Montag, 16. November 2009

Für die neue Woche 37: Osvaldo Pugliese - Emancipación

In dieser Woche kommt mein musikalischer Gruß erst am Montagmittag. Ich stehe noch unter dem Eindruck der Diskussion vom Wochenende und versuche mich immer noch in die Gedanken einzelner Kommentatoren einzufinden.

Also gut! Probieren wir es heute einmal mit Kopfkino...

Ich lade alle Leserinnen und Leser ein, die Augen einmal zu schließen und dem Film zu folgen, den ich jetzt als Rolle auf den Projektor für das Kopfkino spanne...

Wir sind zu vorgerückter Stunde auf einer Milonga. Wir sitzen am Rand der Tanzfläche. In der Ecke ein Sessel, da hat es sich eine junge Tanguera bequem gemacht. Sie hat ihre Comme Il Fauts ausgezogen und schaut gedankenverloren in die Runde. Direkt nebenan sitzen auf einem Sofa eine Frau und ein Mann und reden mit gedämpfter Stimme. Die Kerze auf der Fensterbank ist ausgelaufen und das Wachs hat mehrere leere Gläser "festgeklebt". Halblinks sitzt eine nicht mehr ganz junge Tanguera, eine Erscheinung! Perfekt in Kleidung und Haltung lächelt sie warm und milde in den Raum. Plötzlich erhebt sie sich scheinbar unwillkürlich. Ein großer Tanguero kommt von fern und geht auf sie zu. Beide begrüßen sich knapp und zurückhaltend. Er stellt sich in Tanzrichtung und hält ihr die linke Hand hin. Sie willigt ein und geht federleicht in die geschlossene Umarmung. Er legt ganz ruhig und vorsichtig seine rechte Hand auf ihren Rücken und dann geht es los.



Nach der fanfarenartigen Eröffnung beginnt er leise und vorsichtig mit dem gemeinsamen Ausflug. Sie wird noch sensibler und achtet auf seine Signale. Er ist fordernd: er mutet ihr auch die bewußte Pause zu. Sie hebt dann leicht die Fußspitze und ihr Absatz beschreibt einen unsichtbaren Kreis wenige Millimeter über dem Parkett. Beide sind hinausgeschwommen in ihre eigene Welt. Die Umgebung ist für sie nicht mehr wahrnehmbar...

Da irgendwo passiert der Tango.

Und nun die kalte Dusche:

Der letzte Ton verklingt und der DJ legt - aus welchem Grunde auch immer - Robbie Williams auf...



Wird jetzt vielleicht deutlich, warum ich bei Non-Tangos äußerst zurückhaltend bin? Es ist eine andere Welt! Ganz große Könner ihres Fachs unter den DJs schaffen es, einen Non-Tango organisch einzuflechten. Das ist jedesmal ein Genuß. Aber es erfordert viel Fingerspitzengefühl.

So! Diesen Beitrag habe ich heute einmal so formuliert um deutlich zu machen, was ich meinte.

Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich eine gute Woche.

15 Anmerkung(en):

Raxie hat gesagt…

Lieber Cassiel,

ich beginne, mit Dir mitzuleiden! Der musikalische Milonga-Missbrauch war bereits am Freitag - und heute, nach immerhin drei Tagen - bist Du noch genauso betroffen, wie am Freitag.

Was kann man da machen? Ich meine jetzt in Hinblick auf kommende Freitage, wo Du möglicherweise wieder auf diesen DJ stoßen könntest. Also mal ganz ernsthaft: Was kann eine Tangogemeinde in so einem Fall wirklich tun?

1. Nicht mehr hingehen und den DJ einfach still boykottieren?!
Aber: Werden ausreichend Tangueras u Tangueros tatsächlich nicht hingehen? Vielleicht stört es nicht alle? Und ein paar gehen halt trotzdem hin u loben den DJ vielleicht noch?
Dann läuft der Boykott ins Leere, weil es kein Boykott ist und einfach nur ein paar Tänzer aus persönlichen Gründen nicht da waren. Der Rest hat das gar nicht mitbekommen, weil alles ganz still von statten ging.

2. Ein organisierter Boykott?! Aber: Das erscheint mir als nicht durchführbar - da versagt selbst mein ansonsten fantasiereiches Kopfkino (es sei denn, Du möchtest vom gefeierten Blogger zum gefeierten Kriminal-Roman-Autoren wechseln und suchst noch nach einer authentischen Vorlage...)

3. Sich beim Veranstalter, der den DJ engagiert hat, beschweren?! Gute Idee! Oder? Was ist, wenn es sich dort um eine Personalunion handelt? Dann läuft es ins Leere...

4. Ab wieviel Beschwerden würde denn selbst bei einer Personalunion ein DJ "aufwachen"?

Womit sich die Frage stellt, ob man sich überhaupt beschweren darf, wenn bekannt ist, wie der DJ auflegt und man trotzdem hingeht?! Gibt es Grenzen des Zumutbaren? Wenn ja, wo genau wären die? Muss eine solche Festlegung auf "zumutbar"/"nicht zumutbar" nicht notwendigerweise subjektiv sein?

(Fortsetzung folgt!)

Raxie hat gesagt…

(Fortsetzung)

Wie ich es auch drehe und wende, für mich kommt unter dem Strich einfach immer wieder raus: Nicht hingehen!

Wenn ich vorab weiß, dass ich mit der Musikauswahl große Probleme habe, dann muss ich die Milonga meiden. Auch wenn es im Ort keine Alternative gibt und die nächste Milonga über 100 km entfernt sein sollte - ist es das nicht wert, dorthin zu fahren? Vielleicht mit 2-3 anderen, die auch unzufrieden sind? Und dann gehen noch ein paar weitere Tänzer nicht hin (verzichten einfach mal ganz an dem Abend auf Milonga - es soll Tangueros u Tangueras geben, die das können...), vielleicht äußern sich noch einige der wenigen Anwesenden auf der Milonga und merken vielleicht an, dass es ihnen musikalisch nicht ganz gefallen hat... Und vielleicht bringt den DJ die Kombination aus all diesen Reaktionen dann doch zum Nachdenken?

Aber wenn es eine Kombination aus all diesen Reaktionen nicht gibt? Vielleicht, weil es ausreichend Tänzer in der Tangoszene gibt, die mit dieser Musikauswahl nicht wirklich Probleme haben? Hat der DJ dann nicht sogar eine gewisse Berechtigung?

Meinst Du nicht, dass Angebot und Nachfrage auch bei Milongas letztlich bestimmend sind? Wenn bei diesem DJ immer ausreichend zahlende Gäste da sind - ist das nicht ein Zeichen dafür, dass es funktioniert? Und man es einfach akzeptieren muss?

Und warum funktioniert es? Weil vielleicht viele Tangotänzer sich mit der Philosophie des Auflegens bei einer Milonga noch gar keine Gedanken gemacht haben? Und vielleicht den Mix, der ihnen präsentiert wird, für Gott gegeben halten?

Falls dem so ist, wirst Du bei der hier mitlesenden Tangogemeinde Wunder bewirken. Ich schätze mal, dass alle hier Mitlesenden mittlerweile auf keine Milonga mehr gehen, ohne nicht zu registrieren, was um sie herum gespielt wird und was das für eine Wirkung auf der Tanzfläche hat. Du schulst die Ohren aller hier Mitlesenden. Und sobald wir alle geschulte Ohren haben und um einige Geheimnisse und Mühen des Auflegens bei einer Milonga bereichert sind, werden wir bewußter zu bestimmten Milongas gehen und zu bestimmen eben nicht mehr. Weil man sich das nicht antun muss. Und weil es besser geht.

Da muss ich Dir jetzt mal ehrlich DANKE sagen, Cassiel! Seit ich hier mitlese, habe ich sehr viel über Musik gelernt.

Und am allerliebsten würde ich Dich in mein Tangomobil einladen und zur nächsten guten Milonga mit Dir fahren! Ganz stressfrei. Mach mal die Augen zu und lass Dein Kopfkino laufen:

Du legst Deinen Schuhbeutel auf die Rückbank und machst es Dir vorne im Auto bequem.
Eine Auswahl an guten Tango-CDs liegt Dir zu Füßen und Du darfst die Musik im Tangomobil bestimmen - auf der Hin- und auf der Rückfahrt. Eine kleine Minibar (alkoholfrei natürlich - wir wollen ja noch tanzen!) und ein paar Kekse legen eine gute Grundlage für die langen Stunden des genußreichen Tanzens. Dann die perfekte Milonga! Wunderbar entspannte Tangueras, die sich per Cabeceo federleicht in Deiner Umarmung mit Dir bewegen....

Nach vielen glücklichen Tandas dann ein warmes TAngomobil, noch ein paar Kekse, eine kuschelige Decke und ein sicherer Tangomobilfahrer, der Dich nur ungerne aus Deinem noch anhaltenden Tangohimmel weckt, wenn Ihr wieder daheim angekommen seid...

Manchmal wird aus Kopfkino Wirklichkeit... das wünsch ich Dir gerade von Herzen!

Lieben Gruß an Dich
R.

Austin hat gesagt…

Ich sag's ja: die Non-Tangos sind ein schwieriges Feld. Auch wenn wir nicht genau sagen können, was ein Non-Tango ist oder welche Stücke sich als Non-Tangos eignen, so können wir auf jeden Fall festhalten, dass ein Non-Tango auf keinen Fall ein typischer Vertreter eines anderen (Standard-) Tanzes sein darf. Und dieses "Somewhere..." ist ein waschechter Foxtrot.

So etwas eignet sich als Zwischenmusik zwischen Tandas (hier kann der Bruch nicht hörbar genug sein), aber nicht als Non-Tango.

Und was die Kombination dieses Pugliese-Tangos der WOche mit dieser "Somewhere..."-Version anbelangt und den DJ, der so auflegt: drei Jahre Berufsverbot für den Mann, von mir aus ausgesetzt zur Bewährung ;-)

Herr Oswald hat gesagt…

Wenn es Euch tröstet: Das Problem gibt es überall. In einer Milonga meiner Heimatstadt kann man sich auf eines verlassen: Das nächste Stück wird GANZ anders sein als das, was grade läuft…

Gelegentlich werde ich mal gefragt, warum man mich da nie mehr sehen würde. Erkläre ich dann, daß mir das musikalische Durcheinander auf die Nerven geht, ernte ich verständnislose Blicke und in der Regel ein "Also mir gefällt's…"

Finden wir uns damit ab. Zumindest bis zu dem Tag, an dem die Damen und Herren Tangolehrer damit beginnen, auch fundiert Musikverständnis zu vermitteln…

Anonym hat gesagt…

Jetzt habe ich es verstanden!

Ich habe Deinen letzten Beitrag gelesen und war verwirrt. Ich konnte ihn nicht einsortieren. Mit diesen Musikbeispielen und dem "Drehbuch" für das Kopfkino dämmert es mir, was ich wohl bislang vollkommen negiert habe: Es gibt eine Dramatik einer Milonga. Ich werde jetzt mal versuchen, das zu beobachten und zu verstehen.

Vielen, vielen Dank

Gabi

Elbnymphe hat gesagt…

Der letzte Beitrag von Gabi illustriert leider auf sehr traurige Weise, was in den Tanzschulen grundverkehrt läuft (Gabi, ich möchte Dir damit nicht zu nahe treten - vielleicht bist Du auch Anfängerin?). Es kann doch nicht sein, daß Tangotänzer Kurs um Kurs ohne jedes Bewußtsein für die Dramaturgie einer Milonga (d.h. Tandas und Cortinas etc.) absolvieren?

Gabi hat gesagt…

(Ach so geht das mit dem Namen.)

Hallo liebe Elbnymphe,

Du trittst mir nicht zu nahe (ich tanze jetzt seit zwei Jahren). Ich lebe in einer kleinen Stadt in den fünf jüngeren Bundesländern. Und jetzt wird das Eis ganz dünn, ich probiere es trotzdem. Ich habe den Eindruck, eine gewisse "Rotzigkeit" wird im östlichen Teil der Republik stärker kultiviert, als im Rest. Ich bin mir nicht sicher und deshalb formuliere ich die Meinung sehr sehr vorsichtig. Kann das sein?

Elbnymphe, Du wohnst ja auch im Osten, habe ich mich geirrt?

Gabi

B. G. hat gesagt…

@Gabi

Ich wurde zwar nicht gefragt, darf ich trotzdem eine Amerkung machen? Auch im Westen der Republik gibt es genügend DJs, die coolen progrssiven Non-Konformismus mit gedankenloser Rücksichtslosigkeit verwechseln. Vielleicht ist es auch die fehlende Bereitschaft oder sogar die aktive Verweigerung, sich auf die emotionale Tiefe im Tango einzulassen. Insofern halte ich das nicht für ein Ost-Phänomen.

Apfelmus hat gesagt…

Genau, Austin, hatte ich auch schon gedacht, als Cortina kommt Robbie in Frage, sonst hat er bei einer Milonga nichts zu suchen.

Austin hat gesagt…

Aaaah, genau, "Cortina" hieß das Wort, jetzt weiß ichs wieder.

Ich meine übrigens, dass jeder gute DJ möglichst ohne Stilbrüche auflegt. Und das gilt bei fast jeder Musik. Wenn man sich mal überlegt, was gute DJs in Diskotheken für einen technischen Aufwand treiben, nur um möglichst unhörbare Übergänge zu hinzubekommen, dann ist es nur logisch, dass die Musik-Art auch nur in kleinen Schritten verändert wird. Aber dafür braucht man halt ein musikalisch breites Wissen oder eine super Vorbereitung oder beides.

Elbnymphe hat gesagt…

Hallo Gabi,

zunächst möchte ich sagen, wie froh ich bin, daß Du meine Bemerkung nicht in den falschen Hals bekommen bzw. persönlich genommen hast.

Dann möchte ich festhalten, daß ich die Frage, die Du in den Raum stellst, hochinteressant finde.

Magst Du verraten, in welcher Stadt Du tanzt? Würde mich interessieren, aber natürlich respektiere ich es, wenn Du es lieber für Dich behältst.

Wenn man Cassiels Blog lange genug mitliest, gewinnt man als (W)Ossi durchaus den Eindruck, daß es im Osten informeller zugeht. "Rotzigkeit" ist mir allerdings zu negativ konnotiert. Schnoddrigkeit" vielleicht? Da schwingt durchaus jene Freundlichkeit mit, die man in meiner Wahrnehmung hierzulande neben allem Verzicht auf bürgerliche Etikette antrifft.

Also, mit Cabeceos ist auf den Milongas, wo ich bisher war (viele sind's nicht) Essig. Dafür war ich aber gestern auf einer ganz niedlichen, kleinen Milonga, begrüßte den Hausherrn und die anderen Tanzenden per Handschlag und mit wechselseitiger rundumiger Namensnennung, wurde direkt in die Wohnküche zu frischgebackenem Kuchen und Kaffee gebeten, während ein Stockwerk weiter oben getanzt wurde. Wohlgemerkt, es war keine private Wohnzimmermilonga, sondern eine öffentlich angekündigte Verasntaltung, die sich durchaus an Fremde richtete. So etwas kann ich mir mit meinem durchaus klischeebehafteten Bild von München als SnobCity oder Hamburg als Dünkelhausen kaum vorstellen (caveat: ich kenne weder München noch Hamburg; ich rede hier von Stereotypen, die man eben so mit sich herumschleppt.)

Für den Dresscode gilt selbiges. Wir haben hier eine hohe Dichte von Stilen, die man im Westen vielleicht eher beim Yoga oder Töpfern sieht - es wird hierzulande einfach anders gewichtet. Wenn ich die neuesten Comme Il Fauts trüge, würde das wahrscheinlich auch den wenigsten auffallen. Das mag nun jeder peinlich oder praktisch finden, wie er will. Es gibt Tage, wo ich es erleichternd finde (Sonntag abends, wenn man nochmal kurz auf drei Tandas raushuscht) oder nervig (wenn ich Lust habe, es mal wieder richtig zu zelebrieren und von vornherein weiß, ich werde gnadenlos overdressed sein).

Herr Oswald hat gesagt…

Ob man sich nun auf Tandas und Cortinas versteifen muß? - Hierzulande halte ich sie eher für eine Art Krücke, damit auch die etwas weniger bemittelten kapieren, was los ist, und der DJ keinen allzugroßen Mist baut.

Grade Cortinas können schon ganz schön in die Atmosphäre reinkrachen - und dann gibt es immer noch die 2 unvermeidlichen Spezialisten, die auf die Cortina tanzen müssen…

Einem wirklich sensiblen und einfühlsamen DJ sind sie eher im Weg bei der Gestaltung musikalischer Spannungsbögen - der braucht diese Hilfe (oder auch: dieses Korsett) nicht. Aber wie oft erlebt man so jemanden schon - wo es wirklich in den Bereich von Kunst geht? -

Insofern liegt man mit Tandas und Cortinas auf der sicheren Seite…

Herr Oswald hat gesagt…

@ Elbnymphe:
"München als SnobCity oder Hamburg als Dünkelhausen"

Komischerweise habe ich München nie so erlebt, sondern ganz herzlich und offen gegenüber Fremden - und Hamburg ganz extrem "Dünkelhäusig".

Und zwar auf mehreren Milongas.

Elbnymphe hat gesagt…

@ Herr Oswald: Ich lasse mich nur zu gern meiner Vorurteile berauben, zumal sie wirklich völlig unsubstantiiert sind. Ich war das letzte Mal vor 20 Jahren in München, auf Klassenfahrt, und daß ich bei Dallmayr's aus der Fernsehwerbung war, hielt ich für das Größte. :-)

Elbnymphe hat gesagt…

Dabei gibt sich dat Robbie doch solche Mühe, auch auf dem Latino-Markt den richtigen Ton zu treffen! Ob er damit Ricky Martin vom Thron stößt?

http://www.youtube.com/watch?v=-vVmGHFtyWs