon in diversen Beiträgen und Kommentaren Antworten auf diese Frage gesucht, vermutet und vielleicht auch gefunden. Die Beiträge von Cassiel, die auf das Miteinander im Tango und auf der Milonga eingehen und die wirklich überwältigend zahlreicher werdenden und ausgesprochen offenen und nachdenklich machenden Kommentare, zeigen, dass es beim Tango genau um eine „Tiefere Kommunikation und Nähe im Tango“ im Tango geht …. die eigene Verletzbarkeit zulässt und sie auch ein Stück weit zeigt.“

Ich tanze - neben den o.g. Anfangsgründen – Tango Argentino und besuche nach Möglichkeit öfter eine Milonga, weil das achtsame Entdecken der eigenen Verletzbarkeit (Bedürftigkeit) kostbare Momente sind, in denen ich mich mit mir und dem Anderen aussöhnen kann. Vielleicht spielt das Bedürfnis nach „innerem Frieden“ eine Rolle, den ich in einer kurzen Umarmung und dem Loslassen der Kontrolle für den Moment erleben kann/könnte.

UND außerdem– weil das natürlich nicht immer (und mit jedem klappt ;-))), um mich nach Tangomusik zu bewegen, mich angeregt zu unterhalten, nette Menschen kennen zu lernen und und und … Sollte dann selbst das an einem Abend nicht möglich sein, ist es auch gut die Milonga zu verlassen und vielleicht den Abend mit etwas anderem abzuschließen.

La perla

cassiel hat gesagt…

... und der Gedanke, wir haben es alle nicht gewusst (worauf wir uns da eingelassen haben), lässt mich grinsen. ;-)

Aber nun ist es vermutlich zu spät. ;-)

Ich hab Deinen ausführlichen Beitrag so gerne gelesen. Vielen Dank!

Anonym hat gesagt…

Dein Artikel ist nicht gut. Das sieht man allein schon an den wenigen Kommentaren.

Wenn ich eine Frau zum Tanz bitte, dann will ich mit ihr schön tanzen. Der Rest interessiert mich nicht. Beim Tango habe ich keine "Bedürftigkeit", meistens jedenfalls nicht. Ab und zu ergibt sich eine leidenschaftliche Affäre. Das ist ja immerhin schon mal was.

Anonym hat gesagt…

Hahaha, herrlich, diese Sonntagstrolle. Findig sind sie ja, die Kerlchen. Wenn ich einmal eine Charakterstudie vornehmen darf; sie haben ein untrügliches Gespür dafür, was die politische Korrektheit verbietet. Und das ist ihr Material. Troll sein ist als nicht besonders schwer. Aber leider auf Dauer auch nciht besonders originell. Irgendwann sind auch unsere Beißreflexe abgenutzt.

cassiel hat gesagt…

@Anonym

Du meinst also mein Artikel ist nicht gut? Soll ich Dir ein Geheimnis verraten? Ja? Ich denke, geschätzte 95% meiner Artikel sind nicht gut. OK... sie sind nicht richtig schlecht aber eben auch nicht wirklich gut. Allerdings lege ich als Maßstab an meine Qualität nicht die Anzahl der Kommentare. Es ist eher intuitiv. Und ich kann auch mit Beiträgen von mir leben, die einen Gedanken zwar skizzieren, ihn aber nicht bis ins Letzte ausleuchten.

Es ist doch eher zufällig, wer wann kommentiert. So schrieben hier schon einige Besucher, daß sie in der letzten Zeit keine Zeit hatten, aber die Diskussionen mitverfolgt haben. Das ist ja irgendwie nachvollziehbar.

Und außerdem drehen wir uns hier in der Diskussion (für mein Empfinden) häufig im Kreis. Das macht aber nichts. Es ist eben so.

@elbnymphe
Lieben Dank für Deine Zeilen! Dachte schon, Du wärest in irgendeinem digitalen schwarzen Loch versunken... ;-)

bird hat gesagt…

Warum gehe ich so gerne auf eine Milonga ?
Gute Frage und für mich, neben vielem was hier und auch in den anderen Blogbeiträgen schön beschrieben worden ist vor allem, weil ich mit großer Wahrscheinlichkeit Glück, mich im Moment als mit mir, dem Tanzpartnerder einschließlich der Umgebung im Reinen und präsent, erleben kann.
Glückseeligkeit für wundervolle Augenblicke.
Nicht immer aber öfter verlasse ich eine Milonga glücklich und von Herzen erfreut, fühle mich, trotz später Stunde, auf wundervolle Weise berührt und erfrischt.