I cannot teach you the feeling - nobody can teach you the feeling...
(Carlos Gavito (1942 - 2005) einer der großen Milogueros in einem YouTube-Video)
(Carlos Gavito (1942 - 2005) einer der großen Milogueros in einem YouTube-Video)
Es war nach einer üblichen wöchentlichen Milonga. Wir standen an der Tür und warteten auf den Verantwortlichen, der das Licht ausschaltete und die Tür verschloss. Alle waren müde, es regnet und jeder hing so ein wenig seinen Gedanken nach. Plötzlich sprach mich eine Frau an. Nennen wir sie einfach Helena [die Himmlische ;-)]. Sie sagte, sie hätte mich und meine Tanzpartnerin beobachtet, es hätte so wunderbar synchron ausgesehen und sie wollte mir einfach ein Kompliment machen.
Ein paar Wochen später erschien sie zu später Stunde auf der Milonga und eigentlich saß ich - schon ein wenig müde - am Rand der Tanzfäche und hing meinen Gedanken nach. Natürlich habe ich sie wiedererkannt, auch wenn ich ihren Namen in der Zwischenzeit vergessen hatte. Sie war - wie sie später erzählte - Studentin und optisch eher unauffällig. Den Tango hatte sie während eines Auslandssemesters in Buenos Aires gelernt. Es war eigentlich mehr ein Reflex - jedenfalls schaute ich quer durch den Raum direkt in ihr fröhliches und ehrliches Lächeln und nickte mit meinem Kopf leicht grinsend Richtung Tanzfläche. Es war eine Tanda mit einigen soliden Tangos aus der Goldenen Ära und natürlich gab es die üblichen Synchronisationsschwierigkeiten, die ich von mir kenne, wenn ich das erste Mal mit einer neuen Tanzpartnerin tanze. (Hört das eigentlich jemals auf?)
Die nächste Tanda begann mit Tanguera (in der Interpretation von Mariano Mores) während eines Ochos wich die anfängliche höfliche Distanz und es fühlte sich eben natürlich an, fortan sehr dicht zu tanzen. Plötzlich war es wieder da; dieses Gefühl, das kaum in Worte zu fassen ist. Irgendwer hat mal gesagt, der Tango wäre "ein Tier mit vier Beinen, zwei Köpfen und einem Herzen". Dieser Spruch fällt mir gerade beim Schreiben spontan ein und im Moment finde ich ihn sehr passend. Mit eigenen Worten beschrieben: Ich konnte plötzlich loslassen und mich nur noch auf mein Gefühl verlassen. Das ständige Scannen der Umgebung ging langsam zurück (Gott sei Dank war die Tanzfläche inzwischen deutlich leerer). Das Führen trat immer mehr in den Hintergrund. Es wurde eigentlich immer mehr zu einem Dialog. Um im Bild zu bleiben: Ich schlug ein Thema vor und sie entgegnete mit ihren Bewegungen.
Üblicherweise ist mein Figuren-Repertoire für Milongas deutlich eingeschränkt. Ich beschränke mich auf die Figuren, die ich wirklich absolut sicher führen kann und die umgebungskompatibel für eine dicht-bevölkerte Milonga sind. Jetzt dachte ich nicht mehr über Figuren nach, ich tanzte einfach. Ich hatte ein Gefühl, daß ich die Figuren nicht einmal mehr führen mußte, ich mußte nur an sie denken. Das reichte vollkommen aus (natürlich werde ich sie wohl schon geführt haben aber das habe ich nicht mehr wahrgenommen). Kurz: Es war einfach traumhaft.
Ich weiß nicht mehr, wie lange es so ging. Ich schätze so eine halbe Stunde. Dann passierte es. Für einen Ocho lockerte sich unsere Umarmung und von hinten hörte ich die Stimme eines anderen Tänzers, der sich verpflichtet fühlte, deutlich wahrnehmbar anzmerken, er sei doch erleichtert, daß wir nicht "aneinanderkleben" würden. Mit meiner rechten Hand spürte ich das Beben in ihrem Schulterblatt. Ganz leise versuchte ich, sie zu beruhigen und sagte, sie solle es sich nicht so zu Herzen nehmen. Zu spät! Sie entgegnete dem Kommentator laut ein: "Blödmann!" Aber der Fall aus dem Tangohimmel war bereits irreversibel passiert. Wir tanzten noch zwei Tangos, aber der Himmel war verschlossen. Nach diesen zwei Tangos wechselte sie ihre Schuhe, verabschiedete sich und ging. Sie kam nie wieder auf die Milonga.
Es war eben einer dieser eher seltenen Momente von absolut gelungenem Tango der süchtig macht. Aber es gibt leider (oder vielleicht doch: Gott sei Dank) keinen gewohnheitsrechtlichen Anspruch auf diese Momente. Sie bleiben ein Geschenk.
4 Anmerkung(en):
Cassiel, hast Du die Geschichte erfunden oder ist sie tatsächlich so passiert?
Und wenn ja, was hast Du mit dem üblen Neider gemacht?
Ich würde gerne einen Begriff aus der Psychologie anbieten, der diese Momente beschreiben kann... Flow...
Leider gibt es keinen Weg, den Flow zu erzwingen. Es s gibt nur Faktoren die den Wechsel in den Flow wahrscheinlicher werden lassen.
Und man muß sich darauf einlassen: " [...] die Bereitschaft, auf die oftmals anzutreffende, grundsätzlich skeptische Distanz zum Erlebten verzichten zu wollen, sich also einem möglichen Erleben, ganz zu öffnen [...]"
Flow gibt es in den verschiedensten Bereichen, sei es im Sport, der Meditation, Computerspielen oder ganz speziell beim Tanzen. Allen gemein ist aber, dass Flow ein gewisses Maß von Sucht erzeugt und den Wunsch nach Wiederholung nährt.
Ich sollte am Wochenende wieder tanzen, ich sehs schon ;-)
Schön, daß hier kommentiert wird.
@Birgit
Warum schreibe ich wohl unter Pseudonym? Damit ich den Schrott nicht erfinden muß... ;-) Also konkret: Die Geschichte ist tatsächlich so passiert.
Und mit dem Zeitgenossen, der ungefragt seine Meinung kundtun mußte habe ich natürlich nichts gemacht. (Beide Arme brechen ist immer noch strafbar! ... OK war ein derber Spaß... höre schon auf damit...)
@Anonym
Schön, daß Du den Begriff Flow einbringst. Der trifft es ziemlich genau... Aber sind wir ehrlich; bei welcher sonstigen Gelegenheit kann man es sozialadäquat mit einer (Tanz-)Partnerin / einem (Tanz-)Partner erleben... ;-)
Wunderbar (geschrieben)! Ist mir so ähnlich passiert und diese absolut kostbaren Momente beim TA ... das ist das Salz in der Suppe.
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