Freitag, 6. März 2009

Abgedroschene "Weisheiten" über den Tango I


Tango is the vertical expression of a horizontal desire.
[Tango ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Begehrens.]

Meine Güte! Wie furchtbar und wie lebensfremd ist dieser Spruch! Ich habe keine Ahnung, wer der Urheber dieser intellektuellen Straftat ist, aber es stimmt nicht.

Aber betrachten wir das einmal mit Ruhe und Abstand. Vielleicht ist es dazu erforderlich, zwei Fälle zu unterscheiden. Die erste Möglichkeit wäre, das Objekt des Begehrens ist die aktuelle Tanzpartnerin / der aktuelle Tanzpartner. Welch eine Mißachtung von Grenzen. Eine Milonga wäre demnach eine Sammelbecken für triebstau-beeinträchtigte Menschen, die nur eine Gelegenheit suchen, diesen Stau abzubauen. Die feinen und leisen Zwischentöne würden komplett negiert und der Mensch auf seine evolutionäre Funktion reduziert. Das kann es doch nicht sein! Stünde tatsächlich ein gesteigertes sexuelles Interesse beim Tango im Vordergrund, so wäre ziemlich schnell Schicht mit dem Leisen, dem Einfühlsamen und der Melancholie.

Bliebe noch eine zweite Möglichkeit: Das Objekt des Begehrens ist nicht die aktuelle Tanzpartnerin / der aktuelle Tanzpartner. Welch eine unglaubliche Unverschämtheit! Man tanzt vertraut mit einem Menschen und die Phantasien wandern komplett woanders hin.

Viel mehr muß ich zu dieser angeblichen Weisheit wohl nicht schreiben.

3 Anmerkung(en):

Anonym hat gesagt…

Lieber Cassiel, erlaube mir zunächst mal Dir meinen Respekt auszusprechen - toller Blog! Es gehört viel dazu, sich hier so offen zu zeigen und einen so gut durchdachten Blog aufzubauen. Es ist absolut interessant, den Themen hier zu folgen u Deine Gedanken (oder Pöbeleien... ;-) zu teilen. Das vorweg.

Deinem Eintrag zur abgedroschenen Wahrheit I möchte ich etwas hinzufügen. Natürlich hast Du Recht, wenn Du den obigen Spruch in seiner oberflächlichen Bedeutung verurteilst. Keine Frage. Wer zum Tango geht, um jmd "aufzureißen" ist dort per se falsch. Wobei - wenn er u sie sich einig sind und beide aus diesem Grund da sind? Warum nicht? Auch kein Thema - wie ich finde -, dann haben sich die Richtigen gefunden u stören hoffentlich die restliche Milonga nicht.

Aber was ist mit den Tänzern, die den Tango tanzen, weil sie innerlich abheben möchten? In andere Welten versinken möchten? Mit ihrem Tanzpartner nicht nur harmonieren möchten, sondern auch verschmelzen möchten?

Tango ist weit mehr als Tanzen. Da stimmst Du mir sicher zu. Ich persönlich glaube, dass man im Tango eigene Sehnsüchte auslebt, die man im realen Leben nicht immer realisieren kann. Es ist auch ein bisschen eine Flucht aus dem richtigen Leben, ein Ort zum Träumen, abschalten, loslassen, genießen, fallen lassen... durchaus alles Vokabeln, die man auch für mitunter horizontal stattfindende Lebenssituationen verwendet. Was jetzt keineswegs heißt, dass ich das eine mit dem anderen wirklich in einen Topf schmeißen will. Keineswegs.

Aber ich denke, dass viele Bedürfnisse, die genau in diese sexuelle Richtung gehen, auch durch das Tangotanzen ausgelöst oder verstärkt werden. Und für völlig normal halte ich es, wenn man diese Wünsche/Bedürfnisse eher allgemein wahrnimmt, aber nicht auf den jeweiligen Tanzpartner projeziert. Dessen sollte man sich beim Tanzen dann schon bewußt sein - die Atmosphäre des Tanzens und die dort erweckten Wünsche u Bedürfnisse lassen sich schlecht in die horizontale Lebenssituation mitnehmen - und befriedigt werden sie dort (gleich nach der Milonga...) dann ziemlich sicher nicht. Schon gleich gar nicht, mit einem "Zufallstanzpartner" oder "Gelegenheitstanzpartner", der gerade zur rechten Zeit am rechten Ort war.

Es liegen Welten zwischen dem realen Leben und dem, was man/frau während des Tangotanzens empfindet. Insoweit stimme ich Dir, Cassiel, komplett zu. Aber an dem Spruch und seinem Sinngehalt ist dennoch viel Wahres dran. Das Bedürfniss nach Erfüllung wird beim Tanzen mitunter geweckt - der Zustand des Begehrens ebenfalls, zumindest, wenn Mann/Frau Glück hat. Ich jedenfalls sehe diesen Zustand als etwas wunderbares an, "Tanzhimmel", wie es jmd, den ich über alle Maßen schätze, mal formuliert hat...

Und insofern stimme ich dem Spruch zu - es liegt ein Begehren zw einem TangoTanzpaar, das in sich selbst versunken ist u nur noch genießt. Die erotische Komponente im Tango war immer schon da u wird es sicher (hoffentlich) auch immer bleiben. Solange dieses gefühlte Begehren nicht in Anzüglichkeiten umschlägt gehört es zum Tango und macht ihn u.a. so reizvoll. Es soll ja auch Leute geben, die regelrecht süchtig danach sind...

Anonym hat gesagt…

Das Zitat ist von Shaw... also aus der Zeit, als dieser "unmoralische" Tanz zum ersten Mal in Europa populär wurde.

cassiel hat gesagt…

Stimmt! Das Zitat ist von G. B. Shaw. Danke für Deinen Hinweis.