Donnerstag, 19. November 2009

Tacheles mit Tangueros 1: Christian Tobler, Tango DJ aus Zürich - Teil A

Die Serie "Tacheles mit Tangueros" hatte ich schon vor einigen Tagen angekündigt. Heute gibt es also den ersten Beitrag.
In der letzten Woche kam über tango-de eine Nachricht, die auf einen Workshop für angehende Tango-DJs hinwies. Ich besuchte die Internetseite und fand dieses PDF. Dann wurde neugierig und schrieb eine eMail, weil ich Einzelheiten erfahren wollte. Aus dieser einen eMail wurde ein sehr freundlicher und ergiebiger Kontakt, so daß schließlich klar war, Christian ist das ideale "Versuchskaninchen" für meine neue Serie.
Christian lebt und arbeitet in Zürich. Weitere Informationen gibt es auf seiner Website.
Wir haben einige Themen vorab per eMail abgesteckt und den Rest offen gelassen. Wir kennen uns nicht persönlich und haben das Interview als "Klickerei" via Skype-TypoChat am Dienstagabend durchgeführt. Es ging um drei große Themenblöcke:

  1. technische Aspekte der Audio-Wiedergabe unter besondere Berücksichtigung des Tango Argentino
  2. inhaltliche Apekte des Tango DJ-ings
  3. Tango & Geld - Der Tango Argentino zwischen Enthusiasmus und notwendiger Refinanzierung (für diesen Teil wurde Christian von seiner Lebensgefährtin Monika, Tanguera aus Leidenschaft, unterstützt)
Christian hat den Beitrag in Schriftform zum Redigieren und Genehmigen vorgelegt bekommen.
Die Veröffentlichung erfolgt in drei Teilen (analog zu den o.g. Themenblöcken). Das erleichtert die Diskussion, die Christian in den nächsten Tagen freundlicherweise begleiten wird.


Teil 1 von 3

Cassiel: Hallo Christian! Einen wunderschönen „Guten Abend“ nach Zürich. Bist Du bereit?

Christian: Hallo Cassiel, ja wir können sofort loslegen.

Cassiel: OK! Dann fangen wir einmal ganz ruhig an. Hörst Du gerade Tango, wenn ja – welchen? Weiterhin möchte ich Dich fragen, wie Du zu Hause Tango überwiegend hörst (Laptop, CD-Spieler Sonstiges). Wie viel Equipment (Verstärker, Lautsprecher, Klangverbesserer usw.) steht herum und wie teuer ist das ungefähr? Ich frage das einmal ab, um Dich für die Leserinnen und Leser greifbarer zu machen.



Christian: Ich höre im Moment eine alte Milonga von mir. Eben laufen Valses von Alfredo de Angelis mit dem Duo Carlos Dante / Julio Martel. Ich höre Tango Argentino fast ausschliesslich über Laptop. Und nun wird es technisch. Mein Equipment ist mit Sorgfalt zusammen gestellt aus neuen und bis 30 Jahre alten Geräten: Daran hängt eine Festplatte mit meiner Tangothek (500 GB AIFF-Files) das Interface (RME Fireface 400) ein Mastering Prozessor (TC Electronic Finalizer 96k) der mir viele Einflussmöglichkeiten und bessere Wandler als das Interface bietet, der Verstärker, meist ein Transistor (Cyrus Two / PSX) und manchmal eine Röhre (Audio Research Corporation SP-10 / D79B) und die Lautsprecher (Tannoy SRM 10B), professionelle Monitore, die für Tango Argentino perfekt sind, weil sie die Wiedergabe nicht mit Zeitfehlern verunstaltet.

Aktualisierung (September 2010)
Inzwischen hat sich mein technisches Setup verändert – neuer Stand der Technik (die Kombination mit der grossen Abhöre ist auch die Technik, über die Cassiel in einem anderen Beitrag aus eigener Erfahrung berichtet): Am Laptop hängt eine Festplatte mit meiner Tangothek (über 500 GB AIFF-Files) das Interface (RME Fireface 400) ein Mastering Prozessor (TC Electronic Finalizer 96k) der mir viele Einflussmöglichkeiten und bessere Wandler als das Interface bietet. Bis hierher ist alles beim alten geblieben.

Abhören habe ich inzwischen zwei: Die nur noch selten benützte kleinere hat als Verstärker einen Transistor (Cyrus Two / PSX) und kompakte Studiomonitore (Tannoy SRM 10B). Das ist eine Kombination die eine gewisse dynamische Kompression, mechanisch wie elektrisch, nicht verleugnen kann. Dafür kann man sich beides zur Not noch irgendwie unter den Arm klemmen – oder so. Die täglich im Einsatz stehende grössere Abhöre hat als Verstärker Röhren (Audio Research Corporation SP-10 / D79B) und Studiomonitore auf Rollwagen, welche meine Lebensgefährtin grinsend Babys nennt (Tannoy FSM-U). Die weisen als Kombination keinerlei mechanische oder elektrische Kompression mehr auf. Dafür ist jeder Lautsprecher grösser als eine Waschmaschine und die Röhrengeräte sind mit 60kg Lebendgewicht auch nicht besonders mobil.

Der "Mittelteil" zwischen Laptop und Verstärker (Foto: Christian Tobler)

Cassiel: Das sagt mir nicht viel. Wie viel Geld ist das (ohne Laptop)? Nur eine ungefähre Größenordnung...

Christian: Neu waren das rund CHF 16'000 ohne Röhre. Aus zweiter Hand bekommt man das heute für bedeutend weniger, vielleicht für CHF 5'000 bis 7’000.

Aktualisierung (September 2010)
Mit Röhre und grossen Monitoren sieht die Rechnung natürlich etwas anders aus. So was gibt es nicht mehr zum Spartarif.

Cassiel: Gut. Magst Du einmal ganz grob in Stichworten Deine audiophile Karriere skizzieren? Bist Du im Zusammenhang mit dem Tango zum „Klangfanatiker“ geworden? Oder gab es diese Leidenschaft unabhängig vom Tango schon vorher in Deinem Leben?

Christian: Nein, Klangfanatiker bin ich nicht, aber ich weiss wie Instrumente und Stimmen live klingen. Klar verstehe ich inzwischen was von Technik. Aber einzig und allein als Mittel zum Zweck. Meine Motivation war stets die Musik. Bei uns daheim stehen vielleicht 3'000 CDs und LPs, weil Musik hören Teil unseres Alltags ist. Bevor ich Tango Argentino der Epoca de Oro entdeckt habe, galt meine Liebe in erster Linie der Klassik bis zum Ende der Romantik und dem Jazz bis 1965. Mit Audio-Technik habe ich mich lediglich angefangen zu beschäftigen, weil zu viele Konzerte musikalisch und/oder klanglich eine herbe Enttäuschung waren und zu viele Künstler nur noch mittels Konserve zugänglich sind, die Jahrhunderteinspielungen geschaffen haben.
Audiophile Leidenschaft ist für mich ein Reizwort, das ziemlich belämmert klingt und genau das tut, was es sagt: Leiden schaffen. Das ist gar nicht meine Welt, Cassiel. Ich ziehe es vor, das Leben zu geniessen. Bei audiophiler Leidenschaft denken die meisten Menschen sowieso an jene postmoderne Form von atheistischem Hausaltar, bei der eine kleinwagengrosse Musikanlage mit Tresortüren anstelle von Frontplatten und Gartenschläuchen anstelle von Kabeln in einem Raum mit DDR- oder Sheraton-Charme den Sound eines Walkmans gebärt - und das zum Preis eines Reiheneinfamilienhauses.
Trotzdem macht exzellente Wiedergabetechnik einen Unterschied. Ein Beispiel: Vor einigen Wochen hatten wir eine Porteña für eine Woche zu Gast, die rund 30 Jahre jung und mit den Gran Orquestas aufgewachsen ist. Irgendwann haben wir sie gefragt ob sie Lust hat, ihre ureigene Musik für einmal so zu hören, wie sie damals geklungen hat. Es versteht sich von selbst, dass wir mit dieser Provokation ihr Interesse wecken konnten. Daraus wurde ein sehr emotionaler Nachmittag. Wir sind zu dritt dichtgedrängt volle drei Stunden ohne Pause zusammen an meinem für drei viel zu kleinem Audio-Arbeitsplatz gesessen und haben uns nach ihren Wünschen kreuz und quer durch die EdO gezappt. Während dieser Zeit sind ihr fast pausenlos Tränen über das Gesicht gekollert. Das hat beim ersten Stück schlagartig begonnen, als nach einer Minute der Sänger einsetzte.
So betrachtet macht exzellente Wiedergabetechnik einen Unterschied - auch für Tänzer. Weil sie dem musikalischen Erleben eine weitere Dimension verleihen kann die ungemein beflügeln kann. Denn falls die Technik rundum stimmt, sorgen weit über 1'000 dieser alten Aufnahmen auf Grund ihrer herausragenden künstlerischen Qualitäten dafür, dass sich jedem halbwegs sensiblen Tänzer umgehend die Haare auf den Unterarmen aufrichten, ein wonnig-kühler Schauer über den Rücken rieselt. 

Cassiel: Und denkst Du, daß es so etwas wie einen „objektiv guten und authentischen“ Klang gibt oder ist das immer auch subjektiv?

Christian: Klang ist grundsätzlich sicher was Subjektives. Aber je mehr Wissen man sich dazu erarbeitet, desto mehr objektive Instrumente bekommt man in die Hand, um Gehörtes daran einzuschätzen - nicht mit Messgeräten, mit den Ohren.

Cassiel: Hörst Du noch viele Live-Konzerte?

Christian: Live-Konzerte sind für mich ein eher seltenes Ereignis geworden, seit ich mich intensiv mit Tango Argentino beschäftige - leider. Schliesslich kann ich mich nicht multiplizieren.
Dafür gibt es aber noch andere Gründe. Vom künstlerischen Niveau der EdO können wir heute live nicht mal träumen. Das ist aber nicht die Schuld der heutigen Kreativen. Verglichen mit damals ist der Markt schlicht winzig und die Einkommensmöglichkeiten marginal. Die Musiker sind nicht gut genug ausgebildet und haben zu wenig Spielroutine. Zudem gibt es kaum Wettbewerb in konstruktivem, künstlerischem Sinn. Ganz viel spieltechnisches Wissen ist verloren gegangen, obwohl hier z.B. Ignacio Varchausky mit seinem Orquesta Escuela de Tango Gegensteuer gibt. Heute musiziert man wenn es hoch kommt vielleicht dreimal eineinhalb Stunden pro Woche vor Publikum. Damals hat man mitunter monatelang sechs mal die Woche zehn Stunden pro Tag vor Publikum musiziert.

Cassiel: Also eine Frage des Geldes? Die Entlohnung der Musiker? Ist Live-Musik zu teuer geworden?

Christian: Nein, Musik ist im Verlauf der letzten Jahrzehnte ein immer billiger zu erwerbendes Gut geworden und Live-Musik auch. Aber dieser Markt der EdO, 600 Orchester die in einer einzigen Stadt miteinander im Wettstreit stehen, ist unwiederbringlich. Das hat nichts mit den Musikern zu tun, denn so einen Schmelztiegel, Inspirationsfaktor haben TA-Musiker heute nicht mehr. Geld spielt dabei eine Rolle, könnte das Rad der Zeit aber auch nicht zurück drehen. Grosse Sinfonieorchester haben ja längst dieselben Qualitätsprobleme. Ihre Probenzeit wird aus Budgetgründen immer stärker beschnitten und irgendwann geht das an die musikalische Substanz.

Cassiel: Ist also die große Zeit des live-aufgeführten Tangos unwiederbringlich vorbei?

Christian: Sicher nicht. Ich bin einfach kein grosser Freund kontemporärer TA-Orchester, weil sie nicht mehr dasselbe Niveau erreichen wie ihre grossen Vorbilder. Und das gilt ganz besonders für die Sänger, obwohl wir im kontemporären TA mit Ariel Ardit, Chino Laborde, Gabriel Dominguez und Javier di Ciriaco vielversprechende Talente hätten.
Was mich im Lauf der letzten Jahre an mehreren TA-Orchestern stört ist die Richtung die sie einschlagen. Anstatt das Niveau stetig zu verbessern, wird nach ersten Achtungserfolgen sofort nach dem momentan lukrativsten Marktsegment geschielt. So kann ein junges Orchester aber nicht reifen. Aber nochmals: dazu zwingen die Orchester die pekuniären Gegebenheiten des heutigen Nischenmarkts.
Im Bs As und Montevideo der Blütezeit wurde eine ganze Reihe der kreativen Macher zu Millionären. Das hat mit Gobbi Senior begonnen, der sich bereits Anfang 20er ein eigenes Flugzeug leisten konnte. Osvaldo Fresedo hatte Ende der 20er in Bs As fünf Orchester am laufen und rannte Abend für Abend für einen kurzen Auftritt von einem zum anderen. Warum wohl? Und Francisco Canaro hat mit den Einkünften seines bis nach Europa reichenden TA-Imperiums seine umfangreiche Filmproduktion finanziert und dabei viele Millionen in den Sand gesetzt. Roberto Firpo wiederum hat seine Millionen Ende 20er, Anfang 30er an der Börse in den Sand gesetzt und war daher gezwungen wieder ein Orchester zusammenstellen.

Cassiel: Wenn man aber bedenkt, welchen Wirschaftsfaktor der TA im heutigen Buenos Aires repräsentiert, dann läuft doch etwas verkehrt, oder?

Christian: Klar hat TA für Bs As (nicht Argentinien) längst grosse Bedeutung. Aber verglichen mit der EdO sind das für die Kreativen heute Peanuts. Nach wie vor rümpft die regierende Oberschicht die Nase über das grösste Kulturgut, das ihr Land jemals hervor gebracht hat. Die haben immer noch keinen Durchblick. Sonst würden sie angemessene Mittel zur Verfügung stellen und Varchauskys neustes Projekt zur Rettung der EdO-Aufnahmen müsste nicht betteln gehen: http://www.tangovia.org/preservacion.htm

Cassiel: Ich möchte noch einmal kurz zu den technischen Aspekten zurückkommen: Welche Ratschläge würdest Du angehenden DJs geben, wie sie schrittweise den Klang verbessern können? Gibt es so etwas wie eine „natürliche Reihenfolge“ der Investitionen?

Christian:Das hängt von der individuellen Situation eines TJs ab. Lass uns auf das zurückkommen, wenn wir die allgemeinen Tipps behandeln, die Du Dir von mir für TJ erbeten hast. Lass mich aber vorher zum Thema Technik noch etwas weiter ausholen, da wir bisher lediglich an der Oberfläche gekratzt haben: Die aus der Professionalität der EdO geschöpfte Virtuosität lässt sich nicht mit mp3 und Co wiedergeben. Wer sich mit der Geschichte der Tonkonserven-Wiedergabe ein klein wenig auskennt weiss, dass die wenigsten Neuentwicklungen Fortschritt für den Hörer beinhalten. Über 95% aller Produkte sind einzig von dummdreistem Marketing- und Profitdenken gesteuert.
Kürzlich haben wir von Argentango nach langer Abstinenz wieder mal eine sogenannte Highend-Messe besucht, weil wir uns zwei Lautsprecher anhören wollten: der eine 40 Jahre alt und perfekt restauriert, der andere eine konzeptionell interessante Neuentwicklung. Als einzige Besucher hatten wir einige unserer Referenzstücke (EdO) auf CD dabei, bei denen wir innert Sekunden hören, ob die Wiedergabe stimmig ist. Das Ohr liefert einen Vorgeschmack und die Haut entscheidet - unbestechlich. Es ist schrecklich einfach, wenn der eigene Körper mal den Dreh raus hat. Die Ketten [CD-Spieler, Wandler, Vorverstärker, Verstärker und Kabel] in denen wir diese Lautsprecher gehört haben kosten insgesamt zwischen CHF 30'000 und 60'000.
Das Resultat der zwei Hördurchgänge war leider ernüchternd und hat unsere zynischsten Vorurteile übertroffen. Irgendwas - vielleicht lediglich eine einzelne Komponente - hat in beiden Ketten nicht gepasst. Bei der einen Kette habe ich das DAC [DAC: Digital-Analog-Converter – Digital/Analog Wandler] in Verdacht. Bei der andern ist die Sache weniger klar. Auf jeden Fall kam einfach keine Musik dabei raus. Ich sehe dieses Resultat als Bankrotterklärung einer auf Abwege geratener Branche. Denn ich kann für rund CHF 5'000 jederzeit eine Kette aus 20 bis 40 Jahre alten Geräten aus zweiter Hand zusammenstellen, die diesen zeitgeistigen Firlefanz mit links an die Wand spielt.
Weil dieser Markt schon seit Jahren optisch anstatt akustisch getrieben ist, gibt es nur noch wenige Angebote die tatsächlich Musik machen. Diesem verhängnisvollen Trend können sich nur wenige Entwickler ungestraft entziehen, weil die meisten Käufer sich sinnentleerten Trends nicht durch Kaufabstinenz entziehen. Ich kann auch noch deutlicher werden: Cassiel, halte mal einen Testbericht ans Ohr. Klingt er gut?
Bei unserem Ausflug in die Gefilde der Wichtigtuer hat uns übrigens ein Kunde begleitet, den ich vergangenes Jahr über sechs Monate hinweg bei der Optimierung seiner bestehenden Anlage betreut habe. Das war ein langer und sanfter Prozess, mit einer ganzen Reihe spannender Überraschungen für alle Beteiligten. Auch ich habe was dazu gelernt. Für ihn war dieser Ausflug der abschliessende Lackmustest meiner Beratungstätigkeit. Er hat sich an diesem Abend mit einem noch breiteren Grinsen als sonst von mir verabschiedet und mich bereits im Bekanntenkreis weiter empfohlen.
Aber zurück zum TA: Nachdem ich mich dazu entschlossen hatte, mit dem TJ-ing ernst zu machen, habe ich auf Grund meines Vorwissens natürlich als erstes geklärt auf welchem klanglichen Niveau die Aufnahmetechnik damals produzierte, damit ich abschätzen konnte wie viel Aufwand ich in eine adäquate Wiedergabetechnik stecken muss. Ich habe schnell herausgefunden, dass damals rund um den Erdball dieselbe Technik einer Handvoll Firmen verwendet wurde. Aber über viele technische Details und den praktischen Alltag eines Tonmeisters von damals gibt es heute kaum noch schriftliche Unterlagen. Und die Entwickler dieser Technik sind sowieso längst gestorben.
Nach vier Monaten knochentrockener Recherche habe ich in Kalifornien endlich einen pensionierten Tontechniker gefunden der 1943 frisch von Universität in dieses Metier eingestiegen ist. Das war Knowhow-Transfer in letzter Minute, da er bereits wenige Monate später gestorben ist, so wie die Musiker und Tänzer dieser Generation in Argentinien.
Dieser Techniker, Robert Morrison, hat darüber sogar ein Buch veröffentlicht, ohne ISBN-Nummer und daher nur unter diesem Link erhältlich: http://www.highlandlab.com/diskrecording.htm. Im Prelinger-Online-Archiv gibt es einen PR-Film über die Produktion und Herstellung von Schellacks/78er, von RCA-Victor 1942 anlässlich der Eröffnung des Werks in Camden NY gedreht: http://www.archive.org/details/CommandP1942
Dieser Mann hat viele meiner Lücken mir ganz viel Informationen aus erster Hand füllen können. Einige seiner Antworten haben mich überrascht und dazu gezwungen, Vorurteile abzulegen.
Üblich waren damals maximal fünf Takes, manchenorts sogar nur deren zwei und das auf Grund der technischen Gegebenheiten ohne jede Korrekturmöglichkeit. Im Klartext: Spielfehler von Musikern und Sängern waren Tabu. Die musikalische Balance wurde einzig und allein durch die Anordnung der Musiker um ein einziges Mikrophon herum steuert.
Zum Einsatz kam handverlesenes Equipment, Kleinstserien aus innovativen Thinktanks, die sich als Monopolisten gebärdeten. Eine zentrale Komponente z.B., den Schneidekopf von Western Electric, konnte man nur leasen. Also wurde nur beliefert, wer dem Hersteller in den Kram passte. Diese Technik wurde in den 20ern vom Forschungslabor des Telefoniegiganten Bell, den Bell Labratories in den USA für die finanzstarke Filmindustrie Kaliforniens entwickelt und von Western Electric gefertigt. Das Ganze war ein in sich geschlossener Kreislauf, welcher auch die Wiedergabekette in den Kinos umfasste. Bereits drei Jahre nach der Einführung ist die Filmindustrie auf eine einfacher zu handhabende Technologie umgestiegen, den Lichtton. Die Schallplattenindustrie hat dagegen mit der ersten elektrischen Aufnahmetechnik fast 25 Jahre lang, also bis Ende der 40er Jahre gearbeitet, wobei ständig punktuell technische Verbesserung eingeflossen sind. Einige dieser Komponenten kosteten das Vielfache eines Mittelklasseautos. Zudem mussten die Aufnahmestudios pro Aufnahme Lizenzgebühren abführen. Darum hat EMI in England Anfang 30er ein eigenes System nach denselben Prinzipien auf den Markt gebracht. Dieser auf Patenten fussende Lizenzierungszwang war eine pausenlos sprudelnde Geldquelle.
Dafür war diese teure Technik puristisches Hi-Tech: oft ein Bändchenmikrophon von RCA (z.B. 44 BX), eine Konsole und ein Verstärker (viel habe ich bis heute darüber nicht erfahren können), ein Schneidekopf von Western Electric (z.B. D-85'264) und eine Lathe von Western Electric (z.B. D-85'249) oder Scully (z.B. #18). Resultat war ein analoges, monophones Direktschnittverfahren mit ausgesprochen kurzem Signalweg. Mischpult, Equalizer und anderen Kinkerlitzchen gab es damals noch nicht. Vielleicht wird jetzt klarer, warum die weitgehend zeitfehlerfreien Aufnahme der EdO enormes Klangpotential haben. Cassiel, falls Du nur Bahnhof verstanden hast oder immer noch ungläubiger Thomas spielen willst, bist Du herzlich eingeladen, mal bei uns in Zürich für ein Wochenende vorbei zu schauen und den Supersound der EdO selbst zu entdecken.

Cassiel: Kennst Du das Projekt von Keith Elshaw (http://www.totango.net/cd.html Ich weiß schon: "nur" mp3s )? Möchtest Du dazu etwas sagen?

Christian: Klar kenne ich Keith. Eine erfreuliche Erscheinung. Vor drei Jahren haben mich seine Restaurationen noch nicht überzeugt. Aber inzwischen hat er viel dazu gelernt. Und wenn Du CDs bei ihm kaufst oder Dir die Daten auf Festplatte liefern lässt, bekommst Du auch unkomprimiertes Material. Gut möglich, dass ich seine neue Bibliothek demnächst komplett anschaffe. Aber vorher muss ich noch einige Tests fahren.

Hier steht der zweite Teil des Interviews
Hier steht der dritte Teil des Interviews

10 Anmerkung(en):

B. G. hat gesagt…

Du hattest es zwar angekündigt. Damit hatte ich aber nicht gerechnet. Eigentlich wollte ich jetzt ins Bett. ;-)

Geht eben noch nicht, ich muss jetzt erst einmal lesen.

Danke

Anonym hat gesagt…

Auch wenn Du es nicht gerne liest, ich finde das Interview nur noch geil!

Selten erlebe ich, wie Menschen derartig durchdrungen vom Tango sind. Wie gerne hätte ich Eurer Unterhaltung gelauscht. Und jeder gedankenloser Provinz-Dudler unter den DJs müsste verpflichtet werden, dieses Interview zu lesen.

Auf den Vortrag von Christian bin ich sehr neugierig geworden.

Hut ab. Jetzt sollte spätestens klar sein, was Dein Blog für einen Stellenwert im deutschen Tango hat.

Peter hat gesagt…

hut ab ...
das hatte ich wirklich nicht erwartet ... hab heute früh nach einer milonga erst mal den beitrag gelesen.

werd den blog weiter empfehlen.

peter

Raxie hat gesagt…

Spannend! Von der Technik hab ich nichts verstanden - aber ich bilde mir ein, einen gaaaaanz kleinen Einblick in eine neue Welt entdeckt zu haben!

Aber Christian und Cassiel: Ist das nicht gefährlich, was Ihr hier macht? Wann immer ich jetzt Musik aus der Goldenen Ära höre, werde ich mir ja denken müssen "und das ist nur der Abklatsch des Originals..."

Das macht ja wirklich neugierig, die Musik mal "richtig" zu hören!

Spannend!

Anonym hat gesagt…

Hallo Christian,

darf ich eine etwas banale Frage stellen? Hast Du eigentlich ein BackUp dabei, wenn Du auflegst? (Also z.B. CDs oder ein zweites Laptop.)

Alle anderen Fragen hast Du ja schon ausreichend im Interview beantwortet.

Kommst Du demnächst auch zum Auflegen mal Richtung Norden? Es würde mich schon reizen, eine Milonga mit Dir zu erleben.

christian hat gesagt…

Hallo Anomym,

zum BackUp
ich kenne viele TJs, die kein Notfallszenario haben. Offensichtlich geht es auch ohne, zumal das meist auch ein Kostenfrage ist. Da Laptops heikle Geräte sind und Festplatten sowieso, verlasse ich mich nie auf ein einziges Gerät. Damit würde ich Murphies Law herausfordern, obwohl ich mein Notfallszenario noch nie an einer Milonga gebraucht habe. Wenn bisher ein Problem aufgetaucht ist, habe ich das verursacht, aber auch beheben können.
Eine Festplatte mit Tangothek-BackUp habe ich immer im Gepäck. In Datenblättern für Festplatten gibt den MTBF-Wert: mean time between faliure. Der gibt an, nach wie vielen Stunden durchschnittlich dieses Modell seinen Geist aufgibt. Mir sind in den fünf Jahren als TJ zwei Festplatten im digitalen Nirvana verschwunden, wenn auch nie während einer Milonga.
Früher hatte ich stets einen zweiten Laptop dabei, um damit vorzuhören und das war gleichzeitig mein Notfallszenario, da ich auch auf einem Laptop Beschallen und Vorhören kann. Seit einiger Zeit brauche ich den zweiten Laptop oft, um damit einen Beamer anzusteuern, der die Titel der laufenden und der folgenden Tanda projeziert. Sollte der erste ausfallen, müssten die Tänzer eben ohne lautlose Ansage auskommen. Weil ich nie mit CDs gearbeitet habe und das auch nicht möchte, begleitet mich als eigentliches Notfallszenario immer ein iPod (80GB / 2400 Favoriten als AIFF-Files) mit Dock, Netzgerät und Kabeln die an Cinch und XLR Anschluss finden.
Wichtig scheint mir zudem, sein Notfallszenario daheim immer wieder mal in Betrieb zu nehmen. Sonst kann es passieren, dass unterschiedliche Software-Versionen oder etwa die Datenbank von iTunes auf dem Nofallszenario nicht mehr mit der Alltagskonfiguration zusammen spielt.

zu Richtung Norden
Meine Partnerin und ich machen zwar regelmässige Abstecher, um andere Szenen als Tänzer kennenzulernen. Aber weiter als 500km sind wir dafür noch nie gereist. Wenn ein Veranstalter mich als TJ bucht, reise ich gerne in Deutschlands Norden. Andere Szenen zu entdecken ist stets ein spannendes Erlebnis und ich liebe Abwechslung. Im Norden Deutschlands kenne ich bisher lediglich Hamburg, eine tolle Metropole mit weitem Horizont finde ich.

herzlich - Christian

Anonym hat gesagt…

Hallo Christian, Du hast etwas von "Zeitfehlern" in der Wiedergabe geschrieben. Kannst Du verbal beschreiben, was Du damit meinst und wie sich das auf den Klang auswirkt?

Oder muß man das einmal selbst gehört haben?

christian hat gesagt…

Kommentar Teil 1:

Hallo Anonym,

das ist gemein. Du schreibst drei Zeilen und ich werde über Hundert brauchen, um darauf auch nur halbwegs zu antworten ;-) Zeitfehler sind eine komplexe Materie und dieses Thema in einem Blog abzuhandeln halte ich für anspruchsvoll. Ausserdem bin ich weder Tonmeister noch Audio-Ingenieur, obwohl man beides zusammen sein müsste, um zu diesem Komplex abschliessend antworten zu können. Lass es mich trotzdem versuchen. Ich möchte noch anfügen, dass man sein Ohr sehr schnell an minderwertige Klangqualität gewöhnen kann. Das ist ein Selbstschutzmechanismus unseres Körpers. Zum Glück ist der Weg zurück ist ein kurzer.
Unsere Welt ist vordergründig optisch dominiert, obwohl die akustische Komponente mindestens ebenso viel Einfluss auf unser Leben nimmt. Wenn ich die Wahl zwischen blind oder taub hätte, würde ich vermutlich blind vorziehen, weil Taubheit uns sehr viel mehr vom Leben um uns herum abschneidet. Unsere Sprache ist mehr darauf ausgerichtet, optische Eindrücke zu beschreiben als akustische. Vermutlich weil wir in der optischen Domäne mehr bewusst, in der akustischen mehr unbewusst wahrnehmen.
Lass uns als erstes unterscheiden zwischen Zeitfehlern in der analogen und digitalen Domäne. Zeitfehler in der digitalen Domäne können grosse Probleme aufwerfen. Sie sind definitiv Thema für jeden TJ, aber eben ein anderes Thema. Ich habe Zeitfehler in der analogen Domäne angesprochen, ohne das zu spezifizieren. Zeitfehler aus der analogen Domäne bedeutet, dass zusammengehörige Komponenten des Musiksignals nicht zeitgleich im Gehör ankommen, weil Raumreflektionen oder durch die Wiedergabekette verursachte Phasenfehler das zunichte machen.

christian hat gesagt…

Kommentar Teil 2:

Mit analogen Zeitfehlern behaftete Wiedergabe kannst Du gleichsetzen mit optischer Unschärfe, um eine allgemein verständliche Analogie zu verwenden. Es ist immer noch alles da, falls die Zeitfehler nicht gravierend sind, aber viele Details, Nuancen fehlen und damit berührt eine solche akustische Darbietung uns weniger, zieht uns weniger in ihren Bann. Stell Dir einen Spätnachmittag auf dem Gipfel der Alpen vor. An einem nebelverhangenen Tag siehst Du die Hand vor Augen nicht und möchtest nur noch in eine warme Hütte. An einem Tag mit Föhn siehst über sieben Bergketten hinweg 500km weit und fühlst dich herrlich.
Dieses Problem mit der Zeit hat übrigens einen konkreten, archaischen Ursprung. Unser Gehör ist im Hirn auch heute noch so vernetzt, wie das zu einem Dasein als nomadisierender Jäger und Sammler passt. Es ist noch lange nicht an die modernen Zivilisation angepasst. Unsere Ohren sind nicht zum Musik hören trainiert, sondern zur Früherkennung von Gefahr. Dafür mussten wir Richtung und Distanz eines Schallereignisses schnell genau orten, weil davon vor noch nicht allzu langer Zeit unser Überleben abgehing. Gelingt uns das aus irgend einem Grund nicht gerät unser Hirn auch heute noch augenblicklich in Stress, weil ein nicht klar ortbarer Ton die Grösste aller möglichen Gefahren signalisiert. Es könnte Gefahr lauern, aber es ist nicht klar wo, wann, wer, wie - der akustische Supergau schlechthin quasi. In so einer Situation können wir nicht entspannt Musik hören, weil zwar alte aber eben mächtige Programmschleifen unseren Körper in Aufruhr bringen und schon nach kurzer Zeit ermüden lassen. Das passiert unbewusst, ist aber nicht zu vermeiden.
Zitat Hermann Hoffmann: "Zeitverhalten ist von entscheidender Bedeutung! Unser archaisches Erbe bietet uns diesbezüglich eine unglaubliche Fähigkeit, Schallereignisse blitzschnell mit einer verblüffenden Genauigkeit auszuwerten. Jeder hat schon mal erlebt, dass hinter seinem Rücken etwas zu Boden fällt und quasi in Echtzeit die Auswertung vorgenommen, was es war und in welchem Umfeld oder Raum das stattgefunden hat. Diese Auswertung beruht nur auf der Fähigkeit, winzigste Zeitunterschiede zu erkennen, also die unterschiedlichen Laufzeiten der eigentlichen Schallwelle und die verschiedenen Reflexionen zuzuordnen. Wenn man das messtechnisch untersucht, gelangt man zu der Erkenntnis, dass unser Gehör bzw. unser Gehirn fähig ist, Unterschiede in der Größenordnung von wenigen 1/100000 Sekunden aufzulösen! Wer sich die Phasenfehler und die Zeitfehler einer Musikdarbietung auf dem Weg vom eigentlichen Ereignis über die gesamte Aufnahme- und Wiedergabestrecke vor Augen führt, dem wird klar, dass das Ergebnis nicht viel mit Live zu tun hat, nicht haben kann. Dem Zeitverhalten muss wesentlich mehr Aufmerksamkeit zugewiesen werden als dem Frequenzverhalten, demgegenüber unser Ohr wesentlich toleranter ist."

christian hat gesagt…

Kommmentar Teil 3:

Das ist der Grund, warum zB viele im ersten Moment begeisternd klingende Wiedergabeketten schon nach kurzer Zeit ermüden. Sie nerven unser Hirn mit Zeitfehlern. Mit einer guten Musikkette kann man sechs Stunden Musik hören und nach dem Abschalten ist lediglich ein angenehmes Gefühl von Sattheit da, aber keine Müdigkeit.
Tango Argentino ist besonders kritisch in Bezug auf Zeitfehler. Das hat zwei Gründe. Einerseits gehört die Kombination von Gran Orquesta - zehn bis sechzehn Musiker - und einer Stimme zum Anspruchsvollsten, was es bei Tonkonserven gibt. Da die Sänger der EdO dermassen gut waren, bewegt sich das musikalische Erlebnis auf dem Niveau einer exzellenten Operneinspielung. Andererseits sorgt das puristische Direktschnittverfahren der Schellack/78 für fast zeitfehlerfreie Aufnahmen. Die Kombination aus beidem sorgt für ein aussergewöhnlich grosses Klangpotential, welches aber oft nicht wahrgenommen wird, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Guter Klang von Musikkonserven, die 60 bis 70 Jahre alt sind. Aber das sind Vorurteile ohne Hand und Fuss, obwohl die eher schlecht als recht gemachten Restaurationen auf CD ein Problem sind, welches das Klangpotential mehr als nötig reduziert.

herzlich - Christian