Sonntag, 1. November 2009

Und schon wieder ein Leser(innen)brief...

Leserin S. hat geschrieben. Und sie hat ausdrücklich darum gebeten hat, ihre Zuschrift nicht (auch nicht in Teilen) zu veröffentlichen, jetzt wird es ein wenig schwierig, etwas dazu zu schreiben. Ich probiere es trotzdem.

Es ging um die Schwächen, um die Sehnsucht, um eigene Begrenztheit und um die Verletzlichkeit. Ganz am Rande ging es ja schon im letzten Beitrag um dieses Thema.

Ich habe in meinem Archiv einen wunderschönen Text der die unerfüllte Sehnsucht bzw. die Suche nach Geborgenheit sehr gut beschreibt. Für mich ist der Tango manchmal die Sehnsucht nach diesem uneingeschränkten Annehmen eines Menschen bzw. die Sehnsucht nach dem Gefühl des Angenommenseins und weil das wohl so radikal nicht geht, bleibt es eben eine Sehnsucht. Beim Tango kann man versuchen - zumindest für eine kurze Zeit - mit einem anderen Menschen dieses Gefühl der emotionalen Heimat zu teilen.
In die Lichtblicke deiner Hoffnung
und in die Schatten deiner Angst,
in die Enttäuschungen deines Lebens
und in das Geschenk deines Zutrauens
lege ich meine Zusage: Ich bin da.


In das Dunkel deiner Vergangenheit
und in das Ungewisse deiner Zukunft,
in den Segen deines Wohlwollens
und in das Elend deiner Ohnmacht
lege ich meine Zusage: Ich bin da.


In das Spiel deiner Gefühle
und in den Ernst deiner Gedanken,
in den Reichtum deines Schweigens
und in die Armut deiner Sprache
lege ich meine Zusage: Ich bin da.


In die Fülle deiner Aufgaben
und in deine leere Geschäftigkeit,
in die Vielzahl deiner Fähigkeiten
und in die Grenzen deiner Begabungen
lege ich meine Zusage: Ich bin da.


In das Gelingen deiner Gespräche
und in die Langeweile deines Betens,
in die Freude deines Erfolges
und in den Schmerz deines Versagens
lege ich meine Zusage: Ich bin da.


In das Glück deiner Begegnungen
und in die Wunden deiner Sehnsucht,
in das Wunder deiner Zuneigung
und in das Leid deiner Ablehnung
lege ich meine Zusage: Ich bin da.


In die Enge deines Alltags
und in die Weite deiner Träume,
in die Schwachstellen deiner Treue
und in die Kraft deines Herzens
lege ich meine Zusage: Ich bin da.
Ja, der Text ist religiös motivert (es ist eine Variation über die Selbstbeschreibung des alttestamentarischen Gottes - wer es genau wissen will: Exodus 3, 4-14 - eine Quelle kann ich für dieses Zitat leider nicht liefern). Und das führt dann zu der Frage, ob Tango eine Religion ist. Irgendwo habe ich dazu auch schon einmal etwas in einem Blog gelesen. Nach meiner Überzeugung ist Tango keine Religion. Aber Religion und Tango berühren ähnliche Grundbedürfnisse des Menschen. Vielleicht lässt es sich als Suche nach Liebe beschreiben. Ich kann sehr gut damit leben, daß manche Menschen in Tangokontexten auf diese emotionale Tiefe nicht einlassen können oder wollen. Das bleibt jedem selbst überlassen. Manchmal kann es einen allerdings weiterbringen, wenn man auch solche, möglicherweise angstbesetzten emotionalen Gefilde besucht. ;-)

Und weil es hier um einen emotional ganz sensiblen Bereich einer Leserin geht, aktiviere ich vorübergehend die Kommentarmoderation. Ich bitte um Verständnis. Bevor es hier dann doch irgendwann zu meditativ und spirituell wird, werde ich demnächst mal wieder eine zünftige polemische Glosse verfassen - versprochen.

9 Anmerkung(en):

Apfelmus hat gesagt…

"Beim Tango kann man versuchen - zumindest für eine kurze Zeit - mit einem anderen Menschen dieses Gefühl der emotionalen Heimat zu teilen." - genau das ist es für mich. Religiöses hat es für mich nicht (Atheist), aber etwas sehr Wertvolles, das ich nicht mehr missen möchte. Wo sonst noch gibt es dieses wunderbare Gefühl des gemeinsam Zu-Hause-Ankommens auf so einfache und schöne Art und Weise zu erlangen?

Anonym hat gesagt…

Jetzt habe ich erstmalig beim Lesen Deines Blogs geweint. Es war nicht schlimm, es war kein bitteres, enttäuschtes oder resignierendes Weinen. Es war befreiend.

Dein Blog ist so vielschichtig und von fast grenzenloser Freiheit im Denken geprägt. Auch wenn Promisc das wahrscheinlich anders sieht, für mich ist das so.

Vielen Dank!

Anonym hat gesagt…

Was bist Du denn nun eigentlich? Tanguero, Philosoph, Therapeut, Theologe, Arzt, Autor, Engel ... Wie siehst Du Dich selbst?

Manchmal macht mich die Breite der Themen schwindelig. Interessant ist es aber schon!

Anonym hat gesagt…

Vielleicht muss auch ich in das Lager der aktiven Kommentatoren wechseln. Ich lese hier seit Monaten intensiv und schweigend mit. Heute ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: dein Blog hat meinen Tango verändert. Beim Lesen des Beitrags habe ich mich gewundert. Was soll das jetzt wieder? Aber die Erfahrungen der letzten Zeit machen mich gelassen. Ich lasse den Text auf mich einfach wirken. Schaun wir mal was passiert.

Anonym hat gesagt…

Ist es eigentlich Zufall, dass heute Allerheiligen ist und Du so einen Beitrag veröffentlichst?

Raxie hat gesagt…

So einen Text im Tangokontext halte ich für sehr gefährlich. Mir haben sich fast die Haare zu Bergen gestellt, als ich das gelesen habe. Tango kann, meines Erachtens, keine Sehnsucht nach Liebe erfüllen. Das ist meines Erachtens ein Trugschluss, dem möglicherweise viele Tänzer verfallen. Wie könnte der kurzfristige Tanzpartner all diese im Gedicht genannten Sehnsüchte und Versprechen jemals auch nur ansatzweise erfüllen? Er kann den Menschen, der sich ihm die wenigen Minuten, die man zusammen tanzt, "anvertraut" so akzeptieren, wie er ihn in dem Moment erlebt und wahrnimmt. Mehr kann er nicht.

In dem Gedicht geht es um Liebe. Und lieben kann man nur, wenn man sich kennt. Richtig kennt.

Tangohimmel hat - wiederum subjektiv betrachtet - nicht damit zu tun, dass man vom aktuellen Tanzpartner "geliebt" wird (wohl aber mit allen seinen Fallen umarmt wird - wobei die Fallen in dem Moment nicht bekannt sind - ganz hilfreich übrigens...), sondern, dass man die Möglichkeit hat, selbst abzuschalten und mit sich selbst völlig im Einklang zu sein. Dazu muss man mit dem Tanzpartner harmonieren, sonst könnte man nicht die Augen schließen, dem anderen vertrauen und einfach die Musik und das gemeinsame Verständnis des Tanzes genießen. Der Inhalt des Gedichtes hat damit wenig zu tun, klingt sehr pathetisch in meinen Ohren...

Faszinierend ist hingegen, wie viele Facetten der Tango bei Menschen anspricht.

@anonym xyz ich muss Dir beipflichten - der Blog bringt einen immer wieder zum Nachdenken, wenn auch jeden in seine eigene Richtung wie es scheint.

cassiel hat gesagt…

@Raxie

Deine Meinung in allen Ehren. Es gibt aber für mich keine - oder nur ganz wenige - gefährliche Texte. Ich denke, ich habe hier mehrmals hinreichend deutlich gemacht, daß ich den Tango von privaten Beziehungen deutlich trenne. Die vielleicht unerfüllte Sehnsucht, das Unterbewußte bleibt aber...

Jetzt kann ich panisch davor weglaufen, alles negieren... oder ich nehme meine eigene Bedürftigkeit an und sage ja zu ihr.

Nichts anderes will der Text.

Und auch Dein Konzept von Liebe ist ein eigenes. Liebe im Sinne von Nächstenliebe (mit der notwendigen Distanz und Toleranz) steht für mich gleichberechtigt neben der exklusiven Liebe zu einer Partnerin / zu einem Partner.

Aber vielleicht habe ich Dich mißverstanden und unsere Standpunkte sind gar nicht so weit voneinander entfernt, wie es mir gerade scheint.

@Apfelmus & anonym 1 bis 4

Auech Euch vielen Dank für Eure Anmerkungen!

Raxie hat gesagt…

Hmm, ein interessanter Gedankengang: Ist es Nächstenliebe, was Tangotänzer miteinander praktizieren? (Implizierst Du das im oben gesagten? Scheint mir so.)

Nächstenliebe bedeutet ja auch, dass man von sich selbst etwas Abstand nimmt/sich selbst zurück nimmmt u die Bedürfnisse eines anderen wahrnimmt und versucht, ihnen ansatzweise gerecht zu werden.
Ja, da würde ich Dir sogar zustimmen. Im Idealfall nehmen beide Partner auf einander Rücksicht u versuchen, den Bedürfnissen des anderen Gerecht zu werden.

Vermutlich liegen unsere Ansichten tatsächlich gar nicht so weit auseinander. Aber mich stören die verwendeten Vokabeln im Gedicht nach wie vor. Ich mag es nicht mal zitieren, so wenig kann ich z.t. damit anfangen ("Gelingen deiner Gespräche... Langeweile deines Betens... Freude deines Erfolges... Schmerz deines Versagens...) Was hat das mit Tango zu tun? Dem Miteinander beim Tanzen?

Aber ich werde drüber nachdenken. Vielleicht erschließt es sich mir noch.

cassiel hat gesagt…

Ist es Nächstenliebe, was Tangotänzer miteinander praktizieren?

Im Idealfall schon... hoffentlich...

Ud wir sind schon wieder im Grenzland zwischen Distanz und Nähe. Spannend, nicht wahr?

Daß die Sprache Dir nicht behagt, das wundert mich nicht. Aber im Grunde sind wir doch wieder bei dem Gedanken, den wir in der letzten Diskussion hatten. Den anderen mit seinen Fallen umarmen.

Hmmm... kann auch sein, daß ich mich da gerade irre...